Das Zeit-Tippen

 

 

 

Seit dem Zeit-Tippen verlief alles anders. Nichts war sicher, alles konnte sich ändern (was vom Standpunkt abhing), und fast alles konnte passieren, besonders mit vergeßlichen alten Männern, die sich Öfter im falschen Jahrhundert als in der falschen Straße wiederfanden.

Nehmen Sie Moishe Hodel, der zu alt und zu dick war, um auf Leitern zu steigen; trotzdem bestand er darauf, auf das Dach seines Vorstadthauses zu klettern, um auf der Spitze einer Tuffsteinkirche in Goreme vor sechshundert Jahren zu sitzen. Statt zu beten, saß er einfach da und beobachtete die Mönche. Er behauptete, daß er, da Zeit und Raum meschugge, also verrückt seien, nach einem schnellen und göttlichen Weg zur Synagoge suchen wolle. Laßt die Gojim den Zug nehmen.

Natürlich wußte Paley Litwak, der alt genug war, um etwas zu wissen, nichts mehr, als die Welt sich änderte und alles drunter und drüber ging. Seine Frau verschwand, und eine neue kam an ihrer Stelle zurück. Eine neue Golde, eine mit weniger Falten und Runzeln, eine mit vollem weißem Haar und Zahnlücken.

Bei ihrer Ankunft sagte sie nur: „Es stimmt fast. Du bist der alte geblieben, Paley. Gehst du immer noch zur Schul?“

„Zur Schul?“ fragte Litwak, fest entschlossen, nicht aufzuspringen und loszubrüllen und Gott um Hilfe anzuflehen. Trotz all der Veränderungen wollte Litwak standhaft bleiben und auf Gott warten. „Was für eine Schul?“

„Willst du damit sagen, daß du es nicht aus der Schul weißt, dabei trägst du so eine Jarmulke auf dem Kopf?“ Sie zog ihre Babuschka durch die Finger. „Eine Schul. Eine Synagoge, ein Tempel. Betest du?“

Litwak war kein heiliger Mann, aber er konnte den Kopf erheben und furchtlos Gott anblinzeln. Gewiß betete er. Und in den nächsten Wochen saß Litwak öfter in der Schul als nicht – also hatte Golde Einfluß auf ihn; schließlich war sie seine Frau. Was gab es denn sonst? Mit Gott führte er ein Einbahngespräch – von Litwaks Mund zu Gottes Ohr –, aber zu Hause verhielt es sich umgekehrt. Dort hatte Litwak keinen Mund, sondern nur Ohren. Wie kann man mit einer Frau sprechen, die Unzucht mit anderen Männern für heilig hält?

Aber Litwak war ein Überlebenskünstler; während die übrige Welt überschnappte und Purzelbäume schlug, blieb er der gleiche. Nicht einmal reiste er in eine andere Zeit, nicht eine Stunde verlor oder gewann er; und die einzigen Orte, die er aufsuchte, waren die, die er zu Fuß erreichen konnte. Er war eine Ausnahme auf die Regel. Die übrige Welt ließ sich treiben; alle schwammen vorbei und tauchten von der Vergangenheit oder Zukunft in die Gegenwart hier oder wer weiß wo sonst.

Es war eine neue Welt. Handel füllte jede Straße, Karneval jede Nacht. Die Tage bauten sich aus fremden Gesichtern auf, und die Nächte vergingen so schnell, daß Litwak in der Synagoge blieb, um die Zeit zu glätten. Aber für Litwak gab es keine Zeit, nur Gottesdienste und Gebete und heilige Gerüche.

Aber die Welt ging weiter. Das Geschäft verlief fast wie üblich. Es gab immer noch Rabbis und Chassidim und Krämer und Kabbalisten; der dicke Hoffa, ein Gemeindemitglied mit einem Bart, um den ihn ein Baalschem beneidet hätte, behauptete sogar, er kenne einen Kabbalisten, der eine neue Gematria ersonnen habe, um alles über Geld voraussagen zu können.

„Und wer braucht schon eine Gematria?“ fragte Litwak. „Reise ins Morgen und stelle fest, was sich tut.“

„Irrtum“, sagte Hoffa, als er seinen Gebetsriemen auf seinen Arm legte und auf ein Verstummen der Unterhaltung wartete, um die heiligen Worte zu sprechen, ehe er seinen Talis anlegte. „Es nützt nichts, dorthin zu reisen, wenn man nicht zurückkann. Und wenn man zurückkommt, hat sich sowieso alles geändert. Wen kennst du, der tatsächlich zurückgekehrt ist? Betrachte dich doch selbst, gestern hast du noch keine grauen Haare und Schläfenlocken gehabt.“

„Dann hast du nicht mich gesehen. Hat man, wenn jeder außer mir reist, hin und her reist, sozusagen im Mund des Teufels ein und aus reist, überhaupt Zeit, diese neue Gematria zu benutzen?“

Hoffa sagte nach einer Pause: „Die Welt muß sich also weiterdrehen. Du glaubst vielleicht, sie bleibt stehen, weil der Himmel sie erschüttert…“

„Bist du so sicher, daß es der Himmel ist?“

„… aber du kannst den Kabbalisten aufsuchen – du bist der Gegenwart verhaftet, du hältst an einer Linie fest. Geh zu ihm; er spricht passables Jiddisch, und seine Frau spaziert mit nacktem Hintern herum.“

„Wieso weißt du, daß er jetzt da ist?“ fragte Litwak. „Sie kommen und gehen. Vielleicht nimmt ein Neandertaler oder Klesmer aus der Zukunft seinen Platz ein.“

„Na und? Was spielt es schon für eine Rolle, wenn er nicht da ist? Zumindest wirst du erfahren, daß er irgendwo anders ist. Oder etwa nicht? Alles geht weiter. Nichts geht verloren. Alles paßt irgendwie. Darauf kommt es an.“

Litwak brauchte ziemlich lange, um die neue Zeitlogik zu lernen, aber nachdem es ihm gelungen war, gereichte es ihm zum Vorteil – vor allem, als seine Rentenüberweisungen nicht eintrafen. Litwak wurde ein tüchtiger Altwarenhändler, aber er betrog nur nach der Logik der Gesellschaft und nach seinem eigenen ethischen System: eine Hälfte für die Schul und die andere für Litwak.

Litwak stellte fest, daß er mehr Zeit auf der Straße als in der Synagoge verbrachte, aber indem er an seiner Linie festhielt, konnte er nicht umhin dazuzulernen. Er setzte die Welt zusammen, indem er erkannte, wo sie war, sein würde, sein könnte oder auch nicht. Wenn er verwirrt wurde, bediente er sich der Logik.

Und die Tage vergingen schneller, obwohl er mehrmals nächtelang in der Schul betete und schlief. Alles um ihn herum strudelte. Die Stadt war ein wechselndes Kaleidoskop von Farben aus jeder Geschichtsperiode, die zu verschiedenen Aufmachungen verschmolzen, wenn die Diebe und Diplomaten und Fürsten und Kaufleute über das Kopfsteinpflaster der Straßen in Brooklyn schlenderten.

Mit Prismen anstelle der Augen machte sich Litwak durch die Menge der Sklaven und Leibeigenen und Abonnementskartenhalter auf den Heimweg. Lehnsherrschaft in Brooklyn abzustecken war schwierig, so daß die Sklaven augenblicklich frei herumliefen, nur um irgendwohin zu reisen, wo sie wieder aufgegriffen und vergewaltigt wurden und schufteten, bis sie wieder reisen konnten – und immer weiter, bis die alte Logik in die Brüche ging. Der King’s Highway war ein schlechtes Stadtviertel. Der Boys’ Club war in einen Sklavenmarkt und eine Galgenstätte verwandelt worden.

Litwaks winzige Wohnung war ein vertrauter Knotenpunkt am Ende des Seils. Golde hatte sich wieder verändert, aber nur geringfügig. Golde ändert sich dauernd, wenn ihre verschiedenen Zeitlinien in Litwaks Küche und Schlafzimmer zusammentrafen. Ein paar der Goldes mochte er, aber die Veränderung vollzog sich nur allmählich, und die Goldes hatten die Neigung herunterzukommen. Daher mußte er für jede heißblütige Golde mit blondgefärbtem Haar fünfzig oder tausend Goldes mit Zahnlücken und krächzenden Stimmen erdulden.

Die letzte Golde hatte es irgendwie fertiggebracht, einen Wellensittich zu kaufen, der sich in einen Eichelhäher, einen Papagei mit roten Federn und in einen Strauß verwandelte, der ein Abendessen lieferte. Litwak hatte entdeckt, daß kleinere Tiere schneller die Zeit tippten als Menschen und größere Tiere; vielleicht, dachte er, war das eine Frage des Stoffwechsels. Golde tötete den Strauß, ehe etwas anderes seinen Platz einnehmen konnte. Mit Logik und Mitleid segnete Litwak ihn, um ihn koscher zu machen – der Rabbi war nicht zu finden und zudem (man stelle sich vor) ein Neuchassid, der den Talmud nicht von einer Werbesendung unterscheiden konnte; schlimmer noch, er las Hebräisch mit einem bei solchen neuen Rabbis häufigen Brooklynakzent. Es war besser, daß Litwak sein eigenes Fleisch segnete; laßt den Rabbi die Nahrung der Gojim segnen.

Eine andere Mahlzeit mit einer anderen Golde, einer dunkelhäutigen und pickligen, übergewichtigen und wabbeligen, aber ihre Augen hatten die Farbe des von einem Flugzeug aus an einem sonnigen Tag gesehenen Ozeans. Litwak konnte sich nicht auf das Essen konzentrieren. Ein heftiger Kampf fand zwei Straßen weiter statt, und Litwak machte sich Sorgen, wie er zur Schul gelangen konnte.

„Noch etwas Suppe?“ fragte Golde.

Sie hatte auch hübsche Hände, dachte Litwak. „Nein, vielen Dank“, sagte er, bevor sie verschwand.

An ihrer Stelle stand eine vierschrötige Bäuerin, deren Hände und deren zerlumptes Kleid noch von reicher schwarzer Erde beschmutzt waren. Sie schrie nicht und tobte nicht und griff Litwak nicht an; sie rang nur die Hände und kratzte sich zwischen den Beinen. Sie sprach die gleiche Sprache, in den gleichen leisen Tönen, die Litwak mehrere Nächte in der Schul gehört hatte. Ein Ägypter namens Rhampsinitus hatte seinen Weg in die Synagoge gefunden, die er für einen Barbarentempel für Baiti, den Possenreißergott, hielt.

„Baiti?“ fragte sie mit erhobener Stimme. „Baiti“, antwortete sie voller Überzeugung.

Das reicht, dachte Litwak, der gerade erkannt hatte, daß der ranzige Geruch im Zimmer von Schweiß herrührte.

Er rannte aus der Wohnung, ehe sich Golde in etwas noch Schrecklicheres verwandelte. Änderungen hatte er erwartet. Die Dinge ändern sich und wechseln – das ist logisch. Aber nicht so schnell. Er hatte (dachte er) natürliche Vorgänge in der Vergangenheit verlangsamt, aber jetzt rutschte er und versank wie die übrigen. Ein kahlgeschorener Samson auf einem dahintreibenden Floß.

Die Zeit ist kein Fluß, dachte Litwak, als er sich den Weg durch größere dahintreibende, grölende, lachende, übergeschnappte Mengen bahnte, während alte Männer von vorzeitlichen Monstren und Ängsten ersetzt wurden; aber Dinosaurier nahmen zuviel Platz ein und könnten nur in Bruchstücken in die gegenwärtige Welt gelangen – ein großer ornithischianischer Flügel, ein stegosaurischer Schwanz mit zwei Knochenplattenpaaren oder vielleicht ein gut einen Meter langer Tyrannosauruskopf.

Die Zeit ist ein Loch, dachte Litwak. Er konnte dessen Sog fühlen.

Immer wenn Litwak einen Fremden berührte – jemanden, der allzu viele Meilen und Minuten hergereist war, um festzustellen, wo er war – erfolgten ein Knall und ein Ruck, und die Person verschwand. So war Litwak drei aufgeputzte Damen, einen Archidiakon, einen Vogelhändler, einen Ritter mit normannischem Helm und mehrere sumerischen Sklaven losgeworden. Er fiel fast über einen Jungen, der verbissen versuchte, einem glatt abgetrennten Tyrannosauruskopf einen Zahn zu ziehen.

Der Junge packte Litwaks Beine, nachdem er auf den Knien einige Schritte herbeigerutscht war, und biß ihn. Litwak schrie vor Schmerz auf, riß sein Bein los, hörte einen unvertrauten Knall und stellte fest, daß die Synagoge näher war, als er sie in Erinnerung hatte. Aber das war nicht seine Schul; es war eine Kathedrale, eine Karikatur seiner geübten Synagoge.

„Haltet ihn“, rief der Junge mit einem so starken Akzent, daß Litwak kaum verstehen konnte, was er sagte. „Er ist der Dieb, der aus der Schul stiehlt.“

„Eu, eu, das ist er falsche Ort“, sagte Litwak und rannte zur Kathedrale.

Ein paar Hände grapschten nach ihm, aber dann war er drinnen. In Gottes Salon war, würde und mußte alles beim alten sein: großer Lichtgaden; Doppelflügel für Donnerstagsprozessionen; strahlenförmige Kapellen nach dem Modell von Amiens 1247; und Schiff, Chor und Türme, alle den strengen Regelungen des halachischen Gesetzes stilgemäß.

Über dem Altar, direkt über der heiligen Lade, hing eine Bronzeplatte mit der Darstellung des Eies von Khumu, der die Substanz der Welt auf einer Töpferscheibe schuf. Und an dem mit Samt bezogenen Pult stand, das kantige Gesicht in ein Gebetbuch vertieft, Rabbi Rhampsinitus.

„Heilig, heilig, heilig“, intonierte er. Fünfundzwanzig alte Männer sangen und klagten und beteten auf das Stichwort hin. Sie alle hatten Bärte und Schläfenlocken und trugen konische Käppchen und Gebetsriemen und Talis.

„Das ist er“, rief der Junge.

Litwak rannte zum Pult und küßte das heilige Buch.

„Dieb, Räuber, Plünderer, Verwüster.“

„Schluß damit“, sagte Rhampsinitus. „Der Gottesdienst ist beendet. Gott hat nicht geblinzelt. Alles Gute“, sagte er zu dem Jungen.

„Schaut Euch doch an, wer er ist.“

Rhampsinitus erkannte Litwak sofort. „Das ist also der Dieb. Du Stehler aus Gottes Schatzkammer bist als Einbrecher exkommuniziert worden.“

„Aber ich habe nicht aus der Schul gestohlen. Es ist nicht einmal meine Zeit und mein Ort.“

„Er spricht eine barbarische Sprache. Was heißt Schul?“

„Dieser Paley Litwak wurde zwei- oder dreimal entfernt“, schaltete sich Moishe Hodel ein, der sich durch das Zeit-Tippen nach Belieben in jede Synagoge, die Gott um ihn herum zu errichten gefiel, zu versetzen vermochte. „Er ist neu. Schaut und hört zu. Dieser Paley Litwak stiehlt wahrscheinlich nicht aus der Synagoge. Könnt Ihr ihm etwas in die Schuhe schieben, das irgendein anderer getan hat?“

„Moishe Hodel?“ fragte Litwak. „Bist du derselbe, den ich aus der Beth David am King’s Highway gekannt habe?“

„Wer weiß?“ sagte Hodel. „Ich kenne eine Beth David, aber nicht am King’s Highway, und ich kenne einen Paley Litwak, der an der Zeit festhielt und eine Frau namens Golde hatte, die Hamster züchtete.“

„Das kommt der Sache nahe, aber…“

„Mach dir keine Sorgen. Ich spreche für dich. Es dauert ein paar Stunden, den Slang zu lernen, aber er ist wie Jenglisch, nur gedehnter und mit zu vielen Ägyptismen gespickt.“

„Hör auf zu lästern“, sagte Rhampsinitus. „Philosophie und Logik sind schön und gut“, sagte er zu Hodel. „Aber das hier ist eine Gesellschaft des Gesetzes und keine der Philosophen, und das Gesetz fordert Entschädigung.“

„Aber ich habe kein Geld“, sagte Litwak.

„Da hast du deine Logik“, sagte Rhampsinitus. „Geld, besonders von so einem barbarischen Grünschnabel wie dir, kann nicht die Tat ersetzen. Private Unsittlichkeit und öffentliches Ärgernis sind ein und dasselbe.“

„Er hat recht“, sagte Hodel mit leichtem Akzent.

„Sperrt den Abtrünnigen ein“, sagte der Junge.

„Das soll geschehen“, erwiderte Rhampsinitus. Er machte ein heiliges Zeichen und segnete Litwak flüchtig. Dann zerrten ihn die Sheriffs des Jungen mit.

„Mach dir keine Sorgen, Paley“, rief Moishe Hodel. „Die Dinge ändern sich.“

Litwak versuchte, den Sheriffs zu entwischen, aber er vermochte nicht, die Zeit zu ändern. Es ist nur eine Frage des Willens, sagte er sich. Mit Gottes Hilfe könnte er eine Änderung bewerkstelligen und in ein anderes Jahrhundert, eine freundlichere Zeit, treten oder schlüpfen.

Aber noch nicht. Nichts änderte sich; sie gingen schnurstracks zum Gefängnis, zu einer großen Pyramide, die noch Spuren ihres ursprünglichen Kalksteinputzes aufwies.

„Da wären wir“, sagte einer der Sheriffs. „Das ist eine bescheidene Stadt. Wir brauchen kein Gesindel und Lumpenpack – es reicht, daß wir Ausländer haben. Also tipp die Zeit oder entwische oder fliehe woandershin. Sonst gibt es keinen Ausweg aus dieser Verwahrung.“

Sie verwahrten ihn in einem engen Gang und legten hinter ihm den Schlußstein darauf.

Das Atmen fiel schwer, und die feuchte Luft stank. Es war völlig dunkel. Litwak konnte seine Hände nicht vor den Augen sehen.

Gotenju, dachte er, als er sich auf den kalten Steinboden hockte. Ich wette, daß sie vorhaben, mich einzumauern. Er sagte das Schma Jißroel auf und wiederholte es vor sich hin, um sich die langen Sekunden mit jeder Silbe zu verkürzen.

Zwei Tage lang betete er; zumindest kam es ihm wie zwei Tage vor. Vielleicht waren es nur vier Stunden. Als er des Betens müde war, verfluchte er Moishe Hodel und wünschte, daß er zur Hölle fahre und sich die Finger breche. Litwak nieste, bekam einen nervösen Hustenanfall, und seine Augen tränten. „Es ist Gottes Wille“, sagte er laut.

Gleichsam als Erwiderung sang eine dünne ferne Stimme: „O meine Göttin, o meine Göttin, o meine Göttin Cle-men-tine!“

Es war ein bekanntes Volkslied, das in einem merkwürdigen spanischen Dialekt gesungen wurde. Aber Litwak konnte es verstehen, denn seine Familie mütterlicherseits sprach Ladino, die Mundart der Spanioli-Juden.

Also dahin, dachte er. Er spürte die Änderung. Sobald er einmal Gottes Langmut gewonnen hatte, konnte er entwischen, die Zeit tippen und sich davonmachen.

Litwak folgte der Stimme. Der Boden begann anzusteigen, als er durch die von Fackeln beleuchteten Gänge und Höfe und Räume ging. An manchen Orten, die noch nicht zu Wohnkammern ausgehauen waren, waren Stalaktiten und Stalagmiten übriggeblieben. Manche der Räume waren mit Wandgemälden von Wolken, Blitzen, der Sonne und maskierten Tänzern und Tänzerinnen geschmückt. In einem Raum befand sich ein Fries mit einer großen geflügelten Schlange; in einem anderen standen lebensgroße Berglöwen aus Lavagestein. Aber keiner der Räume war bewohnt.

Schon bald fand er die Öffnung der Grotte. Der grelle Sonnenschein blendete ihn einen Augenblick.

„Ich habe auf dich gewartet“, sagte Castillo Moldanado in einer Abart des Kastilischen. „Du bist der dritte. Ein Mädchen ist gestern eingetroffen, aber es möchte für sich bleiben.“

„Wer bist du?“ fragte Litwak.

„Ein Gast, wie du.“ Moldanado kratzte an einem schwarzen Muttermal unter seinem Auge und glättete sein dunkles schütteres Haar.

Litwaks Augen gewöhnten sich an den Sonnenschein. Vor ihm lag eine Wüste. Zedern- und Pinienhügel waren Luftspiegelungen in den Sonnenstrahlen. In weiter Ferne überragten einzelne Tafelberge und steile Felsen rote Täler und ausgetrocknete Flußbetten. Es war ein durstiges Land aus Staub und Sand und Schmutz, das nur von wenigen braunen Feldern, einer Ranch oder einer gelegentlichen Handels- oder Missionsstation unterbrochen wurde. Aber zu seiner Rechten und Linken und hinter seinem Rücken florierten Pueblos auf den Felsenhängen. Felsenbehausungen und Ortschaften, aus dem Gestein gehauen, beherrschten Ebene und Wüste.

„Es sieht wie ausgestorben aus“, sagte Moldanado. „Aber rings um dich herum ist Leben. Die Indianer sind überall auf den Felsen und in der Wüste. Hinter dir ist der Felsenpalast, der hundertfünfzig Räume hat. Und sie haben Felsenorte im Canon del Muerte und südlicher in der Walnußschlucht.“

„Außer uns sehe ich keinen hier“, sagte Litwak.

„Sie verstecken sich“, sagte Moldanado. „Sie erkennen die Änderung und halten uns für Götter. Sie haben Angst vor noch einer schwarzen Kaschina, einem bösen Geist.“

„Ach so“, sagte Litwak. „Einem Dibbuk.“

„Du wirst schon früh genug Eingeborene zu sehen bekommen. Ayoyewe wird gleich hier sein, um die Fackeln wieder anzuzünden, und zu diesem Anlaß wird er seine schönsten Pelze und Truthahnfedern anlegen. Sie nennen diese Grotte Keet Seel, den Mund der Götter. Sie wurde mir geschenkt. Und ich schenke sie dir.

Bald werden mehr Eingeborene da sein und mehr Gäste. Wir werden das Gesicht ihrer Felsen ändern und sie vertreiben. Aus Habgier.“

„Und Logik“, sagte Litwak.

Moldanado hatte recht. Täglich trafen mehr Gäste ein und ließen sich in der Wüste und den Grotten und Pueblos nieder. Römer, Serben, Ägypter, Amerikaner, Missionare, Mormonen, Baalisten und Fährtensucher brachten Kultur und Religion und Waffen. Sie errichteten bessere Bauten, bewirtschafteten das Land, trieben Tauschhandel, stahlen, beteten, erfanden und kämpften, bis sie schließlich von Gouverneuren und Diplomaten besucht wurden. Aber auch das änderte sich, als alle anderen die Zeit zu tippen begannen.

Auch Juden kamen zu den Pueblos und Grotten. Sie kamen aus verschiedenen Orten und Zeiten und brachten ihre Sitten, Uneinigkeiten, Tragödien und Hoffnungen mit. Litwak hoffte auf einen Maimonides, auf einen Moses ben Nachman, auf einen Luria, sogar auf einen Schwartz, aber es ließen sich keine Weisen finden, nur Juden. Und Litwak war der erste. Er leitete, spornte an, befahl, besänftigte und fand einen Minjan für den Gottesdienst. Als sie eine vollbeschäftigte Gemeinde wurden, eine Schul bauten und einen Rabbi wählten, verliehen sie Litwak die Ehre, in einem mit Samt bezogenen Lehnstuhl am Lesepult zu sitzen.

Litwak war glücklich. Er hatte Gebet, Freunde und Autorität.

Die Nacht war nicht mehr dunkel. Sie war ein reges Treiben von Gelächter und Handel. Alles funkelte von elektrischem Licht und Gebet. Die Indianer gesellten sich zu den anderen, vermischten sich mit ihnen, verschmolzen mit ihnen, wurden ausgemerzt. Sogar ein paar Juden verschwanden. Indianerkleidung und Federn zu tragen kam aus der Mode.

Moldanado schwirrte überall herum, lehrte und leitete, denn er kannte das Land und die Eingeborenensitten. Er war von Natur aus ein Politiker; als Litwaks Schul fertig war, wohnte er sogar einem Maariw bei. Dabei erzählte er Litwak von „Neunundvierzig“ und Clementine.

„Was ist mit diesem Lied los?“ hatte Litwak gefragt.

„Du kennst die Melodie.“

„Aber nicht den Text.“

„Clementine war die Göttin von Los Alamos“, sagte Moldanado. „Sie war der erste Kernreaktor auf der Welt, der spaltbares Material benutzte. Natürlich flog er in die Luft. »Neunundvierzig« war das Kodewort für das Projekt, das die erste Atombombe zündete. Aber ich fand es nicht richtig, die »Neunundvierzig« dem Lied einzuverleiben.“

„Ich glaube, es ist nicht gerade ein Thema für ein Gotteshaus“, sagte Litwak. „Hier ist eine Stätte des Gebets und nicht der Bomben.“

„Aber hier ist auch Los Alamos.“

„Dann müssen wir noch mehr beten“, sagte Litwak.

„Hast du je etwas von der Atombombe gehört?“ fragte Moldanado.

„Nein“, sagte Litwak und blätterte in seinem Gebetbuch.

Moldanado fand Zeit, Litwak Baptista Founce, den zweiten Gast, der in Los Alamos eingetroffen war, vorzustellen. Sie war dunkelhaarig und zierlich und erinnerte Litwak an seine erste Golde. Aber sie war außerdem eine Schickse, die ein goldenes Kreuz an ihrer Halskette trug. Sie hänselte, verfolgte und verspottete Litwak, bis er sie bei hellichtem Tag hinter der Schul nahm.

Danach betete er nur noch. Er fastete, schlug sich auf die Brust, zerriß seine Gewänder und wartete auf Gottes Langmut. Die Schul wurde renoviert, so daß sich Litwak zum Beten in die Wüste begab. Wenn er in die Stadt zurückkehrte, um zu essen und sich auszuruhen, konnte er nicht einmal mehr die Schul finden. Alles änderte sich.

Litwak verbrachte die meiste Zeit in der Wüste und betete. Er betete um ein Zeichen und stolperte über einen Trachodonkopf, der im Sand steckte.

So ändert es sich, dachte er, während er die Felsenlandschaft vor sich betrachtete. Er fand sich auf einem Grat wieder und schaute hinab auf ein endloses Felsgebiet, ein Steinrelief von Wellen in einem grauen Meer. Zu seiner Rechten lag ein Feld von Felskegeln. Jeder Kegel warf einen flachen schwarzen Schatten. Aber hinter ihm ragten Klippen aus weichem Tuff aus dem Steinmeer empor. Bei näherer Betrachtung des Felsens zeichneten sich in lebendiges Gestein gehauene Einsiedeleien und Klöster ab.

Litwak seufzte, während er eine Gruppe von Mönchen beobachtete, die darauf warteten, bis sie an die Reihe kamen, eine Strickleiter zum Klosterbereich hinaufzuklettern. Sie sprachen eine fremde Sprache und bekreuzigten sich, ehe sie die Leiter betraten.

Hier wird es keine Schul geben, sagte er zu sich. Das ist meine Strafe. Ein dürrer gojischer Ort. Aber hier war keine dicke reiche Patina einer verfeinerten Kultur vorhanden. Es war ein schlichtes, ein rauhes echtes Hinterland, das noch nicht von Dibbuks und Kaschinas heimgesucht worden war.

Litwak schloß Frieden mit den Mönchen und verbrachte die Zeit damit, auf der Spitze einer Tuffsteinkirche in Goreme vor sechshundert Jahren zu sitzen. Er betete und saß da und beobachtete die Mönche. Allmählich gewann er seinen Willen wieder, und die Szene änderte sich.

Da war ein Mönch, der sah wie Rhampsinitus aus.

Ein anderer sah wie Moldanado aus.

Zumindest, dachte Litwak, konnte keine Baptista Founce hier sein. Damit (und durch einen unbewußten Willensakt) fand er sich in seiner Schul am King’s Highway wieder.

„Willkommen daheim, Moishe“, sagte Hoffa. „Du solltest diese Synagoge öfter aufsuchen.“

„Moishe?“ fragte Litwak.

„Na, bist du denn nicht Moishe Hodel, der sich durch das Zeit-Tippen in die Synagoge versetzt hat?“

„Ich bin Paley Litwak. Und kein anderer.“ Er betrachtete seine Hände. Es waren seine eigenen.

Aber er befand sich in einer anderen Synagoge. „Heilig, heilig, heilig“, intonierte Rabbi Rhampsinitus. Fünfundzwanzig alte Männer sangen und klagten und beteten auf das Stichwort hin. Sie hatten ihre Barte und Schläfenlocken und trugen konische Käppchen und Gebetsriemen und Talis.

„So, Moishe“, sagte Rhampsinitus, „du kommst immer noch zurück. Du hast wirklich Gottes Wagen gemeistert.“

Litwak blieb stehen, entschloß sich, nickte dann und lächelte. Er dachte an die Schul, die er erbaut hatte, und fand sich auf seinem mit Samt bezogenen Lehnstuhl wieder. Aber Baptista Founce saß in der ersten Reihe und betete.

Ehe sie „Paley“ sagen konnte, saß er auf einer Tuffsteinkirche vor sechshundert Jahren.

Vielleicht würde er morgen zur Schul gehen. Heute wollte er hier sitzen und Mönche beobachten.