Eine stille Revolution für den Tod

 

 

 

Keine andere Epoche hat soviel Gewicht auf den Gedanken an Tod gelegt wie das zur Neige gehende Mittelalter.

J. HUIZINGA

 

 

Es ist ein herrlicher Tag für einen Ausflug und ein Picknick. Nichts deutet am wolkenlosblauen Himmel auf Regen hin, und der Superhighway schlängelt sich wie ein Betonkanal dahin. Die Wagen bewegen sich im Zeitlupentempo wie Gondeln durch Gottes Zauberstadt.

„Was für ein Tag“, sagt Roger, während er sich in seinen Polstersitz zurücklehnt. Obwohl es sich um einen Automatic-Wagen handelt, hält er den Schalthebel lässig zwischen Daumen und Zeigefinger. Sein grüner Chevrolet saust an Alleen vorbei und beschleunigt sein Tempo auf zweihundert Stundenkilometer. „Das war Gottes Absicht, als er den Sonntag schuf“, sagt Roger, während er den Schalthebel losläßt, um seine Arme stilisiert zu schwenken. Er träumt, daß er ein Engel Gottes ist, der einen augenlosen Blinden durch Sein Reich führt.

Die Kinder sitzen auf dem Hintersitz, wo sie sich raufen und kreischen und mit ihrer Schminke herumpantschen können, bis Sandra frustriert genug wird, um ihnen ein Schlaf-Leicht zu geben und die Fahrt abzukürzen. Aber die Monotonie der schönen Landschaft und die an Gummi und Glas vorbeizischende Luft müssen Sandra eingelullt haben. Sie sitzt neben Roger. Ihr Kopf wackelt, schönes blondes Haar verhüllt ihr schönes Gesicht.

„Ich übe, ein Engel zu sein“, ruft Bennie, Rogers Ältester und Lieblingssohn. Die anderen Kinder kichern und machen psst.

Roger dreht sich um und sieht, daß sein Sohn das Gesicht bemalt und mit Asche beschmiert hat. Er hat gute Arbeit geleistet, denkt Roger. Blaue und graue Schminkringe umranden Bennies große braune Augen. „Wirklich nicht übel“, sagt Roger. „Dein Gesicht ist sogar noch eindrucksvoller als dein Kostüm.“

„Wenn ich wollte, könnte ich es besser machen“, sagt Rosemarie, die sieben ist und eine Imitationskrinoline mit Stoffrosen auf dem Mieder anhat.

Aber Bennie ist unbeirrt. Er strahlt seinen Vater an und sagt: „Du hast gesagt, daß jeder, sogar Kinder, seine eigene Ansicht vom Tod haben muß. Also, meine Ansicht ist genau wie deine.“ Bennie ist zwölf. Er ist der kleine Mann der Familie und wird nächstes Jahr, mit Gottes Hilfe, Bar-Mizwa sein, denn Sandra ist halbjüdisch und glaubt, daß Kinder noch mehr Zeremonien nötig haben als Erwachsene.

Rosemarie plustert sich auf und sagt immer wieder: „Ha!“ Samson und Lilly, fünf-, beziehungsweise sechsjährig, spielen still miteinander „Faß an“. Aber Samson – der das Ebenbild seines Vaters werden wird, das gleiche gespaltene Kinn, die gleiche Nase – ist nackt und bibbert. Roger erhöht die Temperatur im Wagen auf gut zwanzig Grad und wendet sich dann wieder Bennie zu.

„Woher weißt du, was meine Ansicht ist?“ fragt Roger und versucht eine bequeme Haltung zu finden. Seine Backe berührt die Kopfstütze, und sein Knie berührt Sandras stoppeliges Bein. Sandra rückt näher zur Tür.

„Du bist versessen auf Guyot Marchant und Holbein“, sagt Bennie. „Ich habe deine Ausleihbibliotheksliste gelesen. Glaubst du etwa, daß ich intellektuell nicht mit den gemalten Totentänzen vertraut bin? Na, ich kenne die Gedichte von Jean Le Fevre, und ich habe die Dias von den Fresken in der Kirche von La Chaise-Dieu gesehen. Ich habe Gedeon Huet auf der Liste entdeckt, und ich habe mir sogar deine Bücher angeschaut – ich lese gerade den Totentanz und bin fast damit fertig.“

„Du mußt mich um Erlaubnis fragen“, sagt Roger, aber er ist stolz auf seinen Sohn. Er ist bestimmt der kleine Mann der Familie, sagt Roger zu sich. Die anderen Kinder wollen nur meckern und plärren und essen und „Faß an“ spielen.

Sandra wacht auf, streicht sich das Haar aus dem Gesicht und fragt: „Wie lange noch?“ Ihr Hals und ihr Gesicht sind verschwitzt. Sie schaltet die Temperatur herunter, wobei sie erstickte Laute von sich gibt und behauptet, daß diese Fahrt zu lang sei und daß sie Hunger habe.

„Ich habe auch Hunger“, sagt Rosemarie. „Und hier drinnen ist es heiß, und alles klebt.“

„Wir werden bald da sein“, sagt Roger zu seiner Familie, während er durch die große Windschutzscheibe den dampfenden Highway vor sich betrachtet. Die Luft scheint durch die Abgase der anderen Wagen zu flimmern, und Gott hat kleine Luftspiegelungen blauen Wassers geschaffen.

„Seht euch die Luftspiegelungen auf dem Highway an“, sagt Roger zu seiner Familie. Was für ein Tag, am Leben zu sein! Was für ein Tag, mit seiner Familie zusammenzusein! Er beobachtet, wie ein roter Flitzer unversehrt mitten durch eine blaue Luftspiegelung saust. „Was für ein Tag“, ruft er aus. Er grinst und kneift Sandra ins Knie.

Aber Sandra gibt seiner Hand einen Klaps, als habe sie eine Mücke belästigt.

Trotzdem, es ist ein herrlicher Tag.

 

 

„So, da wären wir“, sagt ein aufgeregter Roger, sobald die Lampen am Armaturbrett aufleuchten und anzeigen, daß jetzt jeder aussteigen kann.

Was für eine Aussicht! Der Wagen parkt in der sechzehnten Reihe eines großen Parkplatzes, der den großartigsten Friedhof im Osten überblickt. Von dieser günstigen Stelle aus (sie ist bestimmt vierzig Dollar Parkgebühren wert) kann Roger den herrlichen Chastellain Cemetery und seine Umgebung sehen. Dort im Norden sind gewellte Hügel und ein grüner Streifen, der ein Pinienwald sein muß. Im Westen sind hohe Berge, die Gottes Hand abgeflacht hat. Die Welt ist eine Pastellpalette: Es ist die erste Herbstfärbung.

Der Friedhof ist ein Fest lebhaften Treibens. Roger stellt sich vor, in der Zeit zum Paris des 15. Jahrhunderts zurückgeschlüpft zu sein. Er ist der edle Bouciquaut und der Herzog von Berry in einem. Er schaut auf das gewöhnliche Volk herab, das durch den Kreuzgang schlendert. Die Bauern lungern zwischen den Begräbnissen und Wiederausgrabungen herum und schnuppern den Gestank des Todes.

„Ich habe Hunger“, quengelt Rosemarie, „und es ist hier oben so windig.“

„Wir sind wegen der Aussicht heraufgekommen“, sagt Roger. „Also genießt sie.“

„Laßt uns essen und den Tag hinter uns bringen“, sagt Sandra.

„Mami lebt in ihrem linken Gehirn, nicht wahr, Papi?“ sagt Bennie. „Sie leidet unter der Gleichschaltung und Gehirnwäsche von früher.“

„So solltest du nicht von deiner Mutter sprechen“, sagt Roger, während er den Kofferraum aufmacht und jedem einen Picknickkorb reicht.

„Aber »Mutter« ist altmodisch“, sagt Bennie, während sie zu den Aufzügen gehen. „Sie glaubt, daß jeder sich der Gesellschaft anpassen muß, um die Welt zu bändigen. Aber sie fühlt sich nur Erscheinungsformen verpflichtet und kümmert sich nicht um die Substanz.“

„Hältst du deinen Vater für modern?“ sagt Sandra zu Bennie, der wie ein braver Sohn hinter ihr hergeht.

„Du bist eine Antiquität“, sagt Bennie. „Du verstehst das richtige Verstandesleben nicht. Du akzeptierst den Tod nicht als Verbündeten.“

„Was habe ich dann hier zu suchen?“

„Du bist Papi zuliebe hierhergekommen. Du haßt Friedhöfe.“

„Überhaupt nicht.“

Aber die Diskussion verstummt, sobald sich die silbrigen Aufzugtüren öffnen, um sie alle vom linkshirnigen Denken abzubringen.

„Laßt uns einen Rundgang durch den Friedhof machen“, sagt Roger beim Vorbeigehen unter der Flagge und den Insignien des Friedhofs. Roger zahlt beim Pförtner, der auf den Ärmeln und Epauletten seiner dunkelblauen Uniform die „Farben“ des Friedhofs trägt.

„Es macht dreiundfünfzig Dollar“, sagt der Pförtner. Er zeigt auf Bennie und sagt: „Ich muß ihn als Erwachsenen zählen, das ist Vorschrift.“

Roger zahlt heiter und führt seine laute Familie durch das offene schmiedeeiserne Tor. Vor ihm liegt der Chastellain Cemetery, das „einzig Wirkliche“, sagt er sich – da ist er, voller Treiben und Leben. Nachbar neben Nachbar, jeder ißt, trinkt, liebt, verkauft, kauft, und manche sterben sogar. Es ist eine von der Welt abgeschnittene Welt.

„Das ist die berühmte Avenue d’Auvergne“, sagt Roger, denn er hat Hodels Führer durch alte und moderne Friedhöfe gründlich studiert.

„Hier gibt es die besten Restaurants von allen Friedhöfen“, sagt er, während sie unter einer hellen Restaurantmarkise dahingehen.

„Da möchte ich hinein“, sagt Rosemarie, nachdem sie eine Speisekarte von einem Portier entgegengenommen und sie sich unter die Nase gehalten hat. „Ich kann fritierte Auberginen und gebratenes Spanferkel und Paupiette de Veau riechen, und ich habe Mamis Kocherei satt. Da möchte ich hinein.“

Der Portier grinst (wahrscheinlich denkt er an seine Kommission) und reicht Roger die Speisekarte.

„Wir haben selbst ein köstliches Picknick bei uns“, sagt Roger, und er ruft sich in Erinnerung, daß er die französische Küche sowieso satt hat.

Sie schlendern nordwärts über die schöne Avenue d’Auvergne, die von alten Bergrüstern beschattet wird, und die Restaurants weichen kleinen Läden. Noch nördlicher wird die Avenue eine dreckige Kopfsteinstraße voller Bettler und Hökerer, die Holzkarren vor sich herschieben.

„Hier gefällt es mir nicht“, sagt Rosemarie, während sie die hinter einem schmutzigen Schaufenster ausgestellten Jettura-Amulette und Natur Steinaschenbecher betrachtet.

„Man kann in diesen kleinen Läden allerlei okkulte Gegenstände finden“, sagt Roger. „Dieser Friedhof ist ein Heiligtum der Schwarzen Magie. Einige der besten Astrologen und Medien sind hier tätig.“ Roger bleibt vor einem Laden stehen, der auf Kerzen und Öle und Weihrauch aus wohlriechenden Holzarten und Kräutern spezialisiert ist. „Was für ein herrlicher Ort“, sagt Roger, während er Sandras Hand in seine nimmt. „Vielleicht sollten wir eine Kleinigkeit für die Kinder kaufen.“

Ein buckliger Bettler zupft Roger am Ärmel und sagt: „Ein Almosen für die Armen“, aber Roger überhört seine Bitte.

„Die Kinder werden unruhig“, sagt Sandra, deren Hand schlaff in der Rogers ruht. „Laß uns eine hübsche Stelle finden, wo sie spielen und wir picknicken können.“

„Da ist eine hübsche Stelle“, sagt Bennie, während er einem kleinen Mädchen zuzwinkert, das in einem Durchgang steht.

„Hello, großer Kerl“, sagt das Mädchen, das höchstens zwölf oder dreizehn sein kann. „Fünfzig Dollar bringen ein bißchen Leben in deinen Körper.“ Sie wackelt zünftig mit den Hüften, lehnt sich an ein Schaufenster und rümpft die Nase. „Na?“ Sie wendet sich an Roger und fragt: „Möchte Papi seinem Sohn nicht ein bißchen Leben spendieren?“ Dann lächelt sie wie ein Engel.

Roger lächelt Bennie zu, der einem der Totentänzer auf den Wandmalereien der Church of the Children gleicht.

„Papi, bitte mach schon“, drängelt Bennie.

„Schlag dir das aus dem Sinn“, sagt Sandra zu Roger. „Wir haben die Kinder hierhergebracht, um sie mit dem Tod vertraut zu machen und nicht mit Sex.“

„Das stinkt nach linkshirnigem Denken“, sagt das kleine Mädchen, wobei es mit dem Finger auf Sandra zeigt. „Der Tod ist ein Orgasmus und kein Artefakt.“

„Da hat sie recht“, sagt Roger zu Sandra. Nur die Jugend kann ohne Trug leben, denkt er. Sich den Tod einfach als Rückkehr zu dem Fluß der Natur vorstellend, gibt er Bennie einen neuen Fünfzig-Dollar-Schein.

„Vielen Dank, Papi“, und Bennie ist Hand in Hand mit seiner Fünf-Minuten-Freundin auf und davon. Sie verschwinden in einem dunklen Durchgang, der zwei lange baufällige Gebäude voneinander trennt.

„Wir sollten ihn nicht allein lassen“, sagt Sandra. „Wer weiß, was für Leute in diesem Durchgang herumstrolchen?“

„Sollen wir hingehen und zugucken?“ fragt Roger.

„Es ist Liebe und Tod“, sagt Rosemarie, während sie ihr Kleid zurechtzupft und den dünnen Stoff in Falten legt:

„Dahin möchte ich“, sagt Samson und zeigt auf ein sich in der Ferne drehendes Riesenrad.

Roger seufzt, während er über den herrlichen Grabsteingarten des Friedhofs schaut. „Ja“, flüstert er und träumt dabei von Gott und Engeln. „Es ist Liebe und Tod.“

 

 

Sandra bereitet das Picknick auf einem abgelegenen Hügel vor, der Aussicht auf weite Rasenflächen, Beinhäuser, Grabmäler mit Giebeln aus Elfenbein und sogar Reihen von seifenweißen Statuen bietet. Prozessionen von Trauernden schlängeln sich durch ein modernes Eden.

Priester laufen herum, trösten die Hinterbliebenen, nehmen Häppchen von den Leichenschmäusen, küssen Säuglinge, berühren die kalten Stirnen der Toten und erzählen den Besuchern, die nur zu einem Ausflugspicknick hergekommen sind, schlüpfrige Witze.

„So, das wär’s“, sagt Sandra, während sie die Alufolie von einem Essensbehälter zieht und auf den aufsteigenden Dampf wartet. „Die Suppe ist fertig. Eßt sie, solange sie warm ist.“ Sie öffnet Behälter nach Behälter. Es beginnt ein Ansturm auf Plastikteller und -bestecke, und die Kinder kippeln sich und füllen sich die verschiedenen Leckerbissen auf. Dann tritt, abgesehen vom Schmatzen, einige Augenblicke Stille ein: Ein Begräbnis findet in der Nähe statt, und jeder ist ergriffen.

„Es ist ein kleiner Sarg“, sagt Roger nach einer angemessenen Weile. Er beobachtet zwei rot gekleidete junge Männer, die den Sarg auf das Gras neben der Grube stellen. „Es muß ein Kind sein“, sagt Roger. Ein Mann und eine Frau mittleren Alters beugen sich über den winzigen Sarg; der Mann wiegt sich hin und her und zerreißt sich die Kleidung, während die Frau schluchzt.

„Da seht ihr es“, sagt Bennie, nachdem er seinen Teller saubergewischt hat. „Solches Gejammer und Kleiderzerreißen ist für die alten linkshirnig Denkenden. Mir wäre es wurst, auf der Stelle zu sterben. Der Tod ist für Alte vergeudet. Seht euch nur Mami an, sie wird immer noch von albernen Träumen von der Unsterblichkeit heimgesucht. Alte Leute sind zu pervers, um sich freudig der Natur zurückzugeben.“ Bennie steht auf und sieht in seinem Totenkostüm dämonisch und schmutzig aus.

„Und wo gehst du hin?“ fragt Sandra.

„Ich gehe zu dem frischen Grab, um darauf zu tanzen.“

„Laß ihn gehen“, sagt Roger. „Es ziemt sich, große Traditionen fortzusetzen.“

 

 

Die Sonne schleppt sich drei Uhr entgegen. Am Himmel sind keine Wolken, nur die sich überschneidenden Spuren der Düsenflugzeuge. Ein paar Vögel flattern wie kleine blaue Enten über sie hinweg. Roger sitzt neben seiner lieblichen Sandra, und sie schauen Bennie zu, der stilgerecht mit den zwei rot gekleideten jungen Trauernden tanzt.

Roger ist stolz, und seine Augen sind feucht. Bennie hat allen die Schau gestohlen. Er hat sogar die Aufmerksamkeit von einer kleinen Gruppe Passanten auf sich gelenkt.

Das ist ein Anblick, der Jean Le Fevre dazu gebracht hätte, sich umzudrehen, sagt Roger zu sich, während er Bennie einen perfekten Dance macabre vorführen sieht. Die Trauernden klatschen schon. Bennie hat ihre Herzen gewonnen. Er hat seinen Zuschauern eine vollkommene Vision des Todes gezeigt.

„Winkt Benjamin zu“, sagt Roger zu seiner Familie. „Seht doch, er winkt uns zu.“ Roger bildet sich ein, daß er die Geräusche einer fernen Maschinerie hören kann. Er träumt, daß Gott Engel geschickt hat, um die Maschinerie Seines Friedhofs zu bedienen.

Und beim Verrinnen jedes himmlischen Augenblicks wird das Geräusch der Maschinerie Gottes lauter.

 

 

Aber es stellt sich heraus, daß Gottes Maschinerie nur Kinder sind, Hunderte von lärmenden Jungen und Mädchen, die zu den Sonntagsprozessionen gekommen sind. Sie sind hier, um Unschuldige und Gammler und Nutten zu verbrennen oder zu beerdigen, um das richtige Denken und die richtige Körperkenntnis zu lernen und an den Genüssen und erlesenen Agonien der Todesgemeinde teilzunehmen. Die Kinder scheinen überall zu sein. Sie verwandeln den Friedhof in einen Spielplatz.

Während Roger den Kindern zuschaut, die Begrab-mich-nicht oder Versteck zwischen den Grabsteinzähnen des Friedhofs spielen, denkt er, daß sein Sohn Bennie sicher unter ihnen sein muß. Bennie könnte überall sein: auf einem Rundgang durch das Ossarium, beim Anzünden von Feuern auf dem Rasen, beim Vögeln kleiner Mädchen oder beim Tanz für ein weiteres Festmahl.

„Erst einmal hätten wir Bennie nicht erlauben dürfen fortzugehen“, sagt Sandra zu Roger. „Er ist sicher in Schwierigkeiten geraten.“ Sie macht eine Pause und sagt dann: „Also ich werde ihn suchen.“ Nach einer weiteren Pause: „Was wirst du tun?“

„Jemand muß bei den Kindern bleiben“, sagt Roger. „Ich bin sicher, daß es Bennie gutgeht. Er wird sicher gleich zurückkommen.“

Sandra rennt natürlich beleidigt davon. Das ist zu erwarten gewesen, sagt sich Roger. Bennie hatte recht: Sie ist pervers. Nach etlichen tiefen Atemzügen vergißt Roger sie. Er streckt sich in dem kühlen Gras aus, blickt zu den alten Ahornbäumen empor, die in den Rotkehlchenhimmel zu ragen scheinen, und er spürt den Anflug von Gottes Gedanken. Er gähnt. Dieser Überfluß an Essen, frischer Luft und Eingebung haben ihn geschlaucht. Er hört den Kindern zu und träumt von Traktoren.

Eine Salve widerhallt durch den Friedhof.

„Papi, was ist das für ein Geräusch?“ fragt Rosemarie.

„Die Kinder schießen wahrscheinlich mit Gewehren“, sagt Roger. Er öffnet die Augen und schließt sie dann wieder.

„Warum schießen sie mit Gewehren?“

„Um allen zu zeigen, daß der Tod ein freudiges Ereignis ist“, sagt Roger. Aber er schafft es nicht ganz, aus seiner Schlaf quelle aufzutauchen. Er sinkt in die Thermogefälle des Schlafes zurück und träumt von Traktoren, die über Grabsteine und Kinder und Bäume rollen.

 

 

„Wann kommt Mami zurück?“ fragt Rosemarie.

„Wenn sie Bennie gefunden hat“, sagt Roger und knöpft seinen Hemdkragen zu. Die Luft ist etwas kühl.

„Wann ist das?“

„Ich weiß nicht“, sagt Roger. „Hoffentlich bald.“ Er betrachtet die Abendröte. Die westlichen Berge sind rosa, und Roger stellt sich Regenbogen vor, die in einen flüssigen blauen Himmel sickern.

Eine weitere Salve widerhallt durch den Friedhof.

„Vielleicht wurde Mami erschossen“, sagt Rosemarie leise.

„Vielleicht“, erwidert Roger.

„Vielleicht ist sie tot“, sagt Rosemarie, während sie ihr Kleid glättet und dann fältelt.

„Ist das so schlimm?“ fragt Roger. „Du mußt lernen, den Tod als einen Verbündeten zu betrachten. Wenn Mami nicht zurückkommt, wird es dir eine Lehre sein.“

„Ich möchte mit dem Riesenrad fahren“, sagt Samson. „Du hast es mir versprochen.“

„Wenn Mami nicht bald zurückkommt, machen wir eine Fahrt“, sagt Roger, während er den Friedhof bewundert. Sogar in der Abenddämmerung, in diesem Zwielicht, ist der Chastellain Cemetery noch schön, sagt er sich. Er ist eine stolze alte Jungfer, aber bald wird er zu einer Mitternachtshure. Er wird zum Karneval. Er wird aus Riesenrädern und Fahrten und Lichtern und Fackelprozessionen bestehen.

Sich ins Gras zurücklehnend, sucht Roger nach den ersten Abendsternen. Da erblickt er zwei genau über sich. Sie blinzeln wie Sandras Augen. Er äußert einen Wunsch und bildet sich ein, daß Sandra ihn aus diesen kalten, lieblichen Augen anstarrt.

Im Abenddunst drunten fängt die Fackelprozession an.