Fenster

 

 

 

Zwangsverwaltung, dachte er. Bücher, in dickes Leder gebunden, voll vergilbter Pergamentseiten; Wandteppiche, die Schwelgereien à la Bosch, Monstrositäten à la Bok darstellten und die eine in einem Keller der 13th Street lebende Zigeunerin gewebt hatte; übereinander gestapelte Orientbrücken, made in USA, um den Eindruck von Luxus zu erwecken, um den abgetretenen Holzboden und das brüchige Linoleum zu verbergen, sie alle erstickten ihn mit ihrem klammen Gewicht.

John ging durch das Zimmer; wenn er stehenblieb, würde er in den bunten Teppich aus durchsichtigem Schlamm oder erhitztem Kunststoff einsinken – Grüntöne, Goldtöne, Ockertöne mit blauen Fäden durchsetzt, zinnoberrote Pfützen, die sich an einer Kupferleiste kräuselten, durchweicht, von seinem eigenen Schweiß glänzend. In Augenhöhe dampften seine mit gummiertem Plastik überzogenen Fußabdrücke in ihren billigen Rahmen.

An dem offenen Fenster hielt John inne und betrachtete die Silhouette der grauen Gebäude. Das Zimmer schwoll durch die neue Masse, die von draußen hereinsickerte, noch mehr auf. John wandte sich vom Fenster ab und ging zur gegenüberliegenden Wand; tausend Gesichter quollen aus der Feuchtigkeit hervor, dann verblichen sie wieder und ließen nur einige rosa Rinnsale zurück. Als er schneller ging und den Fußabdrücken auf dem Teppich folgte, wirbelten ihm Gedanken durch den Kopf. Wirf etwas Müll über deine Schulter. Es ist nur ein Mond aus Papier. Er gab dem Teppich einen Tritt. Das Zimmer trübte sich einige Sekunden lang. Ein Schleier breitete sich vor seine Augen und dämpfte alles im Raum. Er ließ seinen unscharfen Blick die Deckenbeleuchtung, die Sessel, die Bücherregale und andere Sachen verschwommen vergrößern.

Im Zimmer wurde es ständig wärmer. John bahnte sich Wege durch die sich aufblähenden, verwischten Formen, die den meisten Platz in Anspruch nahmen; bald würden sie die letzte frische Luft abschneiden und zu einem festen Block schwären.

Als John ein Taschenbuch einfiel, das er sich versprochen hatte, blieb er vor einem großen Wandregal stehen. Der muffige Geruch der Bücher erinnerte ihn an eine Party unten und an eine blonde Riesin, die sich selbst Miß Urania nannte.

„Faß mich nicht an, wenn ich rede.“ Sie schmiegte sich eng an ihn.

Als er zum Fenster zurückging, versuchte er sich zu erinnern, was sie gesagt hatte.

„Ich habe gesagt, das Gelbe Buch. Nicht den Beardsley.“ Ihr langes Haar verhüllte ihre Arme völlig. „Brachte eine ganze Ära zu Fall…“ Ihr Mund bildete ein perfektes, wie mit einem Zirkel gezogenes O. „Das letzte Wort der Dekadenten.“ Sie schüttelte den Kopf; Haarsträhnen blieben an ihrem feuchten Gesicht kleben. „Du solltest es wirklich lesen.“

John erinnerte sich an seine Gedanken, als sie gegen ihn prallte, während sie definierte, was Dichtung sei. Das Buch widerspiegelte wahrscheinlich die Gegenwart – das wäre nicht ungewöhnlich. Splitter und Stücke der einen Ära konnten einer anderen Epoche ähneln, aber alle aus falschen Gründen. Ereignisse konnten sich nur in der Form wiederholen. Aber beides spielte keine Rolle; er wollte feststellen, ob das Buch irgendeine seiner eigenen Ansichten wiedergab. Sein Vergnügen würde aus dem persönlichen Vergleich bestehen.

Die Farben der Teppiche flossen ineinander über, jede Schicht des bunten Schlamms sank in die nächste, bis sie die Risse und Fugen des Holzes darunter ausfüllten, trieften durch den Boden und übergossen die kleine alte Dame einen Stock tiefer mit einem Farbrausch.

John konnte nicht atmen. Das Draußen drang herein und durchbrach die Wände, nur um von dem Teppich aufgesaugt zu werden, der rasch aus seinem zweidimensionalen Zustand herauswuchs. Phantasmen fremder Gesichter schwebten neben John und verflüchtigten sich, wenn er sich umdrehte, um sie ins Auge zu fassen. Sie sausten hinter ihn, gurgelten, wurden zum Zischen des Kühlschranks, zum Klirren der Fenster. Die Katze, die festgekrallt an seiner Hose hing, war ein grauer Wattebausch mit zwei Löchern, die aus der Mitte gezupft worden waren und den Glanz des Teppichs reflektierten.

John stand jäh auf, schüttelte die Katze von seinem Bein ab und streckte die Hand nach der Tür aus, dem einzigen festen Gegenstand im Zimmer. Frustrierende Rückblenden nährten seine Unruhe, als er versuchte, eine vage homosexuelle Anwandlung zu unterdrücken. Geh hinunter auf die Straße, dachte er, denn er betrachtete seine Unruhe als schlechte Haltung. Halt dich gerade. Es sollte draußen jetzt kühler sein – pfeif Leuten hinterher, trink ein Bier, kauf Bücher. Das ist es. Kauf jenes Buch. Das ist der Grund auszugehen. Du rennst nicht davon. Du fliehst nicht aus einem Käfig. Du gehst aus, um ein Buch zu kaufen. Ein leichter Moschusgeruch rief Miß Urania in sein Gedächtnis zurück: Vielleicht würde er eine Prostituierte aufgabeln.

Draußen war es feucht, aber wesentlich kühler als in seiner Hotelsuite. Ein paar Mädchen lehnten sich auf der Straße an ein Metallgeländer vor dem Gebäude; andere standen in dem rot beleuchteten Eingang der Hotelbar. Sie alle haben dunkles Haar, dachte er und erinnerte sich an Miß Uranias Blond. Und sie waren zu mager. Er antwortete auf keinen der vertrauten Lockrufe.

Er ging an der U-Bahn-Station vorbei. Es war zu heiß, um sich unter den dampfenden Beton zu begeben. Der Broadway wurde von einer Sommersamstagabendmenge erdrückt. Die Eisdielen mit ihren hellen Markisen machten ihr Wochenendgeschäft und kümmerten sich um die Kinder und Bummler, Kuppler und Großmütter. Die Schwulen waren mit ihrer Hauptmacht unterwegs, sie schienen sich lieber am Samstag als am Sonntag zu zeigen und trugen gelbe Hosen und grüne Hemden, orangefarbene Jacken und rosa Rollkragen und zertrampelten den Boden mit Lederstiefeln, weiß und golden gamascht, alle führten Schäferhunde an der Leine durch die Menge. Am oberen Broadway war die Revue gerade aus, und kleine Gruppen bildeten sich, Felsblöcke in dem Strom der Straße, um über die Ästhetik der Körperbewegung und des Bodybuilding zu diskutieren; aufgeweckte Studenten schwafelten von ihren Daten über Nacktheit als Gemütsverfassung oder dem Helden als Antihelden, während sie im stillen ihr nächstes Unternehmen planten.

John drängelte sich schneller durch die Menge. Der Broadway war zu heiß; zu viele schwitzende Körper streiften einander. Er überquerte die Straße und ging zum Riverside Drive, wobei er fast das Wasser roch, was ihn an Halloween-Zider und an durchnäßte Zigarettenkippen erinnerte, die an einem Streichholz trockneten. Sobald er im Riverside Park mit seinen kalt leuchtenden Bäumen war, konnte er endlich atmen. Das Boat Basin, ein stilles gespenstisches Schlachtfeld nach Einbruch der Dunkelheit, war sein Lieblingsort. Es strömte Ruhe und Einsamkeit aus; seine Anwohner, die herumschlenderten, waren nur Pappfiguren. Aber John fühlte sich verhältnismäßig sicher auf den von gelben Laternen beleuchteten Kopfsteinstraßen.

Ein Mann, dessen kantiges Gesicht von einem Doppelkinn verhunzt wurde, kam mit einem Mastiff John entgegen. Im Vorbeigehen nickte er und sagte: „Hello, Richard.“

Ein Irrtum, irgend jemand anderer. Das Gesicht kam John irgendwie bekannt vor, aber er konnte ihn nicht unterbringen. Wieder das Gesicht, ein sardonisches Gesicht, dessen hochgezogene Mundwinkel ein leises Lächeln kaschierten. Das Gesicht war bedrückt: ein normales bleiches Gesicht. Bleich. Das Wort ragte aus seinem Verstand hervor, dann glitt es vorbei und wurde vergessen. John stieg von einem Backsteinsockel herunter, der einen großen, seichten Teich überschaute, wo Riverside-Mädchen sonntags mit ihren schicken Hunden angaben. Vielleicht lag es an seiner Hornbrille. Wahrscheinlich wohnten sie in dem Gebäude.

Als John die Kais erreichte, schloß er sich der Gangart der Bummler an. Nicht viele zu dieser nächtlichen Stunde, dachte er, als er einige Sekunden stehenblieb, um zu beobachten, wie die Lichter einer verankerten Jacht auf dem Wasser spielten. Zu spät für den Schüchternen, zu früh fürs Gewerbe. Ein Mädchen mit einem orangefarbenen Bikini kicherte und setzte sich auf einen Liegestuhl, um ihn dann finster anzublicken. Von einigen Passanten in seiner Richtung wurde er weitergeschubst und hörte das Lachen hinter sich.

Eine junge Frau mit elegant getürmtem langem Haar kam ihm entgegen. Irgendwie erinnerte sie ihn an den Mann mit dem Mastiff. Er lächelte sie an. Sie reagierte nicht. Wem sah sie ähnlich? Sie ging vorbei. Flüchtig bemerkte John, daß sich ihr Mund bewegte und leise um einen Klumpen Kaugummi herum etwas vor sich hin sagte. Ein Flüstern. Richard, Richard, um die Ecke, zupf, zupf, zupf, sie ist ‘ne Zecke.

Etwas hing hinter ihm – wenn er sich umdrehen würde, verschwände es. Es waren nicht genügend Leute auf der Promenade, nur Pappfiguren, Gliederpuppen, die alle gleich aussahen. Ein Mädchen ging vorbei, gefolgt von einem alten Mann und einem sehr jungen Mädchen. Gleichaussehende. John pfiff ihnen zu, als sie verlauten ließen: „Hello, Richard.“ Sie hatten Mastiffs nötig. Ein blasses, aufgedunsenes kleines Mädchen in einem Gingangkleid zwinkerte ihm im Vorbeigehn zu. Richard.

Gleichaussehende. Analogien. Sie werden lächeln. Vorsichtig entfernte er sich von der Promenade; sie schauten ihm nach. Beweg dich graziös. Jede ruckartige Bewegung gibt dich preis. Die Blätter sind gelbgrün und erhalten künstlich durch winzige Scheinwerfer monströse Formen. Er kroch durch das Laub. Von einem plötzlichen Bedürfnis befallen, wieder von der Menge aufgesaugt zu werden, lauschte John nach dem Getöse des Broadway – der verfügte über genügend Leute für jeden Geschmack und Geruch. Der Broadway war brauchbar.

Als John eine Bewegung zwanzig Meter vor sich wahrnahm, blieb er stehen und zerbrach einen trockenen Zweig. Zwei Gestalten sprangen aus den hohen Büschen auf und rannten einen Grashang hinauf zum Highway darüber.

Eine Mutaufwallung nutzend, rannte er zur Erkundung hin, nachdem die Flüchtlinge außer Sicht waren. Eine bleiche Form lag in einer trüben Lichtlache, tiefe Schatten hoben ihre ursprünglichen Züge hervor.

Als John sie anstarrte, bemerkte er, daß ihr rotes, im künstlichen Licht hautfarben wirkendes Taftkleid heruntergerissen worden war. Ein schwarzer BH lag neben einem zusammengerollten Gürtel halb versteckt zwischen den Blättern. Er umkreiste sie entsetzt, aber doch fasziniert von dem raffinierten Lichtspiel auf ihrem Körper.

Stöhnend und mit geschlossenen Augen wandte sie sich ihm zu. Ihr Haar war fast grün in dem Licht. Dunkelbraun. Herbst. Hol Hilfe. Sie erbebte, und ihr Kopf kippte zur Seite, um drei unregelmäßige Kerben zu enthüllen, die von ihrer Kehle über ihre Kinnkuppe bis zu ihrem zierlichen Backenknochen reichten. Sie krümmte sich, und dann entspannte sich ihr Körper. Und wie Luftakrobaten nach einer gelungenen Nummer klappten ihre Augen auf. Sanfte, blaue, verengte, diesige Augen, die ihn anstarrten. Mikroskopisch erschienen Gestalten in ihren Pupillen, winzige gelbe Figuren, die größer wurden, ihre Iris verwischten und auf zwei Bühnen spielten.

John konnte ihre Formen fast erkennen, sogar ehe sie in den Brennpunkt gelangten: einen großen blonden Jüngling, der auf der Stelle tanzte und ein aufgeklapptes Messer auf seinem Zeigefinger balancierte, und einen blassen Burschen mit über der Stirn kurzgeschnittenem, langem schwarzem Haar, der die Hände in die Taschen gesteckt hatte. Er beugte sich über sie, um sie genauer zu betrachten, und roch den beißenden Geruch ihrer Haut. Noch eine Figur – das Mädchen, allerdings angezogen. Ihre Kehle war zu einer Schraube verdreht, wand sich langsam und stieß ihre Schreie aus. Der große blonde Jüngling begann einen indianischen Kriegstanz um sie herum aufzuführen, und sein Freund folgte seinem Beispiel. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Die Burschen hörten auf zu tanzen; der blonde Jüngling umkreiste schnell das Mädchen und drückte seine flache Hand auf ihren Mund, wodurch er tatsächlich ihre Schreie unterband. Ihre Augen waren geschlossen.

John verfolgte die Vorgänge fasziniert: Es war ein Ballett ohne Musik.

Der blonde Jüngling klappte sein Messer zu und steckte es in seine Jackentasche. Als sein Kumpel sie losließ, packte er ihren Arm und bedeckte ihren Mund, um ihre neuen Schreie zu verhindern. Seine Fingernägel schnitten in ihr Gesicht und kerbten zackige blutige Linien hinein. Er zerrte sie ins Gras, legte seine flache Hand auf ihren Mund, schnallte ihren Gürtel auf und riß ihr das Kleid herunter.

Schau nicht hin. Schließ die Augen. Sie waren starr. Der Film surrte seinem Ende zu, wobei er seine Geschwindigkeit bei jeder Bewegung beschleunigte. Das Ballett saugte ihn in ihre Augen und erfüllte ihn mit Widerwillen. Nachdem sie fertig waren, putzte John sich die Nase und zog sein Gesicht von ihrer kühlen Gummihaut zurück. Aber er schaute noch immer zu.

Sie kämmten sich. Zufrieden mit ihrem Aussehen, änderten die Jünglinge das Szenenbild, jeder ergriff einen ganzen Augapfel und ließ die leere Hauthülle zurück, um den Geist des Mädchens zu verbergen. Strammstehend winkten sie gemeinsam. „Hello, Richard.“ Gelächter, dann mehrmaliges Gekicher, ehe ihre Augen die Pupillen verloren und sich mit einem grauen Schleier füllten.

Indem er seine Nase an die des Mädchens drückte, versuchte er, einen besseren Blick von den triefenden Augäpfeln der Jünglinge zu erhaschen, bewölkte Opale, die still vor sich hinstarrten. Tränen, dachte er. Der vom Schweiß ranzige Geruch des Mädchens erinnerte ihn an etwas Warmes. Ein gelber Punkt erschien im Grau der Augenhöhlen der Jünglinge; eine mikroskopische Bewegung, ein Miniaturmann mit einem Ultraminiaturmastiff winkte ihm zu. Das Gesicht des kleinen Mannes war gerötet, als wäre er gerade gerannt.

Der dunkelhaarige Bursche machte eine Pirouette und wandte John den Rücken zu, so daß er den Stereoeffekt beendete. Indem John sein linkes Auge schloß, schaute er in das rechte Auge des Mädchens. Die Augen des blonden Jünglings funkelten. John konnte zwei verschlungene, ineinander verflochtene Gestalten wahrnehmen. Die eine war sein Nachbar, der Mann mit dem Mastiff; die andere konnte er nicht erkennen.

Der dunkelhaarige Bursche drehte sich zwinkernd herum und rief nach Johns Aufmerksamkeit. John öffnete sein linkes Auge. Es war ein anderer Blickwinkel derselben Szene. John war die andere Gestalt, die sich hinter seinem Nachbar verbarg und sich mit bescheidenem Genuß zärtlich an ihn klammerte. „Richard, Richard, schau hin – das bist du.“ John schloß die Augen.

„Guck, wir haben noch mehr“, sagte der blonde Jüngling. „Guck, guck doch. Die Frau mit dem Kuchen, willst du etwas davon abhaben? Es ist deine Mama. Der alte Mann und das junge Mädchen, schau sie dir an. Guck.“ Und zwinkernd fuhr er fort: „Babys, die Babys machen und Metallgarnituren auf die Straße werfen. Mehr, wir haben mehr.“

Genug. Er folgte den Burschen auf den Hügel, wobei er geistig seine Fußabdrücke verwischte und vorsichtig in die hastig geschaffenen Hohlräume der Burschen trat. Hinter ihm flüsterte der Körper des Mädchens immer noch Richard. Es war irgendein anderer.

John wollte Leute sehen, haufenweise. Die grauen Gebäude vor ihm beruhigten ihn. Er vergaß seine Platzangst, rannte im Gegenlicht über den Riverside Drive, wobei er den Autos auswich, durch die 79th Street zurück zum Broadway. Die Lichter flimmerten in der vom Beton aufsteigenden Hitze, eine Kollage von schmelzenden, wirbelnden, sich beißenden Farben. Die vom Beton nicht aufgesaugten Straßengerüche, die ihn in einen betäubenden Kokon einsponnen, waren ihm zuviel; er verlor vorübergehend sein Gleichgewicht und fiel in die Menge. Die Menge richtete ihn wieder auf.

Nach Luft schnappend, drängelte sich John zu den zerbröckelnden Gebäuden, weg vom Smog und Dunst der Straße, weg von der durch die Straße strömenden Menge.

Aus einem Portal sah John sie vorbeifluten. Sie nahmen keine Notiz von ihm, zwinkerten ihm nicht zu. Er erinnerte sich an die drückende Hitze und wich an den kühlen Mörtel zurück.

Sie vermehrten sich. Sie widerspiegelten sich, ihre Augen reflektierten andere Leute, die andere Leute reflektierten: Spiegel der Spiegelbilder. John schloß die Augen und wandte sich von der Menge ab. Der Mann mit dem Mastiff ging hinter ihm vorbei.

Dreh dich noch mal um. Sie hatten sich vermehrt. Er rannte in die Menge. Unbeirrt rauschte sie an ihm vorbei. Niemand achtete auf ihn.

Sie ignorierten ihn absichtlich. John drängelte, trat um sich, schrie, sang, rempelte Leute an und sank geschlagen in ein Portal. In dasselbe Portal.

„Ich bin hier. In dem Portal. Ich bin Richard. Es ist mir egal; ich bin Richard. Ich bin hier.“ Einige Leute wandten sich ihm zu und lächelten, aber ihre Gesichter widerspiegelten unentwegt Widerspiegelungen widerspiegelter Gesichter. Er konnte nicht atmen.

Verloren zwischen den Leuten um ihn herum, verloren in ihren Augen, die längst sein Spiegelbild verloren hatten, ging er durch einen Glastunnel. Draußen preßten sich Gesichter mit platten Nasen an die gewölbte Scheibe und strömten Lucite aus.

Richard, Richard, hier. Er lächelte seinem Nachbarn mit dem Hund zu. Der Hund knurrte ihn an. Vergiß ihn; es lohnt sich nicht.

Als John einen Polizisten bemerkte, der sich über den Rinnstein beugte, blieb er stehen und schaute zu. Der Polizist zog einen Besoffenen aus der Gosse.

Dreh deinen Kopf um. Dreh deinen Kopf um. „Dreh deinen Kopf um.“ John hörte sich selbst in das Ohr des Polizisten schreien. Der Polizist, der mit seinen Armen die Brust des Besoffenen umschlang, schüttelte den Kopf und drehte sich verblüfft um.

Er war anders. Mach ihn nicht anders. Seine Augen waren blau; in ihnen erlosch ein warmes Feuer. Die Familie saß davor und erkannte Formen in den kleiner werdenden Flammen. „Guck nur, eine Giraffe, ein Ungeheuer. Siehst du dieses Stück Holz? Es sieht wie ein Geweih aus. Für was hältst du das?“ Die Mutter schreitet lächelnd ein und gibt ihrem Jüngsten einen zärtlichen Klaps auf den Po. Ihr Haar ist hellbraun, und sie hat weitere fünf Pfund zugenommen.

„Was, zum Teufel, ist denn mit Ihnen los, Mister?“

Ein durch einen dichten Schneesturm von der Wirklichkeit abgeschnittenes Landhaus. Keine Schule für die Kinder. Ein Lächeln. Kaffee aus einer schmutzigen Tasse auf den Läufer verschüttet. Übereinander gestapelte Orientbrücken, um den Eindruck von Luxus zu erwecken, um den abgetretenen Holzboden und das brüchige Linoleum zu verbergen.

Es existiert nicht; es ist schön. John schüttelte einen Eiszapfen ab.

„Ich habe schrecklich viel zu tun, Mister. Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten. Und starren Sie mich nicht so an.“

Eine Eingebung. Er stürzte sich auf das Halfter des Polizisten, schnallte es mit einer Hand auf, packte mit der anderen Hand die Pistole. Als er die Finger um den Kunststoff griff schloß, wurde sie Teil seines Armes. Er schwenkte sie, um die vor ihm davonstiebenden Leute aufzuhalten, um ihnen zu sagen, daß er Richard sei, daß es ihm egal sei. Er war nichts.

Ein gezielter Schuß in den von blitzenden Goldknöpfen zusammengehaltenen Bauch des Polizisten. Für den Vater im Landhaus. Der Polizist sackte zusammen, seine Mütze schlug zwei Purzelbäume in die Gosse. Sie landete neben dem Betrunkenen, der sie in einem klaren Augenblick aufzusetzen versuchte.

Ein junges Mädchen wich mit geweiteten Augen zurück, in denen sich Widerspiegelungen widerspiegelten. John wiegte die Pistole, streichelte den Abzug und öffnete die Stelle zwischen den Augen des Mädchens. Für das junge Mädchen, das das Feuer beobachtete. Aber wie konnte er aufhören?

Eine beleibte Frau mittleren Alters krümmte sich mit zerschmetterter Wirbelsäule. Für die Mutter, die ihrem Kind einen Klaps gab.

Er schielte zu dem kleinen Kind in den Armen seiner Mutter. Die Entfernung war recht groß. Das war für das Kind, das von Giraffen im Feuer träumte.

Tränen furchten seine Backen, Akrosticha der Liebe und Anbetung.

Er konnte nicht bleiben; andere sollten sie enträtseln. John sprang in die Menge, war wieder in dem Glastunnel und drängte zur U-Bahn-Station. Hände des Schicksals, dachte er. 72nd Street.

Denk an deine Lochkarte. Sie müssen hinter mir her sein. Sie müssen mich erwischen. Noch nicht. Die Treppen hinunter, am Entwerter vorbei. Er steckte die Lochkarte in den Apparat, ging durch das Drehkreuz und rannte die Treppen hinunter.

Auf der Station herrschte kein Gedränge. Er brauchte sie nicht zu überzeugen, daß er Richard war. Ein Zug. Der auf ihn wartete. Einige Leute im Wagen. Steig in einen leeren. John schlüpfte durch eine der sich schließenden Türen.

Er wurde in den Tunnel katapultiert und war eine Sekunde oder eine Minute oder eine Stunde lang sicher. Während John es sich in seinem Plastiksitz bequem machte, bemerkte er, daß das Mädchen ihm gegenüber zu schreien schien. Kein Wunder, dachte er; er hatte noch immer die Pistole in der Hand. Er zielte sorgfältig und drückte ab. Nur ein Klicken. Das Mädchen rannte aus dem Wagen, wobei Dampf ihrem Mund entströmte.

Nur noch wenig Zeit, dachte er. Der Wagen stoppte plötzlich, und John wurde von seinem Sitz geschleudert. Schmerz betäubte seinen Kopf; er konnte sich nicht bewegen. Er war mit Fusseln bedeckt.

Beweg deinen Arm. John konnte ihn nicht finden. Sein Kopf wackelte, als er darauf stand. Muß mich aufraffen. Sein anderer Arm bewegte sich hin und her; aber es genügte nicht.

Er blickte in das Fenster. Ein verschmierter Daumenabdruck beim Griff. Nur noch wenig Zeit. Sein Spiegelbild glitt über ihn. Er blickte nochmals hin. Das Fenster wurde fusselig, zerfloß, verschmolz mit dem Metall des Wagens. Und sperrte ihn ein.