Kapitel 10

Emma eilte über den Krankenhausparkplatz zum Eingang. Sie hatte im Besucherbereich geparkt. Es war ihr egal, ob jemand damit ein Problem hatte. Sollte man darauf bestehen, dass sie den Angestelltenparkplatz in der Tiefgarage nutzte, würde sie kündigen. Mit dieser Entscheidung hatte sie den ganzen Vormittag über im Hotel gerungen. Frühstück und Mittagessen hatte sie sich aufs Zimmer kommen lassen, weil sie viel zu viel Angst hatte, um es zu verlassen. Die ganze Zeit über hatte sie sich davor gefürchtet, zur Arbeit zu gehen. Im Krankenhaus war sie am einfachsten zu finden.

Nachdem sie das Gebäude betreten hatte, ging sie geradewegs ins Büro des Sicherheitsdienstes und war erleichtert, dort Jeremy vor den Monitoren anzutreffen. Er sah lächelnd auf. „Guten Tag, Ms Frederick. Waren Sie mit Ihrem Auto in der Werkstatt?“

„Ja. Ich wollte mich noch mal bei Ihnen bedanken, dass Sie es zum Fahren gebracht haben. Ich hab es gestern reparieren lassen.“

„Läuft der Wagen jetzt wieder problemlos?“

„Ja, aber darüber wollte ich gern mit Ihnen sprechen. Der Mechaniker hat gesagt, es wäre praktisch unmöglich, dass die Klemme versehentlich abgetrennt wurde.“

Jeremy runzelte die Stirn. „Er glaubt, jemand hat das mit Absicht gemacht? Aber warum?“

„Ich hab ein paar Schwierigkeiten, seit David … egal, ich denke, dass mir jemand folgt und versucht, mir Angst einzujagen.“

Jeremy setzte sich auf. Er war ganz offensichtlich beunruhigt. „Wenn Ihnen jemand nachstellt, müssen Sie zur Polizei gehen.“

„Da war ich schon. Sie können nichts für mich tun. Es gab keine Drohungen und ich hab nicht die geringste Ahnung, wer mich verfolgt. Aber ich hab auch kein Interesse daran, zum Opfer zu werden, damit die Polizei einen Hinweis erhält.“

„Natürlich nicht!“

„Jedenfalls erzähle ich Ihnen das alles, weil ich deshalb im Besucherbereich vor dem Gebäude geparkt habe. Bitte lassen Sie mich nicht abschleppen.“

Jeremy nickte. „Und gehen Sie keinesfalls ohne mich zu Ihrem Auto.“

„Werde ich nicht. Danke.“

„Seien Sie vorsichtig, Ms Frederick.“

Emma nickte und verließ das Büro des Wachmanns. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie beim Umrunden einer Ecke fast in einen Blumenstrauß lief.

„Oh“, sagte sie, blieb wie angewurzelt stehen und machte dann einen Schritt nach hinten. „Entschuldigen Sie.“

„Kein Problem“, sagte eine Stimme und der Strauß wurde gesenkt.

Das Gesicht eines Mannes erschien und er sah sie überrascht an. „Emma?“

Sie konnte ihre Gedanken gerade genug bändigen, um sich auf sein Gesicht zu konzentrieren. „Stephen. Wir haben uns lange nicht gesehen.“

Mit Stephen war sie auf der Highschool drei Jahre lang zusammen gewesen. Er war das einzige Kind aus einer der „guten“ Familien in New Orleans und hatte eine strahlende Zukunft vor sich, als Anwalt in den Fußstapfen seines Vaters. Er war gut aussehend, beliebt und intelligent, doch ihm hatte mehr an ihrer Beziehung gelegen als ihr. Als sie damals von ihrem College-Stipendium erfahren hatte, hatte Stephen sie angefleht, nicht nach Dallas zu gehen. Er hatte ihr sogar einen Heiratsantrag gemacht, was seinen Eltern vermutlich einen Schlaganfall beschert hätte. Aber abgesehen davon, dass Emma damals noch nicht annähernd bereit gewesen war, Ehefrau zu werden, war sie auch nicht wirklich davon überzeugt gewesen, dass es sich bei Stephen um „den einen“ handelte.

Die Trennung war qualvoll gewesen. Sie hatte ihm nicht wehtun wollen und war überrascht, wie schlecht er ihr Nein aufnahm. Im Laufe des Sommers hatte er sich jedoch wieder in den Griff bekommen, und als sie im Herbst zum College aufbrach, hatten sie sich wieder einigermaßen vertragen. Er hatte ihr damals sogar geholfen, ihr Auto zu beladen. Über E-Mails waren sie etwa sechs Monate lang in Kontakt geblieben, doch als sie dann wie die meisten Studenten mehr und mehr ins Campusleben eingebunden wurde, schrieben sie sich immer weniger und schließlich gar nicht mehr.

„Seit wann wohnst du denn wieder hier?“, fragte er.

„Seit ungefähr einem Jahr.“

„Toll siehst du aus“, sagte er mit einem breiten Lächeln. „Aber das war ja schon immer so.“

„Danke. Du auch.“ Und es stimmte. Seit der Highschool hatte er zwar ein wenig zugenommen und seine langen, welligen Haare waren inzwischen dunkler und militärisch kurz, aber er besaß immer noch das markante Kinn und sein breites Grinsen.

„Arbeitest du hier?“, fragte er. „Okay. Das ist eine blöde Frage, da du ein Namensschild trägst.“

„Ich bin Krankenschwester auf der Intensivstation.“

„Wow. Kein leichter Job.“

„Stimmt, aber es ist auch sehr bereichernd. Ich hab darüber nachgedacht, in einer Praxis zu arbeiten. Die Arbeitszeiten und eine normale Arbeitswoche sind verlockend, aber letztendlich gehört mein Herz der Traumabehandlung.“

„Und ich wette, du machst das toll. Du warst immer der Ruhepol inmitten des Chaos.“ Sein Lächeln verschwand. „Ich hab das mit … du weißt schon … gehört. Es tut mir wirklich leid, Emma. Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie schrecklich das alles für dich gewesen sein muss.“

„Danke. Es war … schwierig. Ich weiß nicht mal, wie ich es beschreiben soll.“

„Falls es irgendetwas gibt, das ich für dich tun kann, dann sag mir bitte Bescheid. Wir hatten zwar eine Zeit lang keinen Kontakt mehr, aber ich bin immer für dich da. Wir sollten uns mal zum Essen treffen und über alte Zeiten plaudern. Falls es irgendwie in deinen Dienstplan passt.“

„Das wäre toll.“

Er legte die Blumen auf einen Tisch in der Nähe und zog eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche. „Während der Bürozeiten kannst du mich in der Kanzlei erreichen. Meine Handynummer steht ganz unten.“

Emma nahm die Karte und schob sie in ihre Tasche. „Danke. Ich ruf dich an, sobald ich etwas Ruhe habe.“

„Es war schön, dass wir uns mal wieder gesehen haben“, sagte er und drückte ihren Arm.

„Finde ich auch. Aber jetzt muss ich los, sonst komme ich zu spät zu meiner Schicht.“

Sie winkte ihm zu und lief den Flur hinunter, um ihre Personalkarte einzustechen.

Sie freute sich über das Wiedersehen mit Stephen – ein lächelndes Gesicht aus ihrer Vergangenheit. Die meisten ihrer alten Freunde waren inzwischen weggezogen. Ein paar wohnten zwar noch hier, doch die steckten bis zum Hals in Babywindeln. Bildlich gesprochen. Sie befanden sich in einer völlig anderen Phase ihres Lebens als Emma. Vielleicht würde sie auf Stephens Angebot zurückkommen, wenn all das hier vorbei war. Momentan wollte sie ganz sicher nicht noch jemanden in ihre Nähe lassen. Sie machte sich bereits Sorgen um Shaye. Noch eine weitere Person wollte sie nicht in Gefahr bringen.

###

Shaye ging den Flur von Wellman Oil and Gas entlang und klopfte an die Tür am Ende des Korridors. Das Namensschild an der Tür verriet den Besitzer des Büros: Richard LeDoux, Operations Manager.

„Herein“, rief eine tiefe Stimme von drinnen.

Shaye öffnete die Tür und betrat den Raum. Der Mann hinter dem Schreibtisch winkte ihr zu und schrie gleichzeitig jemanden am Telefon an. Er war groß. Unter dem Poloshirt mit dem Logo der Ölfirma waren seine Muskeln deutlich erkennbar. Außerdem war er jünger, als Shaye erwartet hatte. Sie hatte sich ausgemalt, dass der schreiende Mann hinter der Tür etwa Mitte fünfzig sein würde. Um so früh eine so hohe Position zu bekleiden, musste Mr LeDoux entweder in die richtige Familie hineingeboren worden sein oder er hatte mächtig was drauf. Da sein Nachname nicht Wellman lautete, ging sie von Letzterem aus.

„Das ist nicht verhandelbar“, sagte er und knallte den Hörer auf. Er sah auf und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Bitte nehmen Sie Platz und verzeihen Sie meine Ausdrucksweise. Nein, das stimmt nicht. Der Blödmann hat jedes Wort verdient, aber ich möchte mich dafür entschuldigen, dass Sie das mit anhören mussten.“

„Schon in Ordnung. Ich hab auch schon mal den einen oder anderen Blödmann beschimpft.“

Er lächelte. „Dann sind wir ja Seelenverwandte. Was kann ich für Sie tun, Ms Archer? Greta hat gesagt, Sie hätten gern einige Auskünfte über einen ehemaligen Angestellten? Sie sehen gar nicht aus wie ein Cop oder jemand von einer dieser Versicherungsgesellschaften.“

„Ich bin weder noch.“ Sie reichte ihm eine Visitenkarte.

Er zog die Brauen hoch. „Privatdetektivin? Sie sehen eher aus, als ob Sie noch aufs College gingen. Dann sind Sie wohl eine dieser nervigen Streberinnen.“

„Das müssten Sie ja kennen.“

Er starrte sie einen Moment lang an und begann dann zu lachen. „Ja, da könnten Sie recht haben. Also, was kann ich für Sie tun, Shaye Archer, Privatdetektivin?“

„Ich möchte gern wissen, was Sie mir über David Grange erzählen können.“

„Nun ja, er hat hier gearbeitet und jetzt ist er tot.“

„Ich kenne die Eckdaten. Ich arbeite für seine Frau.“

LeDoux runzelte die Stirn. „Ich dachte, angesichts der Umstände wird sie nicht angeklagt. So hieß es zumindest in den Nachrichten.“

„Es liegen keinerlei Anklagepunkte im Zusammenhang mit Davids Tod mehr gegen meine Klientin vor. Sie hat mich engagiert, weil sie von einem Stalker verfolgt wird, und der hinterlässt ihr Andenken von David.“

„Ehrlich? Mann, das ist ja krank.“ Er schüttelte den Kopf. „Außer seiner Stellenbeschreibung und der Höhe seines Gehalts gibt es leider nicht allzu viel, was ich Ihnen berichten kann. Zwischen uns lagen verschiedene Managementebenen, und abgesehen von einer kurzen Unterhaltung während seines Einstellungsgesprächs habe ich eigentlich nie wirklich mit ihm gesprochen.“

„Wären Sie so nett, in seiner Personalakte nachzusehen, ob er andere Verwandte außer Emma aufgeführt hat?“

„Natürlich. Wenn Sie das für nützlich halten.“

„Ehrlich gesagt hab ich keine Ahnung, aber ich prüfe so viele Anhaltspunkte wie möglich. Wäre es für Sie okay, wenn ich mit seinen Kollegen rede?“

LeDoux begann, auf der Tastatur herumzutippen. „Sprechen Sie mit Charlie Evans. Die Assistenten arbeiten paarweise, und falls irgendjemand etwas über David weiß, dann ist es vermutlich Charlie.“ Er starrte auf den Bildschirm. „Und Sie haben Glück. Charlies Team ist gerade wieder zurückgekehrt.“

Er nahm den Hörer ab. „Ja, schicken Sie Charlie Evans in den Konferenzraum. Ich hab hier jemanden, der mit ihm reden möchte.“ Er beendete das Gespräch und stand auf. „Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich das in den Konferenzraum verlegt habe. Ich würde ja mitkommen, aber ich habe in zehn Minuten ein Gespräch mit den Firmeninhabern.“

„Das ist überhaupt kein Problem.“

Richard öffnete die Bürotür und sie folgte ihm bis zur ersten Tür auf der rechten Seite des Flurs. Er schaltete das Licht ein und winkte sie hinein. „Ich lasse Greta die Personalakte für Sie heraussuchen. Falls Sie noch mit jemand anderem sprechen wollen, sagen Sie ihr Bescheid. Sie wird den entsprechenden Mitarbeiter herschicken, falls er hier ist, und Ihnen ansonsten die Kontaktdaten geben.“

„Vielen Dank. Ich weiß Ihre Hilfe wirklich zu schätzen.“

Grinsend zwinkerte er ihr zu und eilte den Flur entlang zurück in sein Büro. Shaye ließ sich aus dem Kühler in der Ecke einen Becher Wasser ein. Falls Charlie Evans so hilfsbereit war wie Richard und tatsächlich etwas wusste, würde der heutige Tag womöglich zum Erfolg werden.

Ein paar Minuten später betrat ein schmuddelig wirkender blonder Mann den Konferenzraum und sah sie argwöhnisch an. Shaye schätzte ihn auf Ende zwanzig, Anfang dreißig, und irgendetwas an ihm verriet ihr, dass er Ärger nicht aus dem Weg ging.

„Der Chef sagt, Sie wollen mich sprechen?“

„Ja. Mein Name ist Shaye Archer.“ Sie streckte die Hand aus. Charlie schüttelte sie, ließ aber sofort wieder los. „Setzen Sie sich doch“, forderte sie ihn auf.

Charlie zog sich einen Stuhl heran und ließ sich mit verschränkten Armen darauffallen. Shaye schloss die Tür und setzte sich auf dieselbe Seite des Tisches, aber ein paar Stühle entfernt. Das gab ihm genug Raum, um sich nicht bedrängt zu fühlen, und ohne den Tisch zwischen ihnen würde er sich hoffentlich auch nicht vorkommen wie bei einem Verhör. Eleonore hatte ihr eine Menge beigebracht.

„Ich bin Privatdetektivin und arbeite für die Ehefrau von David Grange“, erklärte sie.

Charlie riss die Augen auf. „Hier geht’s um David?“

Sie nickte und er entspannte sich sichtlich. Offenbar hatte Charlie geglaubt, selbst in Schwierigkeiten zu sein. Da er nun wusste, dass ihm nichts blühte, war er eindeutig weniger nervös. „Ms Frederick hatte in letzter Zeit Probleme. Jemand belästigt sie und diese Person scheint eine Menge über David und ihre Ehe zu wissen.“

„Sie hat keine Ahnung, wer das ist?“

„Nein. Aber er ist sogar bei ihr eingebrochen, also hat sie verständlicherweise Angst.“

„Warum unternimmt die Polizei nichts dagegen?“

„Die brauchen erst Beweise.“

Charlie schnaubte. „Und Emma hat keinen Einfluss, deshalb passiert nichts. Cops sind echt beschissen.“

„Die Vorschriften sind beschissen.“

Er zuckte mit den Schultern. „Kommt für die Leute, die Hilfe brauchen, auf dasselbe raus, oder?“

„Ja, da haben Sie vermutlich recht. Können Sie mir irgendwas über David erzählen? Seine Familie, Freunde, seine Vergangenheit?“

„Ron hat ihm das Vorstellungsgespräch verschafft. Hat behauptet, sie wären Cousins. Über andere Familienmitglieder hat er nicht gesprochen, bis auf Emma natürlich.“

„Hatte er Freunde unter den Kollegen?“

„Eigentlich nicht.“ Er rutschte offensichtlich unbehaglich auf seinem Stuhl herum. „Hören Sie, ich weiß, dass man über Tote nichts Schlechtes sagen soll und so, aber die Wahrheit ist, ich konnte David nicht besonders gut leiden. Er war komisch. In der einen Sekunde war er nett, und in der nächsten flippte er völlig aus. Es ist nicht so leicht, mit Leuten zusammenzuarbeiten, wenn man nicht weiß, was so einen Anfall auslöst.“

„Was genau meinen Sie damit?“

„Zum Beispiel einmal, als wir auf der Bohrinsel waren. Ein paar von uns haben Poker gespielt. Willie hat irgendeinen Scheiß über seine Mutter erzählt, dass sie eine verrückte Schlampe ist, die seinen Dad in die Flucht geschlagen hat und ganz sicher für seinen Herzanfall verantwortlich war. David ist ganz nervös geworden und hat Willie gesagt, er soll die Klappe halten. Dass er überhaupt keine Ahnung hat, und vielleicht war sein Dad ja auch nur so ein Stück Scheiße, das seine Familie im Stich lässt, weil ihm das so in den Kram passt.“

„Willies Gerede hat David sauer gemacht.“

„Regelrecht wütend. Ich weiß, dass es vielleicht übel klang, aber zu Willies Verteidigung muss ich sagen, dass ich seine Familie schon ewig kenne. Seine Mutter ist wirklich eine verrückte Schlampe. Dass sein Dad es überhaupt so lange mit ihr ausgehalten hat, ist ein echtes Wunder.“

„Was hat David getan?“, fragte sie.

„Willie hat ihm gesagt, er solle sich raushalten, weil er keine Ahnung hat. David ist feuerrot geworden, und ehe wir wussten, wie uns geschah, hat er den Tisch umgekippt und ist Willie an die Gurgel gesprungen. Wir mussten ihn zu viert von Willie wegzerren. Wären wir nicht da gewesen …“

„Sie glauben, David hätte Willie umgebracht?“

„Da bin ich mir sicher. Wenn Sie seinen Blick erlebt hätten, wären Sie es auch. So was hab ich noch nie zuvor gesehen. Und da lege ich auch für die Zukunft keinen Wert drauf.“

„Haben Sie das Ihren Chefs gemeldet?“, fragte sie, obwohl sie sich hinsichtlich der Antwort schon ziemlich sicher war.

„Nein. Willie wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass jemand seinen Job verliert. Ein paar von uns haben versucht, ihn zu überreden, dass er den Vorfall meldet, aber er hat gemeint, David wäre Exsoldat und deshalb sollten wir ruhig mal nachsichtig sein. Willie war auch beim Militär. Seine ganze Familie hat gedient. Er hat gesagt, manchmal sieht man Dinge, die einen durchdrehen lassen, und dass David das hoffentlich bald in den Griff bekäme.“

„Hat Willie noch mal mit David über die Sache gesprochen?“

„Nein. Wir haben die Bohrinsel am nächsten Tag verlassen und kurz darauf war David tot.“

„Aber das war nicht das einzige Mal, dass Davids Temperament mit ihm durchgegangen ist, oder?“

Charlie schüttelte den Kopf. „Es war das einzige Mal, dass er handgreiflich geworden ist, aber er hat oft Leute angeschrien. Manchmal saß er draußen und hat einfach nur aufs Wasser gestarrt. Ich konnte sehen, dass sich seine Lippen bewegen, aber er war allein.“ Er sah sie ein wenig einfältig an. „Erzählen Sie bloß niemandem, dass ich das gesagt habe, aber das war echt gruselig.“

„Ja, das kann ich mir vorstellen.“ Schon seit ihrem allerersten Gespräch mit Emma fand Shaye den ganzen Fall gruselig. „Und Sie können mir also nichts weiter über Davids Vergangenheit erzählen? Er hat keine anderen Freunde oder Verwandten erwähnt?“

„Nein. Ich hab in seiner Nähe meistens den Mund gehalten. Ich hatte immer das Gefühl, dass er eines Tages explodieren würde, verstehen Sie? Die Sache mit Willie hat das nur bestätigt.“

„Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mit mir zu reden.“ Sie reichte Charlie eine Visitenkarte. „Falls Ihnen noch irgendwas einfällt, was nützlich sein könnte, dann rufen Sie mich bitte an.“

Er nickte und stand auf. Die Karte schob er in seine Gesäßtasche, dann ging er zur Tür. Dort blieb er noch einmal stehen. „Ich hoffe, Sie schnappen den Kerl. Ich hab Emma nur ein einziges Mal getroffen, aber sie kam mir vor wie eine nette Frau.“

„Danke.“ Shaye betrachtete ihre Notizen. Greta würde ihr hoffentlich sagen können, wo sie diesen Cousin Ron fand.