Der Trommellutscher

 

 

 

Der Streit dauerte schon eine Stunde. Er verebbte, strömte heran, verebbte wieder – ein fester, berechneter Rhythmus. Die Flut setzte zum letzten Mal ein; sie brachte ein Echo mit sich, als würde sie irgendwo anders geflüstert.

Frank Harris blieb ein kleiner Ball, während der Rest von ihm seine Frau anschrie. „So kann ich dich nicht lieben. Ich habe es einfach nicht. Es ist nicht da. Du verlangst etwas, das ich dir nun mal nicht geben kann. Und auch nicht will.“ Ein Zauberstab hob ihn aus seinem Sessel und schubste ihn zur Tür, in die Halle, an dem tiefer liegenden Eßzimmer vorbei und durch die Speisekammer.

Seine Frau rannte kreischend, weinend, flehend hinter ihm her. Sie holte ihn ein, als er an der Klinke der Fliegendrahttür herumfummelte. Indem sie die Arme um seinen Bauch schlang, sank sie auf die Knie, und ihre Finger klammerten sich an seinen Gürtel, um Halt zu finden. Es würde ihm nichts nützen, sich durch die Tür zu zwängen; sie würde weinend an ihm hängenbleiben, und er könnte sie womöglich verletzen, wenn er sich loszureißen versuchte. Es war die alte Taktik; sie hatte schon früher funktioniert. Der Streit war vorbei. Jammernd würde sie ihm auf die Bude folgen und ihm sagen, daß sie ihn über alles liebe.

Oben steckte Maureen ihre Pickup-Stöcke in ihre Spielzeugtruhe, ganz tief an den Spielsachen vorbei, aus denen sie sich nichts machte, aber sie konnte keinen Platz für die Trommel finden. Die Zauberstäbe waren sicher verstaut, aber die Trommel, dachte sie, wohin mit der Trommel? Sie im Wandschrank, im Wäschekorb, unter dem Bett verstecken?

„Maureen“, rief ihre Mutter am Fuß der Treppe. „Das Abendessen ist gleich fertig. Räum dein Zimmer auf und komm runter. Alles ist wieder in Ordnung. Also komm runter.“

Die Trommel ist kaputt. Ein Bächlein sprudelte unter dem straffen Trommelfell und machte es rissig. Laß sie auf dem Bett liegen. Sie ist kaputt. Maureen legte sie auf das Kissen, unterdrückte ihre Tränen und ging gefaßt zum Essen hinunter.

Sie aßen stumm. Maureen spielte mit ihrem Essen, indem sie Kreise in den Mais zog, und dachte über ihre Trommel nach. Es wäre besser, sie dort zu lassen und etwas anderes zu machen. Sie würde sie nie wieder anfassen; sie würde sich um sie kuscheln und sie beschützen.

Sie sah ihren Vater an, der an einem Fladen herumkaute. Sie beschützte ihn nie. Das sollte sie auch nicht. Er sollte sie beschützen. Ich möchte, daß du mich so liebst, wie ich dich liebe. „Was heißt das, Mami?“ Die Zauberstäbe sangen in der Spielzeugtruhe.

„Was heißt was, Liebling?“ fragte sie, während sie die Teller stapelte. „Gib mir deinen Teller.“

Maureen ist es kalt. Sie fühlt sich wie jene tote Eidechse. Die Trommel auf dem Bett. Die Trommel liegt auf dem Bett. „Nichts. Darf ich wieder in mein Zimmer gehen und spielen?“

„Nein, Liebling. Du bist heute schon zu lange in deinem Zimmer gewesen. Du solltest wenigstens ein bißchen nach draußen gehen. Es wird erst in zwei Stunden dunkel.“

Ihr Vater stand vom Tisch auf.

„Okay.“ Maureen ließ alles stehen und liegen. Die Trommel lastete schwer auf dem Bett. Die Zauberstöcke baumelten an ihren Schlingen. Die Puppen waren gesichtslos, achtlos im Zimmer verstreut worden. Denen fehlte nichts. Aber die Trommel war gesprungen. Luft drang hinein. Sie konnte das Haus verlassen, aber diesmal würde sie beim Weggehen keine Brücke bauen. Sie überlegte es sich anders: doch, eine ganz kleine ohne Streben oder Balken oder schwammige Pfeiler.

Sie spürte, wie die Spannung hinter ihr wuchs. Sie setzte sich unter eine hohe Eiche im Hinterhof und starrte das weiße Stuckhaus an. Stumm starrte es aus den Fenstern des zweiten Stocks zurück.

Aber ich liebe dich. Auf meine Art. Wir haben unsere Beziehung immer für etwas Schönes, etwas Heiliges gehalten. Aber so kann ich dich nicht lieben. Du bist für mich wie eine Tochter.

Bau einen Zaun, einen weißen Lattenzaun. Zieh ihn um das Haus herum. Nein, das taugt nichts. Okay. Acht Hunde mit spitzen Zähnen in der Auffahrt zum Schutze des Hauses. Sie lachte: Sie konnte sich keinen Hund vorstellen. Sie sahen wie gehörnte Krapfen aus. Spitze Zähne, keine viereckigen.

Sie schloß die Augen und richtete ihre Gedanken auf die Trommel, die jedesmal puffte, wenn sie auf sie schlug. Sie erschauderte. Es war keine Trommel. Es war kein Zauberstab. Sie hatte etwas gezeichnet, das sie noch nie gesehen hatte. Es entfloh ihr. Es versteckte sich im Wohnzimmer hinter durchsichtigen Wänden. Der Zaun stürzte ein, und sie stand auf. Sie konnte es nicht sehen; sie wollte es nicht sehen. Sie machte einen Schritt auf das Haus zu. Und noch einen: Es machte Spaß, Angst zu haben.

Es war nicht in der Speisekammer. Sie ging an der Waschmaschine vorbei und öffnete die Küchentür. Die Küche war leer. In dem Vestibül rechts, drei Stufen tiefer, da war es. Ein halbes Bild seiner Substanz konzentrierte sich in einer winzigen Pfütze. Es triefte und wuchs und konzentrierte sich. Es spuckte Gerinnsel aus, erbrach sich und schleuderte Ansteckung gegen sie, als es sich auf einem narbigen Sternchen niederließ. Es war braun, dann ockergelb und schwarzgefleckt. Ihm entsprossen Fangarme, und es verschlang sich selbst.

Maureen wandte sich von ihm ab. Es zog sie zurück, umstrickte sie, überflutete sie. Sie haßte es; ihm entsprossen Hauer.

Sie konnte niemanden im Haus hören. Sie waren wahrscheinlich oben. Aber warum wußte sie das nicht? Die Pfütze drehte sie um und verschwand allmählich, wobei sie nur eine Aura der Wärme zurückließ. Diese breitete sich aus und piekte Maureen mit tausend heißen Nadelspitzen. Sie war jetzt frei; es hielt sie nicht mehr fest. Aber sie wollte nicht gehen. Das war nicht nötig. Sie konnte bleiben. Sie hatte sich verliebt. Es hatte sich verändert; es roch angenehm.

Sie fühlte sich warm und geborgen. Die Aura war ein Feuer, das sie beschützte und dem Zimmer Farbe verlieh. Es folgte ihr, Muster in die Luft zeichnend, bis in ihr Zimmer. Dort spann es ein Spinngewebe von Wand zu Wand und um das Bett, wobei, es sorgfältig darauf achtete, die Trommel nicht zu berühren.

Sie hörte ein Knarren aus dem Nebenzimmer. Es war das Bett. Sie malte sich aus, wie ihre Eltern sich umschlangen und die Sprungfedern knacken ließen. Sie hatte das noch nie zuvor gehört. Seit ihrer Geburt hatten sie das noch nicht getan.

Sie lauschte und schlief ein. Das Spinngewebe wurde dichter und verwandelte sich in einen Kokon.

Andernmorgens stand sie früh auf. Ihr Zimmer roch muffig, als hätte die durch das Fenster hereinströmende Wärme die Feuchtigkeit noch nicht verdampfen lassen. Ihre Spielzeugtruhe war geschlossen. Sie zählte drei Puppen auf dem Boden. Die vierte lag unter dem Bett versteckt, ihr ausgestopfter Sonnenblumenkopf war abgerissen und lag umgekehrt neben dem Torso.

Mit angehaltenem Atem ging Maureen auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und sprang über die drei letzten Stufen ins Wohnzimmer. Sie konnte das Bild der Bewegung, das sie heute nacht gefesselt hatte, nicht deutlich erkennen. Sie konzentrierte sich auf die Wellenlinien; sie wurden klarer. Sie schloß die Augen und erlaubte es ihm dadurch, seine Form auf ihrer Netzhaut zu skizzieren.

Es war eine Trommel. Sie öffnete die Augen und erblickte die dumpfige Pfütze, die in den Teppich versickerte. Die ihre Form änderte und ein Blasen aufwerfender Stern wurde. Die vibrierte und einen dünnen Strahl Wärme aussandte. Es war eine dröhnende Trommel. Sie streckte die Hand danach aus, ergriff sie mit den Fingern, drückte sie in ihre Hand und saugte sie langsam aus. Sie war glücklich. Aber das ging schnell vorüber.

Sie wartete. Es zum Leben zu erwecken, war nutzlos – weder betteln noch schmeicheln noch singen nützte etwas. Sie machte ein paar Schritte darauf zu; es verblaßte zu einem Umriß. Sie bildete sich ein, daß ihm noch ein Fangarm entsproß. Es war keine Einbildung.

Die Trommel, hol die Trommel und deck die Zauberstöcke zu. Die Trommel lag auf ihrem Bett, aber sie konnte es nicht berühren. Das hatte sie versprochen. Es war keine Trommel mehr. Sie rannte aus dem Wohnzimmer und die Treppe hinauf. In der Sicherheit ihres Zimmers hob sie die Trommel hoch und untersuchte das zerrissene Trommelfell. Es konnte nicht mehr repariert werden. Sie schlug es wütend. Ein Gegenstrom flutete die Treppe herauf und in ihr Zimmer. Sie warf die Trommel aufs Bett und preßte die Hände vor die Augen. Der Geruch verflüchtigte sich.

Sie klopfte vorsichtig auf die Trommel und horchte auf einen Puff. Es war keine alte Trommel. Das Trommelfell hätte nicht reißen dürfen. Ein Schimmer schlich sich ins Zimmer, ein winziger Strahl Wärme. Sie konnte ihn nicht sehen, aber sie wußte, daß er in ihrer Nähe war. Während sie auf die Trommel klopfte, beobachtete sie die Tür; sie konzentrierte sich; sie kicherte; sie bemühte sich, nicht in ihren Pyjama zu pinkeln. Sie hatte die Trommel nicht hergestellt, und sie konnte sie nicht reparieren. Eine andere Trommel wäre das gleiche; aber sie könnte nie so eine wie diese herstellen.

Noch ein Schimmer. Aber sanfter und etwas breiter. Sie erschauderte, als er sie durchdrang.

Sie waren erwacht. Maureen spürte das verschwommene Bewußtsein ihrer Eltern. Das Gefühl verschwand. Sie legte die Trommel auf ihre Spielzeugtruhe und starrte aus dem Fenster, während sie sich stumm anzog. Der Sonnenschein überflutete den Fußboden und verlief sich in der gespannten Steifheit des Hauses. Sie blies kräftig auf die Staubteilchen, die in der gelben Flüssigkeit schwammen. Sie senkten sich in die Fugen des Fußbodens.

Ihre Mutter war als erste unten. Der Geruch von Margarine, ein Hauch Ozon, dann Eier, Toast, das Zuschlagen der Kühlschranktür, das Gurgeln des Wassers in den Rohren. Maureen konnte nichts davon sehen, aber sie war glücklich.

Die Trommel war tot. Sie lag auf der Truhe. Die Pfütze im Wohnzimmer kam ohne die Trommel nicht aus. Die Trommel kam nicht ohne sie, Maureen, aus. Sie kam nicht ohne sie aus. Maureen hörte ihren Vater im Badezimmer fluchen, und ein leichter Geruch von Übelkeit fegte durchs Zimmer. Wenn du weinst, wird die noch schlimmer; sie wird schwarz und geronnen im Teppich. Maureen kämmte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zurück und bewunderte sich im Spiegelbild. Der Geruch verdichtete sich. Sie lehnte sich aus dem Fenster, um die warme Luft zu fühlen und den strahlenden Morgen zu sehen. Denk nicht mehr an die Trommel. Laß sie auf der Truhe liegen. Zerrissen. Laß sie allein. Sie ist gar nicht da.

Sie konnte nicht die Küchendünste riechen – sie verloren sich in den Wogen der Übelkeit, die ins Zimmer rollten. Immer dichter. Sie zogen sie in das Zimmer, drangen ihr in Mund und Nase, leckten an ihren Eingeweiden, bis die sich zu erbrechen bemühten. Aber Maureen konnte sich nicht erbrechen. Sie konnte die Augen nicht von der Trommel abwenden, die nun mitleidig wackelte. Sie hätte am liebsten die Trommel zertrümmert, ihr das Trommelfell abgezogen, das Holz zersplittert, den Schulterriemen aus Plastik in rote Quadrate zerstückelt.

Sie strebte zur Spielzeugtruhe, stellte aber fest, daß sie noch immer am Fenster stand. Sie weinte, lachte dann, biß die Zähne zusammen, träumte von Fangarmen und haßte alles im Zimmer, vor allem die Trommel. Sie spürte, wie ihre Mutter mit Gewalt in sie eindrang. Sie konnte ihre Poren nicht schließen; sie waren gähnende Löcher. Sie war nackte Ihre Mutter. Ein Sud aus Angst und Geschrei, eine flache Maske der Zärtlichkeit. Eine in den Jahren vergilbte Puppe, rissig und verdorrt. Sie schrie bei allem, was ihr weggenommen wurde. In ihr schwoll ihre Mutter an, reizte sie mit Versprechungen der Tiefe, Versprechungen unempfundener Gefühle, Gedanken, um ihre Wirbelsäule zu prickeln, Gemütsbewegungen, denen sie nicht gewachsen war. Aber es waren nur oberflächliche Reflexe.

Sie drängte ihre Mutter hinaus und streckte die Hand nach ihrem Vater aus. Sie schrak zurück, und er umarmte sie nicht. Er war zu schwer; er hätte sie erdrückt. Sie grapschte nach seinem Gesicht und kratzte ein Stück welke Haut davon ab. Sie hackte nach ihm und legte ihren Haß in ihre Finger. Hör auf! Geh weg! Sie betrachtete das zerkratzte Gesicht ihres Vaters und brach in Tränen aus. Geh weg! Sie konzentrierte sich auf die Trommel; sie widerspiegelte die Pfütze unten. Verwandelte sich in etwas anderes. Maureen malte sich Tiere, Bäume, Muster auf Bettdecken, Puppengesichter, Gemälde aus. Das Substanzgerinnsel im Wohnzimmer blieb davon unberührt. Man kann es nicht ändern; man kann es nicht schaffen. Das Gerinnsel erbebte und verzerrte die Wand hinter sich. Doch, dachte sie, das habe ich geschafft, das habe ich geschafft. Sie packte die Trommel und rannte aus dem Zimmer; ich mache mir nichts daraus.

Sie stand, die Trommel unter dem Arm, auf der Treppe. Sie vermochte die Pfütze nicht verschwinden zu lassen. Sie konzentrierte sich auf seine eingebildete Form, sie zerstörte sie in ihrem Geist. Die Pfütze blieb davon unberührt. Mach, daß sie verschwindet. Am liebsten hätte Maureen geschrien, geweint und wäre zu ihrer Mutter gerannt, die in den Küchendünsten badete.

Sie betrachtete die Trommel. Sie war ruhig und fühlte sich plötzlich sehr alt. Die Trommel warf Blasen auf; sie grapschte danach, und die Trommel puffte. Ihr war sehr warm, und sie fühlte sich traurig. Sie setzte sich auf eine Stufe und streckte die Beine aus. Ein goldener Faden kroch die Treppe hinauf, und sie fing ihn zwischen den Fingern und saugte mit einem tiefen Zug daran.

Die Gedanken an Weinen und Schreien rückten in die Ferne. Es war ein Spiel. Es machte Spaß, Angst zu haben. Wärme überflutete sie. Liebesfäden krochen die Treppe hinauf, glitzerten, beschützten sie, lachten mit ihr, die plötzlich traurig war, aber angenehm traurig.

„Ruf deinen Vater. Das Frühstück ist fertig.“ Ihre Mutter stand unten im Vestibül. Sie sah entspannt aus; ein leises Lächeln zuckte in ihren Mundwinkeln und verflüchtigte sich dann. „Wann hast du deine Trommel kaputtgemacht? Sie ist fast funkelnagelneu, und schon hast du sie kaputtgemacht. Hast du mit einem Stock darauf geschlagen? Sie ist nur dazu da, mit den Fingern darauf zu schlagen, und nicht mit einem Stock. Na, es nützt jetzt doch nichts mehr. Bring sie nach unten und wirf sie weg!“

„Okay. Aber muß das gleich sein?“

„Ja, auf der Stelle. Wirf sie in den Mülleimer in der Küche.“

Sie konnte sie noch nicht wegwerfen. Alles würde von vorne anfangen: das Erbrechen, der Gestank, Zähne, Krallen, Tritte, Zerren, Schläge, Fäuste, Haß. Nein, ich werfe sie nicht weg.

Sie warf sie weg, denn ihre Mutter stand vor ihr und ihr Vater hinter ihr. Und zwar hastig.

Nichts geschah. Sie frühstückte und ging nach draußen, um unter dem Baum zu spielen, aß zu Mittag, untersuchte die Pfütze im Wohnzimmer – jetzt ein gelbbrauner Fleck auf dem Teppich –, spielte noch ein paar Stunden unter dem Baum, versuchte Dinge in ihren Geist aufzunehmen, dachte über die Trommel und den vielgestaltigen Fleck nach. Der Fleck war immer noch da und warf unbeachtet Blasen auf, aber die Trommel – die lag unter Abfällen.

Maureen wartete darauf, daß etwas geschah. Sie verbrachte Tag für Tag unter dem Baum und beobachtete das Haus. Der Fleck blieb im Wohnzimmer zurück, unbeachtet von der restlichen Familie, einschließlich Onkel Milton, der mindestens einmal in der Woche vorbeikam. Sie dachte nicht mehr an die Trommel; sie hatte sie nicht hergestellt.

Sie vergaß ihre Angst. Es war ein Spiel, wie andere, und sie hatte es erschöpft. Aber sie konnte nichts herstellen, nicht einmal eine Brücke oder einen Zaun. Sie konnte jetzt nur noch mit Greifbarem arbeiten. Es verwischte alles um sie herum; sie konnte weder Worte noch Leute wahrnehmen.

Allmählich änderten sich die Dinge. Es gab keine Kräche mehr; ihre Mutter und ihr Vater hatten sich ineinander verliebt. Sie hielten Händchen, flüsterten im Schlafzimmer, prallten auf die Sprungfedern und gingen am Samstagabend aus. Onkel Milton kam öfter vorbei; er behauptete, hier sei der einzige Ort, wo er sich entspannen könne.

Der Wäschemann kam in dieser Woche zweimal; er sagte, er habe vergessen, daß er die Wäsche schon abgeholt habe.

Und der Telefonmann reparierte die Leitung zweimal.

Und der Fleck nahm eine anständige Form an. Maureen war gerade draußen, als er aktiv wurde. Sie hatte gelernt, ihre Hände zu gebrauchen, aber es war nicht das gleiche. Die Trommel war futsch: Maureen hatte jegliche Selbstkontrolle verloren. Sie formte Schlammkuchen im Regen. Das sollte ihr letztes Schlammachwerk sein: Sie wurde zu alt für Schlammkuchen.

Sie rief: „Mutti, komm her und guck es dir an“ und rannte mit schlammbedeckten Händen und Lackschuhen ins Haus. Durch die Speisekammer, die Küche, Sackgasse, in die Abstellkammer, drei Stufen hinauf ins Vestibül, und sie waren im Wohnzimmer. Warum hatte sie dort nicht zuerst nachgesehen? Weil es nun dort an der Arbeit war. Sie schüttelte ein vertrautes Gefühl ab; alles wirkte klar.

Das Zimmer war rot – sie hatte es seit langem nicht mehr bemerkt. Eine steinerne Kaminimitation zierte die hintere Wand. Darüber hing ein großer Spiegel, in dem sich ein üppiges Samtsofa und ein Ölgemälde der Familie widerspiegelten. Ein Glastisch, Stühle, einige Stücke aus Kristall, kastanienbraune Vorhänge und ein roter Plüschteppich vervollständigten die Einrichtung.

Das Sternchen mit den Fangarmen war sichtbar. Es flimmerte vor dem Kamin. Ihm waren vier weitere Fangarme entsprossen, und seine schwarzen Flecken hatten sich in verkrustete Wunden verwandelt, aus denen Eiter in die Luft sickerte. Es streute dünne gelbe Liebesstrahlen über das ganze Zimmer. Es stieß einige Dunstwölkchen gegen Maureen aus, aber sie wich zur Seite, nur um ihre Mutter und ihren Vater schläfrig auf den beiden Schaukelstühlen beim Eingang des Eßzimmers sitzen zu sehen. In Liebe gebadet, hielten sie vor der Türöffnung Händchen.

Ein gelbes Dunstwölkchen ließ sich auf Maureens Pferdeschwanz nieder, hing lose herab, fiel auf ihre Schultern und verschwand in ihrem Krinolinekleid. Sie fühlte eine Aufwallung der Geborgenheit, ein Kissen der Wärme. Als sie ins Wohnzimmer trat, klingelte es an der Haustür.

„Darling“, sagte ihre Mutter, „bist du so nett und machst auf?“

Maureen öffnete die Tür für Onkel Milton. Er marschierte herein, Schweißperlen auf seiner Glatze. Während er einen feuchten Streifen von seinem kaum sichtbaren Schnurrbart abwischte, sagte er: „Wie geht’s meiner Maureen? Mein Gott, was hast du denn zum Teufel angestellt? Bist du in eine Grube gefallen? Du hast ja dein hübsches Kleid völlig ruiniert. Sag es lieber deiner Mutter. Warte eine Minute. Du wirst groß, du bist fast so groß wie ich.“ Er streckte seinen Bauch raus. „Wo sind Mutti und Vati? Auf ihrer Bude?“

Sie schüttelte den Kopf und zeigte zum Wohnzimmer. Sie blieb im Vestibül stehen; sie wollte noch nicht ins Zimmer gehen. Und der Schlamm roch muffig.

„Maureen“, sagte ihre Mutter, „geh nach oben und bade dich! Danach kannst du deinen Pyjama anziehen und zu uns herunterkommen.“

Ja, Mutti, ich bin mit Fusseln übersät, in das Zimmer eingesperrt, mir ist es egal. Auf ins Badezimmer, pelle die Schlammhaut ab, noch kein BH, das rote Kleid im Eimer. Ein paar Fäden schlängelten sich unter der Tür hindurch und flogen ihr ins Haar.

Sie wusch sich schnell, schlüpfte in ihren Pyjama und ging auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer. Niemand hörte sie hereinkommen. Das Zimmer war grau geworden, aber es baute allmählich Kraft auf. Sie hauchte ihm Kraft ein. Sie konnte es fühlen, schmecken, hören.

„Wißt ihr“, sagte Onkel Milton, „ich weiß nicht, woran es liegt, aber in letzter Zeit fühle ich mich hier so häuslich.“

„Das kann man wohl sagen“, sagte ihre Mutter, deren Lächeln ihre schmalen Lippen zurückzog.

„Also manchmal dachte ich daran, euch diese Scheidungsunterlagen unterschreiben zu lassen.“

Alle lachten. Es brauchte nicht komisch zu sein: Es hörte sich gut an. Maureen saß mit lose herabfallendem Haar auf dem Teppich und genoß es, alles und alle zu genießen.

Von draußen sickerten Geräusche herein. Maureen hörte sie als erste. Ach Leggo, iß es doch. Es ist heute abend zu warm, aber es macht nichts – es tut gut. Ich weiß nicht, warum, aber ich hatte Lust vorbeizukommen. Bald wird es dunkel. Steck dieses schmutzige Taschentuch weg.

„Mutti, hörst du die Leute vor dem Haus? Sie sind auf dem Rasen. Es klingt komisch. Johnny Eatons Mutter ist draußen. Auch Johnny kommt.“

„Ich höre nichts“, sagte Onkel Milton und starrte den neuen Fangarm an, der dem Sternchen entsproß. Es bereitete sich auf einen weiteren Energieausbruch vor und suchte mit seinen Saugnäpfen einen Halt. Es gab ein Gurgeln von sich, schien aber von niemandem beachtet zu werden. Es zog sich zusammen, sonderte eine Schleimpfütze ab und strahlte in vollem Glanz. Die gelben Strahlen drangen durch die weichen Wände und überfluteten das Gras und die Leute draußen. Onkel Milton schenkte sich noch einen Drink ein und verschüttete dabei etwas, als ein dickes Dunstwölkchen ihm in die Kehle geriet.

„Vier weitere Leute, Mutti. Mr. Richardson und sein Sohn Wally und Mr. und Mrs. Allen aus der Snow Street. Erinnerst du dich an sie? Sie haben uns im letzten Sommer das ganze Gemüse geschenkt.“

Er wuchs, zog sich dann in sich zurück und bereitete einen neuen Angriff auf die freundlichen Straßen und Häuser vor.

Maureen schloß die Augen und malte Bilder. Sie konnte die Linien deutlich sehen, bis auf einen kleinen Fussel, wo sie sich nicht an die Farbe erinnern konnte. Johnny, krame in deiner Hosentasche, schließ die Finger, da sind auch Streichhölzer, kümmere dich nicht darum, wieso, laß uns dort unter den Baum gehen. Die Farben waren dunkler, als sie sie sich vorgestellt hatte. Es wurde spät.

„Das klang wie ein Knallfrosch, oder?“ sagte ihr Vater. „Wie ein ziemlich großer.“

„Es könnte auch eine Frühzündung gewesen sein“, sagte Onkel Milton. Er lehnte sich mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen auf dem Sofa zurück. Er atmete eine Flut der Liebe ein, sanfte Wölkchen, die das Sternchen ausschwitzte. Er kicherte zufrieden.

„Nein“, sagte ihre Mutter, die hinter den Vorhängen stand und durch die Jalousien in den Vorgarten schaute. „Das ist doch Johnny – wie heißt er doch gleich? Er spielt mit Knallfröschen. Und niemand nimmt Notiz davon.“

„Johnny Eaton“, sagte Maureen.

„Ja, Maureen hat recht; über zwanzig Leute sind auf unserem Rasen. Guck nur, Mr. Logos winkt mir zu: Es ist ein richtiges Picknick. Sie haben sogar Decken und Radios.“

Maureen beobachtete die glatten Fangarme, die dem Sternchen entsprossen. Lieber nicht warten, sondern es gleich tun. Bald wird es dazu zu spät sein. Wo ist die Trommel?

Das Zimmer wurde durch Liebe gelb, dicke, kräftige Strahlen, die zu schwer zum Schwimmen waren, wälzten sich über den Teppich. Und durch die Wände nach draußen. Onkel Milton war eingeschlafen. Er drehte sich herum und vergrub sein Gesicht im weichen Samt des Sofas.

„Komisch, daß wir im Wohnzimmer sind“, sagte ihr Vater. „Gewöhnlich ziehe ich unsere Bude vor.“

Sandra Harris setzte sich neben dem Stuhl ihres Mannes auf den Boden, legte ihren Kopf auf seine Knie und sagte: „Ich nehme an, es macht nichts, wenn sie auf dem Rasen bleiben. Ich bin zu faul, um mich darum zu kümmern, Frank, ich bin froh, daß alles geregelt ist. Besser als früher. Frank, siehst du etwas auf dem Teppich? Dort in der Mitte des Zimmers vor dem Kamin. Mein Gott, es ist eklig. Frank. Frank. Ich glaube, ich kann es riechen. Kannst du es riechen?“

Maureen musterte die Wand und starrte durch winzige Risse in andere Risse, die nach draußen führten. Schau nicht hin, sonst geschieht es. Hinter mir kann es nicht geschehen, ist es nicht da, kann ich es nicht sehen.

Es glich den Druck im Zimmer aus und überflutete Sandra Harris. Sie schmiegte den Kopf in den Schoß ihres Mannes und sagte: „Ich liebe dich.“

Er zuckte nicht mit der Wimper. Während er ihr Gesicht streichelte, sagte er: „Ich weiß. Und ich liebe dich auch.“ Er gähnte und schlief ein. Draußen war es dunkel. Ein paar Fackeln flatterten, und die Straßenlaternen leuchteten matt.

Onkel Milton übernachtete bei ihnen. Er schlief auf dem Sofa und umklammerte ein Kissen. Er sagte, er fühle sich so wohl, daß er noch einen Tag bleiben wolle. Und wieder eine Nacht. Bis daraus eine Woche wurde. Und die Menge im Vorgarten nahm so zu, daß sie auch den Hintergarten übersäte. Sie brachten Zelte, Campingkocher, Gitarren, einen grünen Gartenschlauch und immer mehr Verwandte und Bekannte mit. Sie pferchten sich so im Garten zusammen, bis jeder irgendeinen körperlichen Kontakt mit den anderen hatte. Niemand nahm daran Anstoß. Es tat gut. Es war rein. Es war Freundschaft und Liebe.

Maureens Mutter und Vater sprachen in stummem Einverständnis nicht über die Nachbarn, die plötzlich eingedrungen waren. Die Nachbarn preßten ihre Gesichter an die Fensterscheiben und lächelten. Onkel Milton brüllte sie gelegentlich gutgelaunt an.

Maureen gefiel das nicht. Sie kannte das Ende, war sich dessen freilich nicht bewußt.

Nicht bis zum nächsten Tag. Es war früh am Morgen; das Frühstück brutzelte in einer gefetteten Pfanne, der Sonnenschein strömte durch die Küchenfenster, und Maureen döste im Wohnzimmer. Onkel Milton war angewiesen worden, in ihrem Zimmer zu schlafen, und schnitt den Zugang zu den Zauberstöcken und der Trommel ab, die fast ausgewachsen war.

Ihre Mutter kam ins Wohnzimmer, während sie ihre rote Schürze ablegte. Das Sternchen wurde aktiv; es streckte seine Fangarme über den Teppich aus. „Komm, Liebling. Hilf Mutti beim Auftragen.“

„Muß das gleich sein?“ fragte sie. Laß sie es nicht anschauen. Ich will nicht, daß sie es sieht. Beschütze sie. Aber sie läuft herum und redet. Etwas brennt aus oder brennt ein. Nicht wirklich genug.

„Ist das ein Fleck dort auf dem Teppich? Was ist das?“

Maureen war im Zimmer eingesperrt. Das Sternchen warf Blasen auf, lächelte sie an, indem es seine Fangarme hob, warf einen Strahl in sie, einen Glasspeer, der sie mit ihm verband. Sie liebte nun ihre Mutter ganz eindeutig. All die zärtlichen Erinnerungen wurden wirklich; sie flossen durch den Strahl. Eine tröstliche Trommel dröhnte oben.

Ihre Mutter war schön. All ihre Altersfalten traten hervor, ihre Haare wurden grau.

„Es ist eklig.“ Ihre Mutter beobachtete es gebannt. „Ich glaube mich zu erinnern, daß ich es heute nacht gesehen habe. Wie einen Traum. Ich schlief neben deinem Vater ein. Ich kann nicht mehr denken.“ Sie wich zurück und schrie. Es ballte sich zusammen, quetschte die Hälfte seiner Substanz beiseite, stank, verfiel etwas und schoß ihr einen Strahl Liebe mitten ins Herz. Es schwoll an und hielt sie an Leber und Schlüsselbein fest.

„Mutti, faß es nicht an. Laß es in Ruhe.“ Sie änderte das Bild. Nichts geschah. Sie konnte sich nicht bewegen. Mutti ist schön, dachte sie. Hat langes schönes Haar. „Mutti, du bist schön. Ich habe genauso langes Haar wie du. Du bist hübscher. Vati liebt dein Haar. Ich weiß, daß er dein Haar liebt.“

Die Hand der Mutter versank in der porösen stinkenden Masse. Sie sah ihre Tochter an; ihr Gesicht war eine Landschaft aus Ekel und Angst. Sie lächelte ihr besonders liebevolles Lächeln und erbrach sich, als es seine Fangarme um ihren Arm schlang.

„Mutti, ich liebe dich“, rief Maureen. Sie fühlte sich so zufrieden, daß sie sich nicht von der Stelle rührte. Ihre Mutter lächelte ihr nochmals zu, überwältigt von Liebe und Innigkeit. Sie war schon halb in ihm: halb Mutter, halb Modder. Sie wurde eine entstellte griechische Sage und wand sich vor Liebe. Ihr Mund schnappte nach Luft, ihr Gesicht war eine Maske aus Furcht und Liebe. Maureen konnte nur zuschauen. Sie liebte ihre Mutter. „Du bist schön, Mutti.“

Es rülpste und machte sich auf dem Teppich breit. Sie konnte es nicht riechen.

Sie beendete das Bild. Ihr Vater kam nach unten, stolperte über einen Fangarm und winkte zum Abschied. Sie skizzierte es schnell. Das war einfacher. Sie könnte es später aus dem Gedächtnis rekonstruieren. Im Augenblick wollte sie nur die Liebe in voller Blüte festhalten.

Onkel Milton verabschiedete sich mit einem liebevollen Stirnrunzeln. Sie sagte ihm nicht auf Wiedersehn. Er war nie wirklich gewesen.

Das Sternchen war vollkommen, ausgewachsen, sorgsam gehegt von der Dienerschaft seines Selbst. Es spritzte Eiter in die Luft. Es war eine Cornflakespackungsonne, die Cornflakespackungliebe ausstrahlte.

Die Trommel war oben. Maureen rannte in ihr Zimmer, fand die Trommel auf ihrer Spielzeugtruhe und trug sie nach unten. Ehe sie das Wohnzimmer erreichte, verschwand die Trommel.

Es war schon spät. Sie mußte damit vorankommen. Sofort. Mutti zuliebe. Und Vati zuliebe. Und vielleicht auch Onkel Milton zuliebe.

Sie streckte die Handflächen aus und ging im Takt seines Pulsschlags auf das Sternchen zu. Sie steckte die Hände unter es und hob es in die Höhe. Es hing zwischen ihren Fingern.

Sie nahm es in sich auf; sie aß es, sie osmosierte es, sie transformierte es. Sie fühlte es in ihren Augen, eine Schwere, eine Weite, die alles umspannen, sich im Geiste vorstellen konnte – voller Liebe.

Träume den Traum, male das Bild. Es ist alles in der Conflakespackung enthalten, zum Verzehr bereit. Es läßt sich jetzt nichts mehr ändern. Die Trommel ist wieder verschwunden. Du hattest deine Chance.

Sie öffnete die Tür und blinzelte mit ihren ovalen Augen der Morgensonne zu.

Und alle waren da. Standen da. Lächelten. Lachten.