Kapitel 21
Emma wachte auf, weil sie Geräusche aus dem Pausenraum hörte. Viele Stimmen, die alle gleichzeitig redeten. Es klang mehr nach einem College-Wohnheim als nach einem Krankenhaus. Sie richtete sich ein wenig auf und versuchte, Gesprächsfetzen aufzuschnappen. Ihr Kopf fühlte sich an, als steckte er voller Watte. Sie sah auf ihre Armbanduhr und musste erst ein paarmal blinzeln, ehe sie die Uhrzeit erkennen konnte. Diese verdammte Schlaftablette.
Sechs Uhr morgens.
Das war zu früh für die Tagschicht. Was war da also los? Stirnrunzelnd drückte sie sich in eine sitzende Position hoch. Der Geräuschpegel klang nach Party, doch der Ton der Stimmen passte überhaupt nicht dazu. Sie klangen gestresst und schrill. Irgendetwas stimmte nicht.
Die Tür wurde geöffnet und Clara steckte den Kopf herein. „Bist du wach?“
„Mehr oder weniger. Was ist denn da draußen los?“
„Einen Moment.“ Clara schloss die Tür, und Emma hörte, wie sie dem Personal Anweisungen erteilte.
Anweisungen in Bezug auf die Polizei?
Emma versteifte sich. Sie musste sich verhört haben. Die Tablette hatte sie völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Eine Sekunde später betrat Clara den Raum. Ein Blick in ihr Gesicht reichte und Emma wusste, dass etwas Schreckliches passiert war.
„Was ist los?“
„Jemand hat gestern Nacht Miss Melody überfallen.“
„Oh nein! Wie geht es ihr?“
„Sie ist immer noch bewusstlos, aber stabil.“
„Gott sei Dank. Wer war das? Wie ist er hier reingekommen?“
„Er hat einen der Sanitäter getötet und sich sein Hemd übergezogen.“
Emma drehte sich der Kopf. „Er hat … oh mein Gott. Warum sollte denn jemand Miss Melody etwas antun wollen?“
Clara schüttelte den Kopf. „Die Polizei befragt alle, die gestern Abend Dienst hatten, aber noch wissen wir nichts.“
„Weißt du irgendetwas über sie?“
„Privat, meinst du?“
Emma nickte.
„Das bisschen, was ich weiß, hab ich schon der Polizei gesagt. Ich weiß, dass sie reich ist. Ihre Kleidung ist maßgeschneidert und der Schmuck, den sie bei ihrer Einlieferung getragen hat, ist nicht von der Sorte, die man im Kaufhaus findet. Heute Morgen hat sie am Telefon mit jemandem wegen Geld gestritten. Als ich ihr geraten habe, keine Anrufe zu machen, die sie aufregen, hat sie mir erzählt, dass ihr Neffe der nutzloseste Mensch auf Erden ist.“
„Du glaubst, dass er versucht hat, sie zu töten, damit er an ihr Geld kommt?“
„Ich will es nicht hoffen, aber so was passiert heutzutage leider immer öfter.“
„Das ist ja schrecklich. Ich kann es nicht glauben.“
„Ja, es fällt einem schwer. So was hört man vielleicht in den Nachrichten, aber man erwartet natürlich nie, dass man selbst …“ Clara sah Emma an. „Aber das weißt du ja besser als die meisten anderen.“ Sie drückte Emmas Schulter. „Ich muss jetzt nach meinen Patienten sehen. Versuch doch, noch ein paar Stunden zu schlafen.“
„Ja, vielleicht“, antwortete Emma, aber sie wusste, dass sie nach allem, was Clara ihr gerade erzählt hatte, kein Auge zukriegen würde. Sie hatte hier geschlafen, weil sie das Krankenhaus für einen sicheren Ort hielt. Miss Melody hatte das sicherlich ebenfalls geglaubt. Wenn jemand einen Sanitäter umbrachte, nur um an Miss Melodys Geld zu gelangen, dann konnte ihr Stalker zweifellos genau dasselbe tun.
Ein Schauer lief ihr den Rücken hinab und sie verschränkte die Hände vor der Brust. Sie verwünschte sich dafür, dass sie eine Schlaftablette genommen hatte. So eine Dummheit! Sie konnte sich nicht mal daran erinnern, dass sie sich hingelegt hatte, und schon gar nicht an irgendwas, das zwischenzeitlich passiert war. Kein einziges Geräusch, keine Bewegung. Nicht mal an einen Traum. Sie hätte genauso gut betäubt sein können.
Sie griff nach der Lampe neben dem Bett und schaltete sie ein. Ein schwacher Lichtschein erhellte das Zimmer. Als sie die Decke zurückwarf, spürte sie etwas an ihrem Finger rutschen. Sie hob die linke Hand und schaffte es gerade so, sich die rechte vor den Mund zu schlagen, ehe sie losschrie.
Der Ehering, der einmal perfekt gepasst hatte, saß locker auf ihrem jetzt dünner gewordenen Ringfinger. Er glitzerte im Schein der Lampe, als wollte er sich über sie lustig machen.
Emma schoss hoch und rannte ins angrenzende Bad. Mit Mühe schaffte sie es zur Toilette, ehe sie sich übergab. Immer wieder würgte sie, bis ihr Brust und Rücken wehtaten. Schließlich riss sie sich den Ring vom Finger und warf ihn in das Toilettenbecken. Dann spülte sie ihn weg. Ihr Finger prickelte immer noch an der Stelle, als wollte er ihr sagen, dass sie nicht vor ihrer Vergangenheit davonlaufen konnte, was auch immer sie tat.
Sie sprang auf und rannte zum Waschbecken. Im Medizinschrank darüber befand sich eine medizinische Grundausstattung. Emma durchwühlte den Inhalt, bis sie eine Drahtbürste und Alkohol fand. Sie schüttete sich die Flüssigkeit auf die Hand und begann zu schrubben.
„Ich muss es wegwaschen“, sagte sie und rieb mit der Bürste über den Finger, immer wieder.
Sie hörte nicht einmal auf, als er zu bluten begann.
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Shaye steuerte mit schnellen Schritten geradewegs auf den Empfangstresen des Krankenhauses zu. „Ich bin auf der Suche nach Clara Mandeville.“
„Tut mir leid, aber Ms Mandeville ist beschäftigt.“ Die junge Frau wirkte völlig erschüttert.
„Mein Name ist Shaye Archer. Ms Mandeville hat mich herbestellt.“
Das Mädchen riss die Augen auf. „Oh, Ms Archer. Natürlich.“ Sie griff nach dem Telefon, sprach mit jemandem und legte auf. „Ms Mandeville ist in Zimmer sieben. Den Flur entlang und dann rechts.“
„Danke“, sagte Shaye und eilte durch die Tür und den Flur hinunter. Clara hatte Shaye ganz früh am Morgen angerufen und darauf beharrt, dass sie sofort ins Krankenhaus kommen sollte. Mehr wollte sie am Telefon nicht sagen. Nur, dass Emma sie brauchte. Der Cop auf dem Parkplatz hatte nicht gerade zu Shayes Beruhigung beigetragen.
Aber wenn Emma sie brauchte, dann war sie noch am Leben. Das war das einzig Positive. Zumindest nahm Shaye an, dass es das bedeutete. Aber was, wenn das Schlimmstmögliche eingetreten war und Clara es ihr lediglich nicht am Telefon hatte sagen wollen? Sie hatte sich die Klamotten buchstäblich im Laufen angezogen. Gott sei Dank hatte ihre Mutter noch geschlafen, und die Haushälterin hatte Shaye versichert, dass sie bis zu Eleonores Ankunft nach ihr sehen würde. Auf dem Weg zum Krankenhaus hatte Shaye mindestens zehn Verkehrsregeln gebrochen.
Ohne anzuklopfen, stürmte sie in Zimmer sieben. Emma saß auf der Kante eines Krankenhausbetts, und Clara stand davor und verband ihre Hand. Eine weitere Schwester hielt ein Tablett mit Verbandsmaterial.
„Was ist hier los?“, fragte Shaye. „Was ist passiert? Warum ist die Polizei hier?“
Emma starrte auf die Wand und nahm Shayes Ankunft nicht mal zur Kenntnis. Ihre Augen waren rot und geschwollen. Ihre Haut war blass und sie wirkte um Jahre gealtert. Clara bat die Schwester, Emmas Hand fertig zu verbinden, und bedeutete Shaye, ihr zu folgen.
Sie führte sie zu einem leeren Raum auf der anderen Seite des Flurs, schloss die Tür und ergriff Shaye bei den Schultern. „Es tut so gut, dich zu sehen, Kind. Es ist viel zu lange her.“
Shaye nickte, aber sie konnte Clara nicht in die Augen sehen. Sie hatte zwar immer vorgehabt, sie zu besuchen, aber mit Krankenhäusern verband Shaye nur negative Erinnerungen. Sie hatte ihre Vergangenheit hinter sich lassen wollen, und leider hatte Clara zu diesem Teil ihres Lebens gehört. „Ich wollte Sie besuchen, aber …“
„Ach Liebes, ich verstehe das. Manchmal muss man sich einen Tag aussuchen, an dem man ein neues Leben beginnt, und alle Brücken abbrechen. Ich hab das selbst einmal so gemacht und es keine Sekunde lang bereut. Ich bin sehr stolz auf das, was du erreicht hast, und ich bin froh, dass du Emma hilfst.“
Shaye standen Tränen in den Augen. „Danke. Das bedeutet mir viel. Wirklich.“
Clara nickte. „Wir hatten eine schlimme Nacht.“
„Was ist passiert?“
„Ein Mann hat draußen einen Rettungssanitäter umgebracht und seine Uniform gestohlen, um hier reinzukommen. Er hat versucht, eine Patientin zu ersticken.“
„Oh mein Gott. Hat sie überlebt?“
„Sie ist noch bewusstlos, zeigt aber schon erste Reaktionen. Wir können noch nicht sagen, ob sie Folgeschäden davonträgt.“
„Und was hat das mit Emma zu tun? Warum steht sie unter Schock?“
„Zuerst hab ich überhaupt nicht an einen Zusammenhang mit Emma gedacht. Die Patientin ist eine reiche Frau, die kürzlich einem arbeitsfaulen Neffen das Taschengeld gestrichen hat. Ich dachte mir, dass sicher er dahintersteckt. Dann bin ich zurück in den Pausenraum, um nach Emma zu sehen, und da hab ich sie gefunden, wie sie sich gerade die Knöchel wund gescheuert hat. Als ich versucht hab, sie davon abzuhalten, hat sie nach mir geschlagen. Sie hat gesagt, sie muss das Böse loswerden.“
„Das Böse?“
„Es dauerte eine Weile, bis ich es aus ihr rausgekriegt habe. Dieser Mann, wenn man ihn überhaupt so nennen kann, hat den Sanitäter getötet und versucht, die arme alte Frau zu ersticken, damit er an Emma rankam.“
„Wie können Sie sich da so sicher sein?“
„Nun, zum einen waren die Augen des Sanitäters ausgestochen. Als wir Drew gefunden haben, konnte Jeremy sein Gesicht nicht sehen, aber als es ihm die Polizei heute Morgen bei der Befragung gesagt hat, hat er dem Officer völlig aufgelöst von den Mäusen berichtet.“
Shaye schlug sich die Hand vor den Mund.
„Sobald ich davon hörte, bin ich zurück in den Pausenraum gerannt, und da hat mir Emma von dem Ring erzählt.“ Clara wirkte sichtlich erschüttert.
„Welchem Ring?“
„Als Emma heute Morgen aufgewacht ist, trug sie ihren Ehering. Den Ring, von dem sie schwört, sie hätte ihn weggeworfen.“
Sie musste das Böse loswerden.
„Oh mein Gott.“ Shaye drehte sich der Magen um. „Sie dachte, hier wäre sie sicher.“
„Jeder hat geglaubt, dass sie hier sicher wäre. Keiner hätte so etwas voraussehen können. Selbst wenn es jemand vermutet hätte, hätte es niemand für möglich gehalten.“
„Hat Emma mit der Polizei gesprochen?“
Clara nickte. „Sie hatte sich so weit gefasst, dass sie eine Aussage machen konnte. Erst als sie das von dem Sanitäter gehört hat, ist sie wieder in einen Schockzustand verfallen.“
„Glauben sie ihr wenigstens jetzt?“
„Die Cops wirkten ein wenig skeptisch, aber mit einem toten Sanitäter, einer überfallenen Patientin und Jeremys Geschichte von den Mäusen scheinen sie endlich ihre Meinung zu ändern. Vermutlich wäre es besser gewesen, wenn Emma den Ring nicht ins Klo gespült hätte, aber ich kann nachvollziehen, warum sie das getan hat. Sie hat ihnen auch von dir erzählt. Wenn sie rausfinden, dass du hier bist, werden sie mit dir reden wollen. Ich wollte aber, dass du erst weißt, worum es geht.“
„Ja. Danke.“ Shaye stieß den Atem aus. „Was zum Teufel stimmt bloß nicht mit diesem Mann?“
Clara schüttelte den Kopf. „Ich wünschte, ich könnte das beantworten. Vielleicht ist es so einfach, wie Emma gesagt hat. Er ist böse.“
Die Tür flog auf und beide zuckten zusammen. Emma kam herein und schloss die Tür hinter sich. Ihr Gesicht hatte wieder etwas Farbe angenommen und sie wirkte jetzt nicht mehr abwesend, sondern wütend. „Sie haben gesagt, Sie können mir mit dem Auto helfen?“, fragte sie Shaye.
„Ja. Ich glaube schon, aber …“
„Können wir das gleich erledigen?“, fragte Emma. „Jetzt sofort?“
„Du kannst jetzt hier nicht weg“, sagte Clara. „Die Polizei hat vielleicht noch Fragen, und … dieses Monster ist irgendwo da draußen.“
„Und genau deshalb muss ich weg“, erklärte Emma. „Nicht nur aus dem Krankenhaus. Aus New Orleans. Und zwar so schnell wie möglich.“
„Aber die Polizei glaubt Ihnen jetzt“, sagte Shaye. „Sie suchen nach Ron.“
Clara riss die Augen auf. „Sie wissen, wer der Täter ist?“
„Da bin ich mir ziemlich sicher“, antwortete Shaye.
„Und wieso glauben Sie, dass man ihn finden wird?“, fragte Emma. „Er hat gestern Abend einen Mann getötet und fast eine Patientin umgebracht, nur damit er mir diesen Goldring an den Finger stecken kann. Er kennt keine Grenzen. Und es gibt nichts, was ihn aufhalten kann. Erst wenn er tot ist, werde ich wieder in Sicherheit sein. Und bis das passiert, werde ich verschwinden.“
Da konnte Shaye nicht widersprechen. Das Beste, was Emma tun konnte, war, New Orleans zu verlassen und ihre Spuren so gut wie möglich zu verwischen. Ohne den Peilsender, der sich Shayes Meinung nach mit ziemlicher Sicherheit an Emmas Auto befand, konnte Ron sie höchstens finden, wenn er alle medizinischen Einrichtungen im ganzen Land nach ihr absuchte.
„Okay“, stimmte Shaye zu. „Ich rufe meinen Freund an und bitte ihn, sofort herzukommen. Holen Sie Ihre Sachen.“
„Danke“, sagte Emma und eilte aus dem Zimmer.
„Bist du sicher, dass du weißt, was du tust?“, fragte Clara.
„Nicht unbedingt“, gab Shaye zu, „aber in einem bin ich mir sicher – dass der Stalker einen Peilsender an Emmas Auto befestigt hat. Deshalb konnte er sie aufspüren, auch nachdem sie in ein anderes Hotel gezogen war.“
„Also braucht sie ein neues Auto, aber heute ist Sonntag.“
„Mein Freund hat einen Gebrauchtwagenhandel, und er schuldet mir einen Gefallen.“
Der „Freund“ war in Wahrheit ein ehemaliger Klient aus ihrer früheren Angestelltenzeit. Als sie wegen Versicherungsbetrug gegen ihn ermittelt hatte, hatte sich herausgestellt, dass seine Angestellten die Betrüger waren. Er hatte ihr versprochen, dass er ihr entgegenkommen würde, sollte sie einmal ein Auto brauchen. Sie hatte vor, ihn beim Wort zu nehmen.
Clara nickte. „Ich verstehe.“
„Ja, das mit dem Auto geht schon in Ordnung, allerdings werden die Polizisten einen Anfall kriegen, wenn sie herausfinden, dass Emma mit mir verschwunden ist.“
„Ich kümmere mich darum. Schaff du einfach Emma aus New Orleans weg.“
„Das mache ich.“