Faro ging auf der Feuerleiter voran. Die Gasse unten war still. Es war zu früh für rege Betätigung. Später würde es zu warm sein. Ein paar Obdachlose schliefen in Hauseingängen und auf dem Trottoir. Die Abfälle, die die Straße bedeckten, dienten ihnen als weiche, feuchte Matratzen. Faro wählte sich einen Schläfer aus, der sich einen schmutzigen Filzhut über die Ohren gezogen hatte und dem ein Zigarettenstummel aus einem Mundwinkel hing. Faro sprang über ihn hinweg, gab ihm einen Fußtritt und entriß ihm den Hut. Der Mann schnarchte und wälzte sich herum, wobei er den Zigarettenstummel in seinen Kinnfalten auffing.
Doug, der etwas verkrüppelt war, sprang hinter Faro herunter. Faro hatte nichts dagegen; er beschleunigte seine Schritte und schleuderte den Hut durch eine zerbrochene Fensterscheibe. Doug fiel weiter zurück und bat Faro, langsamer zu gehen. Faro wich ein paar Leuten aus, die an ihm vorbeieilten. Eine umgestürzte Laterne blockierte die Straße, die schon mit verrosteten Autowracks besät war. Faro verlangsamte seine Schritte und achtete auf die Glasscherben. Eine davon könnte ohne weiteres durch seine abgelatschten Sohlen dringen.
„Wann sind wir zurück?“ fragte Doug. „Gestern abend konnte ich nichts essen. Es war nichts da. Ich muß versuchen, etwas Eßbares aufzutreiben. Geht das?“
Faro beantwortete seine eigene Frage. „Wir werden von jetzt an zusammenbleiben. Vielleicht sogar die Stadt verlassen. Uns zusammen etwas zu essen beschaffen. Aber wir werden das kriegen, was wir wollen, alles, was wir wollen. Es wird nie mehr so werden wie bisher.“
„Wie bisher?“ fragte Doug.
„So wie es jetzt um uns steht. Wenn du ein Flugzeug sein willst, wirst du ein Flugzeug sein. Oder ein Stück Holz. Das kannst du jetzt nicht, nicht ohne Dorcas’ Hilfe. Das wird sich ändern, das wirst du schon sehen.“
Sie stießen auf Bennie, der auf der Freitreppe der „Primitiven Kirche von Christus“ schlief, einem niedrigen modernen Gebäude, das sich zwischen zwei zehnstöckigen Hochhäusern zu verkriechen schien. Beide Gebäude neben der Kirche waren zerbombt worden, und die Trümmer lagen auf dem Kirchendach: Haufen von rußgeschwärzten Wasserspeiern.
Bennie ist so klug, im Freien zu bleiben, dachte Faro und erinnerte sich, daß er einmal in einem Keller eingesperrt worden war. Er zählte vier Fluchtwege.
„Ich komme nicht mit“, sagte Bennie.
„Warum nicht?“ fragte Faro, aber Bennie streckte ihm nur die Zunge heraus und machte eine lange Nase.
„Komm schon“, wimmerte Doug.
Es hat keinen Sinn, mit ihm zu argumentieren, dachte Faro, als er kehrtmachte und fortging. Doug würde ihm folgen. Bennie ist stark, dachte Faro und unterdrückte den Drang, sich umzudrehen. Das würde alles verderben. Bennie rief ihnen gutmütige Obszönitäten nach und quiekte.
Faro schloß alles hinter sich aus, einschließlich Doug, und konzentrierte sich auf das Klappern seiner Absätze auf dem Pflaster. Doug holte ihn ein und übertrieb sein Humpeln noch mehr als sonst. Er plapperte drauflos, mal lächelnd, mal stirnrunzelnd.
Faro malte sich aus, wie er Bennie an den Hoden die Kirchentreppe herunterzerrte. Er quetschte sie kräftiger und sang vor sich hin: „An den Eiern, an den Eiern“, während er etwas in sich selbst zu entfachen versuchte. Er spürte eine Aufwallung der Kraft und bekam einen roten Kopf. Bennie schrie und stürzte eine Stufe hinunter.
Na, du Lahmarsch, komm dann mit, dachte Faro. Doug schrie, aber Faro hörte nicht hin. Er gab Bennie einen Drall und noch einen, aber der hatte seine eigene Kraft wiedergewonnen und behauptete seine Stellung. Bennie stieß, die Augen konzentriert geschlossen, Obszönitäten aus. Faro versuchte es nochmals, aber Bennie war zu stark. Aber das ist ungerecht, dachte Faro, ich sollte stärker sein. Nun mußte ihn Dorcas später abholen. Faro stellte Doug ein Bein, schämte sich deswegen und stützte ihn einige Häuserblöcke lang.
Sie stießen auf George, der im Schmutz spielte.
Sie stießen auf Alan, der tot und enthauptet war.
Ich muß Alan ersetzen, dachte Faro, als er Alans Gebäude verließ und an einem Kolonialwarenladen und einer Tiefgarage vorbei die Straße überquerte. Aber Dorcas hatte ihm gesagt, daß er neue Leute finden würde.
„Alan hat mir erzählt, daß ein paar Gören darin hausen“, sagte George und zeigte auf die Garage.
„Wann hat er dir das erzählt?“ fragte Faro.
„Das letzte Mal, als wir alle mit Dorcas zusammen waren. Er hat mir gesagt, daß ich es dir weitererzählen sollte, aber ich habe es vergessen. Ich weiß nicht, warum er wollte, daß ich es dir weitererzähle, gewöhnlich läßt er mich etwas Dorcas weitererzählen.“
Faro grinste und ging in die Garage. Über sich hörte er ein Geräusch. Es war ein leises Echo. Faro blickte sich nach einer Treppe um, aber sie war in dem schwachen Licht schwer zu erkennen. Faro stellte fest, daß die erste Etage eingestürzt war und die Autos sich übereinanderstapelten. Faro hörte ein lautes Kichern und rief etwas. Seine Stimme widerhallte, und er rief nochmals. Eine Pause, und dann noch ein Kichern, ein Lachen. Faro entdeckte eine verbolzte Metalleiter an der Wand. Er rief noch mehrmals und folgte dem Kichern bis zur dritten Etage, wo er einen Jungen und ein Mädchen, Zwillinge, antraf, die in einem Auto saßen. Sie hatten ein Auto gefunden, dessen Batterie noch funktionierte, und hörten sich die atmosphärischen Störungen im Radio an.
Die Zwillinge, Sal und Sandra, folgten Faro wortlos die Leiter hinunter. Faro stellte sie Doug und George vor und vergaß ihre Namen rasch. Er mochte sie nicht; sie machten ihn nervös, besonders das Mädchen. Sie ist noch nicht voll entwickelt, dachte er. Er schob sie beide beiseite, als er die Garage verließ. Er beschloß, das Mädchen zu ignorieren, obwohl es angenehm roch. Er würde es benutzen, um schlechte Gerüche zu überbieten.
Nachdem sie die Garage verlassen hatten, wurden Doug und George sehr still und versuchten, mit Faro Schritt zu halten. Die Zwillinge gingen hinter Doug, grinsten ihn an, wenn er sich umdrehte, und sangen: „Anderthalb Schritte, anderthalb Schritte, wir marschieren hinter Anderthalbschritt.“ Dougs Humpeln wurde betonter. Faro versuchte nicht, sie zum Schweigen zu bringen.
Sie hielten dreimal an, um die Mädchen abzuholen: Sue konnte nicht gefunden werden. Faro müßte mit jemandem vorliebnehmen, der Sue ähnlich sah. Er mußte in Sues Gegend bleiben, bis er einen Ersatz für sie gefunden hatte. Faro versuchte es in einigen Wohnungen und in einer alten Keller kneipe, die von irgendeiner Mädchenbande aus seiner eigenen Nachbarschaft geführt wurde. Doug und George verliehen ihm Rückenschutz; die Zwillinge schlenderten weiter. Faro traf ein paar Mädchen auf einer kleinen Bowlingbahn an. Sie hatten in der Bar im Hinterzimmer eine Flasche Whisky entdeckt. Faro pickte sich die Betrunkenste aus der Gruppe heraus und nannte sie Sue. Sie bestand darauf, daß sie Nan heiße, aber er war nicht gewillt, ihr zu glauben. Ihre Gesichtszüge veränderten sich bereits; bald würde sie genau wie Sue aussehen, dann Sue sein. Schade, daß ihr Haar herabfällt, dachte er. Er mochte zwar langes Haar. Aber Sue hatte hinten einen Knoten.
Doug ging voran, um Fenny zu finden, denn er war in sie verknallt. Fennys Haar hatte die gleiche Farbe wie das Dougs; sie könnten beim Lieben aus ihren Haaren einen roten Korb flechten, dachte Faro. Aber Doug war noch nicht alt genug für so etwas. Faro müßte es ihm demnächst einmal zeigen.
Faro schlüpfte in einen Hauseingang und wartete auf Fenny und Doug. George folgte ihm. Die Zwillinge spielten auf der Straße, offensichtlich für Leute, die sie anglotzten und von denen einige Bandenjoppen anhatten. Faro kannte die Embleme des Gassenjungen nicht. Als Fenny und Doug Hand in Hand und lächelnd erschienen, neckten ein paar Jungen die Zwillinge. Die Zwillinge schauten umher, drehten sich aber nicht um. Ein Junge mit kurzem schwarzem Haar warf einen Stein nach Sandra und traf sie mitten ins Gesicht. Sal starrte den Jungen nur an und versuchte zu lächeln.
Faro stürzte brüllend auf die Straße und packte die Zwillinge. Er rannte die Straße entlang, ohne auf die Schreie hinter sich zu achten. Er blockierte alle außer den Zwillingen. Ein Metallstück flog an seinem Kopf vorbei. Er versuchte, alles hinter sich schwer zu machen. Er verlangsamte jeden, dann erinnerte er sich an Fenny, Doug und George und öffnete ihnen einen Weg.
Sie rannten weiter, bis Doug zusammenklappte.
„Das war dumm“, sagte George, während er sich das Gesicht mit den Händen abwischte und sich dann durch sein graues Haar fuhr. „Du rennst mitten unter ihnen davon. Du hättest getötet werden können.“
Faro bekam einen roten Kopf. Er mußte die Zwillinge zu Dorcas bringen; er hatte schon Alan und Bennie verloren. Es wäre besser, von der Bande erledigt zu werden, als ohne sie zurückzukehren. „Du bist genauso dumm. Du bist mir hinterher gefolgt.“
George flüsterte: „Ich wollte nicht allein bleiben“, aber Faro hörte es und kicherte.
„Kacke.“ Faro fühlte sich wohler. Er verlangsamte seine Schritte und ging neben Fenny und Doug her. Die Zwillinge blieben hinter ihnen. Sandras Gesicht war aufgeplatzt und blutete, aber nichts war gebrochen. Ein Blutrinnsal sickerte aus ihrer Nase. Sie wischte es gelegentlich ab.
„Weißt du, was ich tun möchte?“ fragte Faro Doug, wobei er Fenny ignorierte, die die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken versuchte. Doug schüttelte den Kopf. „Ich möchte an Dorcas’ Zehen lutschen.“
„Wieso?“
„Ich weiß nicht.“ Faro konnte alle um sich herum spüren. Sie waren alle still. Er blockierte sie sowieso. „Sie hat sechs Zehen an ihrem rechten Fuß. Eine ist seitlich herausgewachsen.“
Faro fragte sich, wie sie wohl gemeinsam handeln würden. Er war nicht an Fremde gewöhnt. Aber Dorcas hatte gesagt, daß sich alles geändert habe, daß niemandem etwas passiere, daß sie das sicher wisse. Faro tat so, als verstünde er sie, aber einige Dinge konnte er nur erraten. Dorcas hatte ihm freilich gesagt, daß er schnell lerne. Sie scherzte, daß er bald zuviel wissen werde und daß sie ihn bremsen müsse. Faro wünschte, daß Dorcas nicht so stark wäre.
Sue lief vor Faro her – Nans Identität war schnell verschwunden – und verlangsamte dann ihre Schritte, wobei sie mit dem Popo wackelte und die Arme schwenkte. Faro konnte fast ihr langes Haar vor sich sehen, obwohl er wußte, daß es jetzt kurz war. Sie hatte sogar schon Brustansätze. Einen Augenblick erinnerte sie ihn an Dorcas, aber das durfte nicht sein, dachte Faro.
Dorcas hatte behauptet, sie habe erst Faro ersonnen. Faro beharrte dagegen darauf, daß er Dorcas ersonnen habe. Dann ersann Faro Bennie, wonach er sich wohler fühlte. Er machte sich über Bennies Kräfte Sorgen. Bennie ersann dann wahrscheinlich Doug, obwohl daran irgend etwas nicht stimmte. Vielleicht ersann Dorcas Nan, um Sue zu sein – einfach zum Spaß. Wo war die echte Sue? Es spielt jetzt keine Rolle mehr, dachte Faro, während er das vor ihm gehende Mädchen betrachtete. Die letzten Spuren von Nan waren verschwunden; diese Sue glich der anderen aufs Haar. Er fragte sich, ob sie auch sechs Zehen hatte. Er musterte ihre Füße, aber sie trug Lederschuhe und keine Sandalen, wie sie Dorcas gerne trug.
Es würde ein langer Weg zu Dorcas’ Soutterain werden, besonders jetzt, da mehr Leute auf der Straße waren. Bald würde die Straße zu belebt sein, und Faro müßte Schleichwege finden, um die Fremden zu meiden. Als sie zur Oberstadt hinaufstiegen, wurde die Luft rasch muffig. Es wurde dunstig und die Sicht schwieriger. George begann zu husten, und Doug hatte einen heftigen Übelkeitsanfall mit Erbrechen. Obwohl das Atmen Faro schwerfiel, mochte er die schlechte Luft; sie hielt die Leute von der Straße fern. Alles war weich und flaumig geworden; das einzige, was noch an Schärfe erinnerte, war das Stechen in seiner Nase und seinem Hals. Faro hustete etwas Schleim mit Blutflecken heraus. Vor sich konnte er einige Lichter erkennen, gelbe Tupfen in der Dämmerung. Wahrscheinlich geschützte Wohngemeinschaften, dachte er.
Faro fand eine tote Wasserratte, als er stehenblieb, um zu Atem zu kommen. Sie war erst vor kurzem getötet und teilweise verstümmelt worden. Faro schritt die Umgebung ab und entdeckte eine Passage. Sie hockten sich im Dunkeln hin, kühlten sich in der Feuchtigkeit und aßen das Tier. Sie hatten keine Zeit, die graubraune aufgedunsene Ratte zu kochen, aber keinem schien das etwas auszumachen, bis auf Doug, der sie nicht bei sich behalten konnte. Faro hob ein paar Brocken für ihn auf – Doug konnte sie später kochen.
Sue setzte sich neben Faro und sagte: „Ich brauche mich nicht zu schminken, um schön zu sein.“ Sie drückte ihr Gesicht an das Faros. Faro zuckte beim Klang ihrer lauten Stimme zusammen! Er stellte sich vor, daß sie durch den trüben Nebel schnitt und in unfreundliche Ohren drang. Faro sagte zu ihr, sie solle die Klappe halten, aber sie lachte nur noch lauter.
„Und siehst du, wenn ich möchte, kann ich einen BH tragen. Und ich habe sechs Zehen.“
Ihr Bild flimmerte. Sie verwandelte sich in Dorcas, ihr Mund grinste höhnisch. Faro sprang auf, und alle lachten. Dorcas wischte Sues Gesicht aus, so wie Sue Nans ausgewischt hatte, freilich schneller. Ihre Haut wurde rissig, fiel dann ab, um das neue Fleisch darunter zu entblößen – voller Blattern und Narben.
Es war Dorcas: Rotes Haar umrahmte ihr Gesicht, zwei Zähne fehlten, ein Grübchen befand sich am Mundwinkel, lange ovale Augen, die nicht blinzeln zu können schienen. Dennoch, fehlte nicht noch irgend etwas…? Sah Dorcas wirklich so aus, fragte sich Faro. Er erinnerte sich an kurzgeschnittenes Haar und an ein glattes dunkelhäutiges Gesicht. Und sie hatte größere Brüste als die da. Sie war mindestens fünfzehn. Diese Dorcas war jünger, obwohl sie aufzublühen begann und es verstand, ihre Sinnlichkeit zu übertreiben.
Faro drehte sich um und schaute Doug an, der beim Eingang der Passage stand. Er sah anders aus als noch vor wenigen Augenblicken. Ein kleiner Junge mit einer Tüte in der Hand stand neben ihm. Sein Kopf war zur Hälfte kurzgeschoren, und ihm fehlte ein Vorderzahn. Er trug Hosen, die viel zu groß für ihn waren.
„Das ist Stephen“, sagte Dorcas. „Wir haben aus ihm noch niemand Besonderen gemacht, aber das tun wir noch.“ Dorcas sagte zu dem Jungen, er solle sich setzen. Der Junge hockte sich hin und spielte mit ein paar Kieselsteinen. „Nur keine Bange“, sagte Dorcas, während sie ihre Schuhe auszog und ihre Zehen entblößte. „Für mich war es leichter, euch hier zu treffen. Der Weg zu meinem Souterrain wäre lang gewesen, und hier ist ein sicherer Ort, und wir sind alle zusammen. In der Oberstadt kann man sowieso nicht atmen, und es fanden auch in der Nähe meines Souterrains eine ganze Reihe von teilweise sehr großen Krawallen statt.“
„Aber du siehst nicht so aus wie sonst“, sagte Faro.
„Du auch nicht“, sagte Dorcas, während sie mit dem Zeigefinger eine imaginäre Linie quer über sein Gesicht zog.
Faro betastete sein Gesicht. Es war fleischiger, als er es in Erinnerung hatte, und seine Ohrläppchen waren kleiner.
„Und doch bist du der gleiche. Stimmt’s? Jedenfalls werden wir uns schminken.“ Sie holte ein Päckchen aus ihrer Tasche und legte es auf den Boden. „Auf diesem Weg werden nicht viele Leute sein; die Slum-Clans treiben alle nach Osten.“
„Und was ist mit uns?“ fragte Faro.
„Sie haben weiter drüben angefangen; sie haben uns verfehlt. Jedenfalls haben wir Bennie.“
„Wo?“
„Stephen kann Bennie sein“, sagte Dorcas. „Er wird einen guten Bennie abgeben. Und Bennie kennt jeden, das weißt du doch.“
„Aber das ist nicht Bennie. Er sieht nicht einmal wie Bennie aus. Und jedenfalls kennt Bennie nur wenige von diesen Leuten. Wenn es zu Scherereien kommt, wird es nichts ausmachen.“
„Doch, das wird es. Und das ist Bennie.“ Seine Gesichtszüge begannen sich zu verändern. Dorcas nahm fünf Farbfläschchen und einen kleinen Pinsel aus ihrem Päckchen. Sie schraubte die Kapseln ab und legte sie jeweils neben das betreffende Fläschchen. „Erst das Rot – das ist meine Lieblingsfarbe.“ Sie malte ihre oberen Vorderzähne rot an, wischte den Pinsel sorgfältig an ihren Kattunhosen ab und steckte ihn in das Grün, dann in das Blau, das Gelb und das Schwarz. Der Lack trocknete schnell auf ihren Zähnen, aber die Farben flossen ineinander über und schufen seltsame Formen in ihrem Mund. Sie reichte den Pinsel Doug, der sich auf den Knien über die Fläschchen beugte, sich zum Grün entschloß und seine Zähne damit von außen und innen anmalte. Aber er benutzte zuviel Schwarz, um den Effekt zu erhöhen, und wurde daraufhin zahnlos.
„Jetzt wirst du aber beim Essen Schwierigkeiten haben“, sagte Dorcas. Alle außer Fenny und Faro lachten. „Du malst sie lieber noch mal an.“ Sie tauchte den Pinsel in das Gelb und reichte ihn Doug zurück.
Faro brütete vor sich hin und wartete darauf, daß Dorcas sich um ihn kümmerte. Sie hätte ihm als erstem den Pinsel gegeben, aber sie war verstimmt. Warum sollte er sich eigentlich die Zähne anmalen, fragte er sich. Sollte er sie himmelblau anmalen und dann Baumwolle essen müssen, um satt zu werden? Oder schwarz wie Dougs und sie verlieren? Oder grün wie ein Salamander, der durchs Gras kroch? Aber Faro konnte sich nicht daran erinnern, wie ein Salamander aussah; er konnte sich nur an das Tierbuch erinnern, in dem er eine Abbildung davon gesehen hatte. Warum sollte er das tun?
„Weil wir alles sein müssen. Wenn wir es wollen, sollten wir imstande sein, alles zu sein.“ Dorcas setzte sich mit gekreuzten Beinen vor Faro hin. Faro hätte am liebsten ihre Brüste gedrückt, aber sie war zu stark, um sich anfassen zu lassen. „Du bist anders als vorher“, sagte sie. „Guck dir nur deine Ohren an. Wo sind denn deine Blumenkohlohren geblieben? Du hast sie nicht gemocht, also hast du sie verändert. Stimmt’s? Und erinnerst du dich an den alten Film, den wir am Strand gesehen haben? Du wolltest Narben haben, wie dieser Kerl, weißt du noch? Jetzt hast du welche auf dem ganzen Gesicht. Aber das ist noch nicht viel. Nur ein paar kleine Änderungen. Aber durch die Bemalung kannst du alles sein, du brauchst keine Person zu sein. Das ist der nächste Schritt. Ich könnte dieser Stein da drüben sein oder Schmutz oder dieser zerbrochene Bleistift. Ich könnte jener Felsen dort sein und nie älter werden oder dieser Käfer, auf den Fenny gerade tritt.“
„Aber dazu brauchst du dich doch nicht anzumalen. Du hast gesagt, du könntest es.“
Dorcas lächelte. „Na, tu’s schon. Versuch es.“ Sie gab ihm ein Fläschchen mit blauem Lack. „Nimm die Finger. Färb deine Zähne blau, so daß du, wenn du deinen Mund dem Tag öffnest, einen Tunnel mitten durch deinen Kopf bis in den Himmel hast.“
Faro schmierte die Farbe auf seine Zähne. Sie war klebrig und ließ sich nicht von den Fingern abreiben. Er fand sich damit ab, daß seine Finger aneinanderklebten, und tat so, als trüge er Fausthandschuhe. Seine Hände begannen zu schwitzen.
Doug und Fenny hüpften herum, wobei sie gegenseitig die neuen Zähne anglotzten und Bennie und George Grimassen schnitten. Bennie fürchtete sich vor der Farbe, aber Dorcas versicherte allen, daß er gleich wieder okay sei. Faro versuchte, alle zum Schweigen zu bringen, aber Dorcas erklärte, daß niemand sie hören könne, weil sie von einem unsichtbaren Schild umgeben seien. Sie hatte davon auf einem TV-Band gehört. Doug glaubte, daß sie in dem Schild gefangen säßen, aber Faro meinte, das spiele keine Rolle.
Es war spät am Nachmittag. Die Passage war kühl. Faro fiel das Atmen immer noch schwer, aber er spuckte kein Blut mehr.
„Hast du noch mehr Farbe?“ fragte Fenny und hielt ein leeres Fläschchen in die Höhe. Sie hatte den kotzenden Doug sich selbst überlassen und nahm keine Notiz mehr von seinem Gewimmer.
Dorcas schüttelte den Kopf und sagte: „Wenn wir jetzt noch Farbe brauchen, stellen wir sie selbst her. Wir stellen sie aus Luft her – wir wissen alle, wie wir aussehen wollen.“
Dorcas rückte näher an Faro heran. Sie rieb sein Bein und zupfte an seinem Schorf. „Ich hatte einen komischen Traum“, sagte sie. „Ich habe von einem bösen kleinen Tier geträumt, das wie eine Schlange aussah und Hörner hatte und all die anderen Tiere auffraß. Aber dann erschien Gott aus den vier Himmelsrichtungen – oder vielleicht war er vier Götter – und erweckte all die toten Tiere wieder zum Leben.“
„Ich möchte einer der Götter sein“, sagte Bennie und schwenkte seine Tüte hin und her.
„Dann mal dir die Zähne an“, sagte Dorcas. „Danach habe ich geträumt, ich käme in den Himmel, wo alle nackt tanzten; und ich ging in die Hölle, wo Engel gute Werke taten. Und dann – ich weiß nicht, wie ich zu diesem Teil des Traumes gelangte – jagten mir lauter kleine Tiere Angst ein, und dann wurden sie riesig, und eines von ihnen fraß mich auf. Und dann wurde das Tier eine kleine Maus, und Würmer, Fische und Menschen drangen in sie ein. Das stellt die vier Stufen des Ursprungs der Menschheit dar.“
„Wo sind wir jetzt?“ fragte Bennie. Er hatte seine Zähne wie eine Friseurladenstange angemalt.
„Ich vermute, daß wir bei den Fischen angelangt sind“, sagte Dorcas.
„Ich möchte einer der Götter sein und all die toten Tiere wieder zum Leben erwecken“, sagte Bennie.
„Ich auch“, sagte Fenny.
Jeder wollte ein Gott sein; aber Dorcas mußte die Wahl treffen, denn es war ihr Traum. Sie zeigte auf sich und dann auf Faro, der lächelte. Sie bat Bennie um seine braune Tüte, die durchnäßt worden war, und sagte zu ihm, daß er noch kein Gott werden könne; er müsse warten, bis sich seine Gesichtszüge verändert hätten. Sie zog Alans Kopf aus der Tüte und zeigte ihn, ihn an den Ohren haltend, allen. „Bennie hat ihn auf dem Weg hierher aufgesammelt, gewissermaßen zur Buße. Aber es wird noch eine Weile dauern, Bennie.“ Sie legte den Kopf an die Wand und faltete ordentlich die Tüte daneben. „Und ein Gott muß noch bestimmt werden, aber wir müssen uns gedulden. Davor gibt es für uns sowieso noch viel zu tun.“
„Ich möchte auch ein Gott sein“, sagte Fenny.
„Du mußt zuerst etwas anderes sein, vielleicht ein Geist“, sagte Dorcas.
Faro berührte Dorcas’ Zehe und bildete sich ein, daß die Passage eine stille und kühle Höhle wäre, in der ein schmaler Wasserfall an einer Seite herunterplatschte.
„Nein“, sagte Dorcas, „was du tust, ist falsch. Du mußt die Dinge sein und sie dir nicht einfach um dich herum vorstellen. So…“
Und Faro verschwand in zerklüfteten Wänden, plantschte ins Wasser, kühlte sich im Lehm unter der Höhle, mischte sich unter die Kinder und genoß ihre Körperwärme. Er schüttelte sich unter dem Strahl des Wasserfalls und betastete den glatten Felsen dahinter. Er schätzte die Länge seiner Höhle ab und prägte sich das Lichtspiel an den Wänden und auf seinem Körper ein. Er erkundete die Oberfläche, ließ sich dann weiter nach unten, um die Knochen und den Schlamm zu untersuchen. Er schnitt sich an einem scharfen Kieselstein in den Finger, sank tiefer und entdeckte größere Knochen. Die Knochen stützen den Schlamm, dachte er. Er spreizte die Hände und tat so, als hätte er kein Fleisch.
„So ist es richtig“, sagte Dorcas. „Von jetzt an ist dies eine Höhle. Und man gelangt nur dort hinaus.“ Sie zeigte auf Faro. „Alle müssen glauben, daß dies eine Höhle ist, damit es funktioniert. Niemand kann uns hier drinnen etwas anhaben.“ Während sie die Höhle den anderen Kindern schilderte, veränderte sie diese. Sie erklärte, wie das Licht auf dem Wasserfall spielen sollte. Der Wasserfall wurde hellgrün, und die Wände schimmerten. Faro fröstelte: In der Höhle war es sehr feucht geworden.
„Aber ich habe noch Hunger“, sagte Doug, „und wir sitzen hier in der Falle, wenn wir nicht durch Faro hindurch nach draußen gelangen. Und wir können den Himmel nicht sehen, wenn Faro nicht den Mund öffnet. Und der ist zu.“
„Dann werden wir uns ein Tier beschaffen“, sagte Fenny, „damit es euch besser geht.“ Sie stand auf und nickte, offenbar mit sich selbst zufrieden, Dorcas zu. Dorcas schwieg.
„Wenn ich etwas Anständiges zu essen bekomme, brauche ich nicht mehr zu kotzen“, sagte Doug. „Was für ein Tier willst du beschaffen? Eins, das in Höhlen lebt. Wie ein Bär? Oder…?“
„Ich habe noch nie einen Bären gesehen.“
„Wie war’s mit einem Hund?“ fragte Faro. „Hunde schmecken gut.“
Alle lachten. Faro blickte sie finster an, aber sie lachten nur noch lauter, und ihre Lippen entblößten ihre bemalten Zähne.
„Was ist denn so komisch?“ fragte Faro.
„Dein Mund“, sagte Fenny. „Wenn du ihn öffnest, können wir aus der Höhle hinausschauen. Dein Mund ist ein Loch in der Decke.“
„Möchte irgend jemand ein Hund sein?“ fragte George. „Das würde die Sache sehr vereinfachen.“
„Halt die Klappe“, sagte Dorcas. „Wir werden einen Hund schaffen, wie es Faro gesagt hat. Was für einen Hund willst du haben? Einen großen, braunen, fleischigen?“
Faro nickte und hütete sich, den Mund zu öffnen.
Als Faro gähnte, kletterte Dorcas aus der Höhle und stand oben darauf. Faro konnte gelbe Sonnenflecken in ihrem Haar sehen, wenn sie den Kopf schüttelte. Er sah auch, daß ihre Kattunhosen am Zwickel gerissen waren. Er benutzte Sandras Geruch, um ihren süßen Duft zu verdecken. Alle drängten sich um Faro. Sandra berührte ihn, während Sal etwas vor sich hin murmelte. Jedesmal, wenn Faro den Mund schloß, schrie Dorcas, und alle lachten, besonders Fenny. Faro konnte den Mund nicht länger offenhalten.
„Okay, hier kommt er. Macht euch bereit, ihn zu fangen“, rief Dorcas. Sie warf den toten Köter durch das Loch hinunter, und Faro sprang zur Seite, wobei er den Mund schloß. Der Hund sah wie ein deutscher Schäferhund aus, aber einen Augenblick später hielt er ihn für etwas anderes. Er verdrängte das Bild aus seinem Geist. Das Fell des Hundes war aschgrau, und graue Haarbüschel sprenkelten das rosa Fleisch seines Schwanzes. Ein Blutgeiser sprudelte aus seiner Brust, färbte sein Fell und bildete kleine Pfützen und Rinnsale auf dem rauhen Stein. Der Hund ist groß genug, um alle zweimal satt zu kriegen, dachte Faro. George befingerte die Ohren.
„Also, mach den Mund auf“, rief Dorcas. „Ich will nicht den ganzen Tag hier herumstehen.“
Faro sperrte den Mund auf; Dorcas sprang, einen Filzhut in der Hand, auf den Hund.
„Wo hast du den her?“ fragte Faro.
Dorcas lächelte und sagte: „Ich habe ihn oben auf der Höhle gefunden. Da liegt lauter Zeug herum: Steine, Kugeln, Monster, Konservenbüchsen, Kaugummi, Zigaretten. Siehst du?“ Sie steckte sich einen Zigarettenstummel in den Mund und ließ ihn an ihrer Unterlippe baumeln. „Du weißt doch, wer ich jetzt bin?“
Faro wollte Dorcas nicht anschauen. Sie war zu stark. Sie beeinflußte die übrigen Kinder, verzerrte die Form der Höhle, indem sie diese auswischte und neue Formen und Geräusche schuf. Faro wußte, daß sie wie der Gammler aussehen würde, über den er in der Gasse gesprungen war und dem er einen Fußtritt versetzt hatte. Faro erinnerte sich an die Zigarette, die aus dem Mund des Gammlers herabhing und unter sein Kinn geriet, als er sich überschlug.
Als alle mit dem Essen fertig waren, zog Dorcas den aufgedunsenen Kopf des Gerippes aus dem Haufen der Überreste des Tieres und zeigte ihn den Kindern. Dann legte sie ihn neben Alans Kopf an die Wand. Doug schrie: „Das habe ich nicht gegessen, das habe ich nicht gegessen.“ Die Zwillinge fragten, ohne auf Dougs Geschrei zu achten, Dorcas, woher er stamme. Dorcas ignorierte sie. Sie setzte den Filzhut auf und steckte sich den Zigarettenstummel zwischen die Lippen.
Faro bemerkte, daß die in der Höhle verstreuten Knochen größer wurden. Er beobachtete, wie das abgenagte und auf einen Abfallhaufen geworfene Schulterblatt des Hundes sich in ein menschliches Becken verwandelte. Dorcas sagte zu Faro, er solle sich darüber nicht den Kopf zerbrechen: Sie seien nun über die Schlangen hinaus.
Dorcas versuchte, die Köpfe miteinander reden zu lassen, aber die Zwillinge brüllten los, als sich Alans Mund zu bewegen begann. Schaum klebte an seinen Zähnen, während sie plauderten, und bildete ‘ verzwickte weiße Spinngewebe. Faro beendete die Unterhaltung, indem er die Tüte über Alans Kopf stülpte.
Faro war müde; er ging zum Hintergrund der Höhle und döste ein. Er konnte Geflüster hören, Georges schrilles Lachen, das an der Wand herabtröpfelnde Wasser. Dorcas legte sich neben ihn und schlief schnell ein; sie hatte gesagt, sie habe es nötig zu träumen. Faro öffnete den Mund und träumte, daß er durch eine Öffnung oben in der Höhle schaute. Er beobachtete, wie der graue Himmel dunkelblau wurde und dann schwarz. Er hatte Wolken vergessen, aber dazu war es zu spät, Sterne flimmerten über ihm. Er versuchte, sie zu zählen, aber sie verblichen und verwandelten sich in Nebel. Der Nebel drang durch die Öffnung ein und erfüllte die Höhle. Faro schloß hastig den Mund, aber etwas Nebel hatte sich auf sein Gesicht gesenkt. Er erwachte hustend.
Dorcas stöhnte und schlang die Arme um Faros Brust. Ihre Haut war blaß, und Schweißtropfen hingen an ihrem Kiefer. Speichel bildete sich in ihren Mundwinkeln, als sie den Kopf hin und her schüttelte. Faro beobachtete sie beim Träumen. Graue Vögel entwuchsen ihrer Haut, flatterten heftig mit den Flügeln, krächzten und hackten sich gegenseitig. Sie bedeckten Dorcas völlig, obwohl sie sie gelegentlich vom Arm abschüttelte.
Am Morgen werden wir die Höhle wahrscheinlich verlassen, dachte Faro erleichtert. Er schlief schnell ein und träumte, daß Mückenschwärme alle Sterne über ihm verdunkelten, bis auf einen: ein helles, funkelndes Licht. Er konnte die Sterne nicht aussperren; er schnarchte mit offenem, nach Luft schnappendem Mund. Faro spürte, daß Dorcas ihn beobachtete. Und der leuchtende gelbe Stern wurde größer, als er auf ihn herabfiel. Er brach durch die Öffnung und bettete sich in seinen Mund. Dorcas kicherte, sagte aber zu Faro, es sei ein guter Traum. Aber der Traum ging weiter: Alle anderen Kinder verbrannten, außer Dorcas, die in einem neuen Kleid vor dem Feuer saß.
Am nächsten Morgen weckte Dorcas alle. Faro betrachtete es als Kompliment, daß sie das Kleid trug, von dem er geträumt hatte.
Während sie den Kopf des Hundegerippes in die Tüte steckte, sagte sie: „Wir ziehen heute um. Wir können die Höhle mitnehmen. Wir brauchen nur an sie zu denken, wenn wir sie nötig haben. Wir werden üben, Geister zu sein und andere Dinge zu werden und Teil von allem zu sein.“
„Werde ich auch ein Gott?“ fragte Bennie. Er versuchte, die Emailfarbe von seinen Zähnen zu kratzen, aber sie ging nicht ab.
„Nein“, sagte Dorcas, „aber du wirst ein Geist sein. Es kann nur vier Götter geben, nämlich mich, Faro, Alan – weil er tot ist – und den Gammler – weil du ihn gegessen hast.“ Doug schrie, daß er den Gammler nicht gegessen habe, aber Dorcas ignorierte ihn. „Alle übrigen können Geister sein.“
„Wohin gehen wir?“ fragte Faro Dorcas.
„Dahin“, sagte sie und zeigte mit dem Finger zu einer Hochstraße. „Zur Unterstadt.“
„Aber da unten sind die Leute tot.“
Dorcas erwiderte nichts, aber Faro marschierte los. Sie ist zu stark, dachte er. Dorcas folgte Faro und gab die Tüte mit den Köpfen Sandra. Jedesmal, wenn einer der Köpfe etwas sagte, schrie Sandra und ließ die Tüte fallen. Sie verstummten bald. Sandra versuchte, die Tüte Sal zu geben, aber der weigerte sich, sie zu tragen.
Faro übernahm die Führung, und Dorcas ging neben Fenny, gefolgt von Doug, George und Bennie. Die Zwillinge gingen am Ende; sie hänselten und beschimpften alle bis auf Faro und Dorcas. Besonders Doug war die Zielscheibe ihres Spottes, weil er verkrüppelt war.
Aus reiner Gewohnheit benutzte Faro die Seitenstraßen, aber sie waren belebter als sonst. Die Hauptstraßen mit ihren Händlern und Polizeistreifen wären zwar kürzer und abwechslungsreicher, aber auch gefährlicher gewesen. Faro ging neben dem Trottoirrand und suchte nach Zigarettenstummeln, ohne welche zu finden. Er mußte einige Male die Straße überqueren, um Krawallen aus dem Wege zu gehen. Die anderen Kinder blieben dicht hinter ihm.
Als sie zur Unterstadt hinabstiegen, stießen sie mehrmals auf Krawalle. Sie machten einen Bogen um einen großen Park, der nach Abfällen stank, um einem randalierenden Mob auszuweichen. Es sind wahrscheinlich Schreier, dachte Faro, aber er wollte kein Risiko eingehen: Sogar Schreier konnten gefährlich sein.
„Nimm diese Straße“, sagte Dorcas und zeigte auf eine Straße, in der sich Autowracks und unbenutzte Stacheldrahtrollen stapelten.
„Zu gefährlich“, sagte Faro. Er sah, daß sich etwas in der schmalen Straße bewegte. „Siehst du das?“
„Na schön“, sagte Dorcas. „Dann wird eben Fenny sie auskundschaften. Sie wird als erste üben, ein Geist zu sein. Fenny?“
Fenny nickte und lächelte.
„Nichts kann dir mehr etwas anhaben“, sagte Dorcas. „Du verwandelst dich einfach in etwas. Aber du mußt dich beeilen, sonst funktioniert es nicht.“
„Ich gehe schon“, sagte Faro beleidigt.
„Nein, Fenny geht. Und wir schauen zu. Beobachtet alle Fenny.“
„Aber wir brauchen doch nicht diese Straße zu benutzen“, sagte Faro. „Wir brauchen sie doch nicht auszukundschaften.“
„Sie muß Erfahrungen sammeln“, sagte Dorcas. „Wir sind Götter. Wir befehlen Geistern, was sie tun sollen. Ich möchte durch diese Straße gehen. Also gehen wir durch diese Straße. Du bist ein Gott, schau also zu.“ Dorcas legte den Arm um Faros Taille und schmiegte sich an ihn. Faro kicherte.
Alle kauerten sich hinter Faro und Dorcas und schauten zu. Ein paar Leute kamen die Straße entlang, achteten aber nicht auf sie. Fenny überquerte die Straße, hielt inne, bog dann in die schmalere Straße ein, und stieß wenig später einen Schrei aus. Ein kleiner, blasser Mann hatte sie beim Arm gepackt und zerrte sie zu einem Hauseingang.
„Ich kann nichts sehen“, sagte Bennie.
Sie schrie nochmals, und Doug raffte seinen Mut zusammen und rannte auf die Straße zu.
„Das ist nicht richtig“, sagte Dorcas. „Dazu ist es noch nicht an der Zeit. Aber es sollte genügen. Er wird einen jämmerlichen Geist abgeben.“
Doug erreichte Fenny, und der Mann schlug ihm ins Gesicht und zerschmetterte seine Nase. Doug fiel auf die Knie, und der Mann schlug nochmals zu.
„Keine Bange“, sagte Dorcas. „Es ist nur eine Übung. Schau zu.“ Faro atmete schwer.
„Wir haben keine Zeit, darauf zu warten, bis er sich verwandelt“, sagte Dorcas und schaute dabei Faro an. „Er wird sich schon etwas ausdenken und es selbst erledigen. So lernt er, nicht dauernd Hunger zu haben. Wahrscheinlich denkt er sich gerade etwas aus. Siehst du, er schlüpft in die Finger des Mannes. Er wird zu dessen Fingern. Er berührt Fenny. Jetzt kann er ihr helfen. Sie hat sich schon fast völlig verwandelt.“
Faro versuchte, das Bild zu verzerren, das Dorcas schuf, nur um seine eigene Kraft auszuprobieren, aber sie war zu stark, und er fühlte, wie ihre Hand seine Finger zerquetschte. Als alle zufrieden waren, daß es Doug und Fenny gutging – und vielleicht geht es ihnen wirklich gut, dachte Faro –, gab Dorcas ihm einen Schubs, damit er den Weg fortsetzte.
„Warum gehen wir eigentlich in die Unterstadt?“ fragte Faro.
„Wir müssen üben“, sagte Dorcas. „Wenn der Weg zu weit ist, werden wir eben Götter und Geister und fliegen hin… wenn du weitermachen willst, heißt das. Ich werde diese ganze Stadt zermalmen und alles zusammenpressen, damit ich sie überblicken kann. Man kann andere Leute von anderswoher holen, aber nicht von hier, um mich zu bekämpfen. Dann können wir Kriege führen und füreinander einspringen.“
„Was ist mit mir?“ fragte Bennie.
„Du wirst ein Geist sein“, sagte Faro und äffte dabei Dorcas nach. Unterwegs dachte er an die Höhle und daran, wie er so gern an ihren kühlen, harten Wänden schlafen würde.
Sie gingen den ganzen Nachmittag lang. Es war sehr warm. Die Sonne schwebte nur dicht über den Gebäuden hinter ihnen. Faro sah nur wenige Leute auf der Straße, und diejenigen, die er sah, waren verseucht. Die Zwillinge schrien, als sie auf die erste Leiche stießen. Schon bald waren die Straßen mit verwesenden Leichen übersät. Die wenigen Leute, die ihnen begegneten, hielten sich Taschentücher vors Gesicht. Sie kamen an einem Leichenhaufen vor einem Friseurladen vorbei. Der Gestank war unerträglich. Faro versuchte, ihn mit Sandras Duft zu verdecken, aber es gelang ihm nicht. Er beobachtete einen Mann, der über die Leichen sprang und um eine Ecke verschwand. Faro drehte sich, die Hände vor Nase und Mund gepreßt, um, konnte aber die Zwillinge nirgendwo erblicken. Alle übrigen husteten, und ihnen wurde übel, von Dorcas abgesehen, die es zu genießen schien.
„Wir bleiben hier“, sagte Dorcas und zeigte auf eine Nebenstraße, die von der Hauptstraße abzweigte, auf der sie sich befanden. „Die Seuche funktioniert gut. Sie verschafft mir eine Armee. Vergiß nicht“, sagte sie zu Faro, „daß du dir auch eine von irgendwoher beschaffen mußt, wenn du kannst. Du solltest lieber fliegen lernen. Es ist genau wie in meinem Traum.“
„Wo sind die Zwillinge?“ fragte Faro.
Dorcas überhörte die Frage. „Ich habe Hunger“, sagte sie.
Alle dachten die Höhle herbei und krochen hinein, während Dorcas sich ein Tier ausmalte, das sie essen konnten. In der Höhle waren sie sicher. Der Gestank der Totenstraßen verschwand. Dorcas sagte zu Faro, er solle den Mund aufmachen. Sie sprang durch die Öffnung der Höhle und schaute umher. Draußen war es grau. Sie warf zwei Kaninchen durch die Öffnung hinunter und sprang hinterher. Sie waren schon gehäutet und zum Verzehr bereit. Sie waren sehr groß und zuviel, um auf einmal aufgegessen zu werden, und hatten orangefarbene Augen wie eine Katze. Ihr Fell war grau und ihr Rattenschwanz rosa und stachelig.
„Ich glaube, daß sie so aussehen sollen“, sagte Dorcas. „Wenn man ihre Schwänze anfaßt, kann man sich vergiften.“
Faro beobachtete, wie die Schatten der Zwillinge um die großen Fleischbrocken herumflatterten. Er sah, daß Sandras Schatten über einem kleineren Stück schwebte; er konnte fast ihren Duft riechen. Diesmal beschloß Faro, nichts zu essen, obwohl er plötzlich Hunger hatte.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte Dorcas. „Den Zwillingen geht es gut. Sie verstecken sich in Bennies Gesicht. Siehst du sie? Die kahlgeschorene Seite ist Sal, und die behaarte Seite ist Sandra. Sie bleiben eine Weile bei Bennie.“
Faro konnte die Zwillinge in Bennies Gesicht sehen. Sie versuchten beide gleichzeitig zu reden, wobei sie Bennies Mund verzerrten und seinen Gesichtsausdruck veränderten, so schnell es seine Muskeln zuließen. Aber Faro konnte Bennies winzige eingesperrte Augen erkennen, die ihn anstarrten. Der Geruch frischen Fleisches drang zu Faro, und er zog seine Backen zusammen.
Das ist nicht einmal der echte Bennie, dachte Faro. Er könnte sich vielleicht sogar nochmals verändern. Faro betrachtete Bennies Gesicht, aber die Zwillinge waren verschwunden. Bennie streckte ihm die Zunge raus und kicherte. Es spielt keine Rolle, dachte Faro. Er schnitt sich ein Stück Fleisch ab und setzte sich neben Dorcas. George setzte sich an die hintere Wand und unterhielt sich mit Bennie und den Zwillingen.
Dorcas redete mit geschlossenen Augen davon, all die toten Tiere wieder zum Leben erwecken und ihre Armee mit ihnen aufstellen zu wollen. Beim Reden löste sie die Höhle auf. Die schlechte Luft erstickte Faro. Während er hustete, stand sie auf und sagte: „Ich gehe die Köpfe suchen. Seit die Zwillinge verschwunden sind, kann ich sie nicht mehr finden.“
Es dämmerte. Faro beobachtete, wie sie vorsichtig über die aufgedunsenen Körper stieg und mit gesenktem Kopf nach einem vertrauten Gesicht suchte. Im Dämmerlicht sahen die Körper wie noch nicht vom Alter vergilbte Elfenbeinfiguren aus. Nur Dorcas sah wie ein altes Stück von einem Stoßzahn aus, und ihre braune Haut hob sich deutlich von den Leichen ab. Faro beobachtete, wie sie sich bückte, fast zu einer der Leichen wurde und dann weiterging.
Bennie schickte ihr George zu Hilfe. „Sie hat gesagt, das dürfte ich“, sagte Bennie. „Er hat sowieso die Seuche oder wird sie bald haben. Dorcas wird diese beiden Köpfe nicht finden. Sie sucht nicht einmal nach ihnen.“
„Was tut sie denn dann?“ Faro beobachtete, wie George auf der Straße hinfiel.
Bennie lächelte, zog seine Schnallenschuhe aus und entblößte die sechste Zehe an seinem rechten Fuß. Die geschwollene und nagellose sechste Zehe überschattete die tadellos geformte kleine Zehe. Faro betrachtete, das Gesicht am kühlenden Zement, die Zehe. „Aber Dorcas ist doch da draußen, um die fehlenden Köpfe zu suchen.“
Bennie lachte. Sein Bild schwankte. Er verwandelte sich in Dorcas. Dorcas wischte geschickt sein Gesicht aus und ersetzte es durch ihr eigenes. „Nein, das tue ich nicht“, sagte sie. „Aber Bennie ist da draußen. Und er stirbt wirklich, einfach zum Spaß. Nicht wie George, der bloß hinfällt. Bennie versucht nicht einmal, sich in irgend etwas zu verwandeln, denn er weiß, daß ich ihn sowieso bald wieder zum Leben erwecke.“ Achselzuckend nahm Dorcas ihre eigene Gestalt an.
Faro drückte das Gesicht an den Zement, aber er konnte sich nicht davon abhalten, sich Dorcas’ Fuß zu nähern. Er versuchte, eine fötale Haltung einzunehmen, aber Dorcas streckte ihn gerade. Sie kicherte und verwandelte sich wegen des Effekts in Bennie.
„Aber wir müssen entscheiden, wer gut und wer böse ist“, sagte Faro. „Du mußt dich gedulden, bis ich auch eine Armee habe. Und all diese Leichen liegen hier immer noch herum. Du mußt sie erst einmal wieder zum Leben erwecken.“
Während Faro, der sich das Gesicht auf dem Zement blutig gescheuert hatte, näher kroch, wurde die Zehe größer. Nur ein Blick, dachte Faro, während er sich umzuschauen versuchte. Bennie lachte hysterisch.
„Nur zu, blick dich um. Ich habe nicht geschwindelt. Schau hin.“
Faro betrachtete die Leichen, als die Dämmerung in den Abend überging. Ihre Münder standen offen und entblößten bemalte Zähne. Er glaubte zu sehen, daß einer davon sich bewegte, aber es war schon zu dunkel, um dessen sicher zu sein.