Nächtliche Visionen

 

 

 

Martin tritt auf das Gaspedal seines zitronengelben Coupes und ist bereit zu sterben. Es wird ein mannhafter Tod sein, denkt er, obwohl ihn die Vorstellung, daß sein schöner Wagen als Wrack im Straßengraben liegen wird, ein wenig betrübt. Er schaut auf das horizontale Anzeigeband, das sich über das Armaturenbrett erstreckt: Die Tachometernadel bleibt ordentlich zwischen der Neun und der Null stehen.

Er hat eine köstliche Vorahnung, während er durch die Dunkelheit und den niedrigen Bergnebel flitzt. Seine Scheinwerfer färben die Bäume unnatürlich grün; der Mond ändert seine Form durch die vorbeiziehenden Wolken.

Als die Tachometernadel die Hundert erreicht, schließt Martin die Augen und reißt das Steuer nach links. Er malt sich aus, wie sein Wagen den Highway diagonal überquert, dann den Randstreifen, wobei er ein paar Leitplanken mitnimmt, und in die gespenstischen Arme des Nebels stürzt. Er rafft sich nicht für den bevorstehenden Aufprall zusammen. Entspannt wartet er darauf, daß der Wagen von der Straße abkommt und die Ereignisse in seinem Leben vor ihm abspulen wie ein Nachrichtenfilm. Sicher wird die Zeit sich wie eine Blase voller Einsichten und tiefer Verzweiflung aufblähen, die die letzten Augenblicke des Bewußtseins begleiten müssen.

Martin beschließt, die Augen geschlossen zu halten; er will seinem Schicksal begegnen. Aber der Wagen bleibt auf dem Highway, als wäre er wie ein Trolleybus mit einer Oberleitung verbunden. Die Speichenräder platschen, als sie in die regelmäßigen Fugen der Straßenbetonierung geraten. Seltsam, warum ist er noch nicht aufgeprallt und tot? Martin träumt von zersplitterten Knochen, zerfetztem Fleisch, dem wahren kosmischen Orgasmus.

Gerade als das linke Vorder- und Hinterrad endlich von der Fahrbahn schlittern, ertönt eine Sirene. Überrascht öffnet Martin die Augen, um festzustellen, daß der Wagen, wie durch ein verhextes Gyroskop, wieder auf dem Highway gelandet ist.

Die Polizeistreife überholt ihn, und Martin steuert auf ein beleuchtetes Stechpalmengebüsch zu, um seinen Strafzettel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung wie einen Ablaß entgegenzunehmen.

 

 

Es ist unfair, daß ich mich selbst umbringen sollte, denkt Martin, während sein Wagen wie ein großes Kriegsschiff auf einem verlassenen Meer in den Nebel und wieder daraus hervortaucht. Vor sich kann er die grauen Lichter einer mittelgroßen Stadt sehen, die zwischen schwarze Hügel gebettet ist. Er grübelt in der Dunkelheit; bald wird der Highway zur Hochstraße werden und beleuchtet sein.

Martin bedauert sein Leben. Was hat er außer hundertachtunddreißig Schundromanen, zwei Kindern und einer Frau, die er nicht liebt, vorzuweisen? Er hält sich immer noch für unberührt, denn er hat, außer mit seiner Frau, noch nie Geschlechtsverkehr gehabt. Mit neununddreißig ist er noch immer sexbesessen. Er hat fünfunddreißig pornographische Romane geschrieben, aber noch nie mit einer anderen Frau geschlafen. Er hält sich selbst für eine Schreibmaschine, und Maschinen haben nun einmal keine eigene Erfahrung. Sie haben keinen freien Willen, sie lieben nicht und gehen nicht fremd. Sie funktionieren einfach, bis sie ausrangiert werden oder kaputtgehen.

Er drosselt das Tempo hinter einem kleinen ausländischen Wagen. Der Highway ist plötzlich sehr befahren, und Martin empfindet eine vertraute Klaustrophobie: Er erinnert sich an den Long Island Express way bei Spitzen verkehr, an das hypnotische Siebzig-Stundenmeilen-Ritual des Schlangefahrens, an die meilenlangen Stoßdämpfer-an-Stoßdämpfer-Staus.

Hier kann kein Zusammenstoß stattfinden, denn er möchte den Tod anderer nicht auf dem Gewissen haben.

Er überholt ein altmodisches Kabriolett. Ein junger Mann sitzt am Steuer und hat den Arm um ein hübsches Mädchen gelegt. Das wäre der richtige Wagen zum Selbstmord, denkt Martin – der Wind bläst einem in die Ohren, trocknet einem die Augen, und kein festes Dach schützt einem den Schädel beim Aufprall.

Betrübt bei dem Gedanken, daß Kabrioletts nicht mehr hergestellt werden, fährt er vorsichtig weiter. Sicherheitspfähle flitzen an ihm wie Zähne irgendeiner Höllenmaschine vorbei; eine falsche Drehung, ein leichter Ruck am Steuer – und der Wagen zu Schrott zertrümmert. Aber er folgt, anderen gegenüber immer rücksichtsvoll, der Fahrbahn. Er kommt an einer Reihe von Abfahrten zur Innenstadt vorbei, erblickt die Blinklichter eines Flugzeugs, das von Osten kommt, und dann die Stadt und dahinter den trüben Glanz der Zivilisation. Vor ihm dringt eine Abzweigung des grauen Highway in die Berge ein, durch eine niedrige Mauer aus Nachtnebel und dicke Wolken, die unter einem zornig-roten Mond hängen.

Jetzt, denkt Martin, wird er in die Dunkelheit schlüpfen, die den Aufprall von Fleisch und Metall aufsaugen wird; und er wird einfach davonschweben wie ein Geist im Morgennebel.

Der Highway wird die nächsten paar Meilen zweispurig und folgt den Konturen der Landschaft. Martins Kehle schnürt sich in freudiger Erwartung zusammen, während er die Augen schließt und das Gaspedal ganz herunterdrückt.

Er träumt von Flucht und Erschütterung; er träumt, daß die Zeit aus Gummi ist und er sie zerreißt. Während er darauf wartet, daß seine Vergangenheit sich entfaltet, wiederholt er ein Mantra, das seine ältere Tochter ihm beigebracht hat.

Er versucht, sich seine Frau, vorzustellen, Jennifer. Obwohl er sie intim kennt und bis ins letzte Detail beschreiben kann, vermag er sie nicht mehr zu sehen. Er erinnert sich nun an sie als Gleichung, als gelegentlich durch griechische Buchstaben ergänzte Zahlen, um den geheimen Teil ihrer Psyche zu bezeichnen.

Sie ruft wahrscheinlich die Polizei an und die Nachbarn und macht viel Aufhebens und weckt die Kinder.

Er strafft ein anderes Band der Zeit und träumt von seinem Begräbnis. Seine engsten Freunde werden am Grab stehen und ein paar Erdklumpen in die Grube werfen; seine Kinder werden laut weinen, während Jennifer gelassen zuschaut. Alles in allem eine schöne Verzweiflung, ein angemessenes Ende.

Martin fragt sich, wie lange er wohl in seine Tagträumereien versunken gewesen ist. Wahrscheinlich nur einen Augenblick, denkt er. Er erinnert sich an seine Kindheit. Er reißt das Steuer wuchtig herum, um seines Todes sicher zu sein.

Er schreit in Vorahnung des zerschmetternden Schmerzes und der darauf folgenden Betäubung.

Aber nichts geschieht.

Er wartet einige Pulsschläge lang, dann öffnet er die Augen, um festzustellen, daß er in einer Kleeblattkreuzung gelandet ist. Unabsichtlich ist er in eine Ausfahrt geraten und saust jetzt zum Highway zurück, um die umgekehrte Richtung einzuschlagen.

„Verdammt noch mal, Jennifer, ich komme nicht zurück…“

 

 

Es bleibt ihm nur noch sehr wenig Zeit; der Himmel wird schon schmuddelig. Die Morgendämmerung ist nicht mehr fern, und der Gedanke, in den blutigen Sonnenaufgang zu rasen, entgeht ihm nicht.

Es muß geschehen, solange es noch dunkel ist, denkt er; der Sonnenschein würde ihn vor aller Welt bloßstellen.

Fahle Palisaden erheben sich zu beiden Seiten des Highway wie Treppenruinen. Aber diesmal schließt Martin nicht die Augen. Er hat keine Zeit zum Träumen.

Er reißt das Steuer scharf herum und ist wieder zu einer grellen Explosion des Todes bereit.

Aber der Wagen rollt glatt weiter, als hätte Martin das Steuer nie herumgerissen. Der Wagen folgt einer leichten Straßenkurve. Martin ist nur noch ein Passagier.

„Nein!“ schreit er, während er nochmals das Steuer herumreißt. Der Wagen reagiert nicht. Martin tritt auf die Bremse, aber der Wagen behält seine Geschwindigkeit bei. Obwohl Martin brüllt – lange schrille Schreie –, hört er nur das Motorengeräusch. Vollständige Zahlenreihen gehen ihm durch den Sinn: all die Daten über das Coupe, die er sich seinerzeit eingeprägt hatte.

Eine halbe Meile vor der nächsten Ausfahrt verlangsamt der Wagen sein Tempo, biegt nach rechts ab und folgt der Ausfahrtsstraße mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung von dreißig Stundenmeilen. Er fährt auf das erst blutige, dann buttergelbe Schmelzen jenseits der grauen Hügel zu.

Sein Zuhause ist nur noch ungefähr zwanzig Meilen entfernt.

Martin spürt, wie er bergabwärts rollt. Er kann sich kaum bewegen, denn er ist genauso schwer wie sein Wagen. Seine Hände ruhen auf dem Steuer, als hätte er es im Griff. Die Klimaanlage bläst ständig einen kalten Luftzug in sein Gesicht. Zahlen gehen ihm durch den Sinn.

Es wird ein trüber Tag. Lange graue Wolken treiben am Himmel, und Martin träumt, daß der Himmel aus Metall ist. Er träumt, daß die Welt aus Metall ist, daß er aus Metall ist.

Mit einer letzten Kraft-, Hoffnungs- und Willensanstrengung befiehlt Martin seinem Fuß, das Gaspedal ganz herunterzudrücken. Noch einmal träumt er von dem herrlichen Aufprall seines Körpers und dem herausspritzenden Hirn.

Aber das Coupe behält seine Geschwindigkeit bei.

Martin ist beinahe zu Hause.