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Fusil fuhr durch Nebenstraßen zur Zentrale des Kreis-C.I.D., die im Gebiet der Abteilung West lag. Er ging hinauf zum Büro des Chefinspektors. Er fand, als er Kywood begrüßte, daß er alt und krank aussah.
«Um zehn Uhr sind Sie beim Chief Constable angemeldet», sagte Kywood. «Er möchte einen umfassenden Bericht über die Goldaffäre, und Sie können mir das Neueste berichten, bevor wir zu ihm gehen.»
Beunruhigt, dachte Fusil. Panik, weil der Chief Constable unangenehm werden wird und Kywoods friedliche Welt vielleicht kaputtgeht. «Es ist, wie ich am Telefon gesagt habe, Sir.»
Kywood sagte ärgerlich: «Sie müssen doch irgendeinen Fortschritt gemacht haben.»
«Im Grund nicht.»
«Verdammt nochmal, Mann, das ist doch eine große Sache!»
«Ich weiß.»
«Die Presse sitzt immer noch drauf.»
«Weiß ich auch.»
«Warum geht es dann nicht voran?»
«Wir können nicht mehr tun, als wir bereits getan haben. Gestern waren wir fast den ganzen Tag hart an der Arbeit.»
«Das möchte ich auch verdammt nochmal hoffen.» Kywood steckte sich eine Zigarette an, machte sich aber nicht die Mühe, Fusil eine anzubieten. «Wie steht’s mit den Zeugenaussagen aus Sydney?»
«In denen steht nichts, was wir nicht schon wissen. Der Erste und der Vierte Offizier haben den Laderaum in Fortrow versiegelt, und die Siegel waren bei der Ankunft in Sydney intakt. Der Vierte Offizier war während des Ladens und Löschens ununterbrochen im Laderaum.»
«Was ist mit dem Vierten?»
«Er ist in Ordnung. Die Polizei von Sydney schwört, daß er in keiner Weise damit zu tun haben kann.»
«Dann der Erste Offizier?»
«Er lebt seinem Einkommen gemäß, nicht mehr. Er hat keine Freundin in Australien.»
«Leery?»
«Nichts, was wir ihm anhängen könnten.»
«Aber da war doch das überzogene Bankkonto, das plötzlich in Ordnung war?»
«Gewiß.»
«Haben Sie ihn darüber befragt?»
«Noch nicht.»
«Warum nicht?»
«Weil meiner Ansicht nach der richtige Moment noch nicht gekommen ist.»
Kywood wurde rot, sagte aber ein paar Sekunden nichts. «Was sagen die Zuträger?»
«Alle kommen mit derselben Geschichte: niemand wirft im Augenblick Gold auf den Markt.»
«Verdammt, Mann, irgendeiner muß es doch tun.»
Fusil sagte nichts.
«Der Chef ist außer sich, Bob.»
Fusil bemerkte Kywoods versöhnlicheren Ton. Jetzt bat er um Hilfe wie ein Kind. «Er kann außer sich sein, soviel er will. Aber das ändert nichts an den Dingen.»
«Dieser Fall ist sehr wichtig für Sie.»
«Das haben Sie bereits gesagt, Sir.»
Kywood spielte nervös mit einem Bleistift. «Der Chef hat vorgeschlagen, ich soll den Fall übernehmen. Ich hab ihm gesagt, ich mische mich nie in die Arbeit meiner Inspektoren, wenn ich nicht muß.»
Natürlich nicht, dachte Fusil. Du brauchst doch jemand, dem du alles anhängen kannst. Wie zum Teufel sollte er diesem Fall beikommen – und er mußte ihm beikommen, sonst war seine Karriere beendet.
In seinem Büro starrte Leery auf den fertigen Ladeplan mit seinen vielen Farben und Linien, die verschiedene Lade- und Löschhäfen bezeichneten. Er dachte an den letzten Abend. Es war ein schwerer Fehler gewesen, den Inspektor anzurufen und ihn nach dem Fortgang der Dinge zu fragen. Und doch mußte er unbedingt wissen, was die Polizei unternahm.
Was würde er tun, wenn die Polizei einen der Schiffsoffiziere beschuldigte? Wie würde sein Gewissen – das sich als erschreckend elastisch erwies – auf eine solche Situation reagieren?
Eine seiner Sekretärinnen kam mit einem Fernschreiben. Zweihundertdreiunddreißig Tonnen Fracht, die ursprünglich in Glasgow auf die Sandeagle verladen werden sollten, waren nach Hull als Ladung für die Sandtide umdirigiert werden. Umstellungen wie diese verursachten anderen fast tödlichen Blutdruckanstieg, er jedoch wurde anstandslos damit fertig. Warum sollte er dann nicht auch mit den Komplikationen seines eigenen Lebens fertig werden?
Er verließ das Kontor und ging über die Straße und den nicht eingezäunten Geleisetrakt zur Dockeinfahrt. Einer der beiden diensttuenden Polizisten salutierte und sagte, wie angenehm doch jetzt eine Tagesfahrt zum Nordpol sein müßte.
Als er zum Ende des großen Lagerschuppens kam, neben dem ein griechisches Trampschiff vor Anker lag, fuhr ein schwerer Laster mit Ballen für Bombay an ihm vorbei. Die Ballen erinnerten ihn an seinen ersten Frachtdiebstahl. Prudence hatte ein sehr teures Kleid verlangt, das er sich nicht leisten konnte, und als sie es nicht bekam, hatte sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen.
Eine Woche lang hatte er die Qualen seiner lebhaften Phantasie erduldet. Am achten Tag war er ins Ladedeck eines Schiffes hinabgestiegen, das wertvolle Stoffe in Ballen lud. Im unteren Zwischendeck war er allein gewesen, da die Stauer im mittleren Zwischendeck arbeiteten. Er hatte seine Hand an einen der Ballen gelegt, der, wie er wußte, Seidenbrokat enthielt, hatte mit den Fingern an einem Metallband gespielt und dann die Hand weggerissen. Er hatte ein Taschenmesser hervorgeholt, gezögert, es wieder weggesteckt, gezögert, es wieder hervorgeholt, gezögert, es wieder eingesteckt. Er war zurück zur Leiter gegangen und hatte schon die ersten Sprossen erklommen, als er an Prudence denken mußte, wie sie gewesen war, nackt, leidenschaftlich und in der Ekstase des Liebens so grenzenlos, daß sie ihn mit sich gerissen hatte ins Grenzenlose. Er war zu dem Ballen gegangen und hatte ihn aufgeschlitzt. Mehrere Meter des Stoffs hatte er sich unter dem Hemd um den Leib gewunden. Als er zum mittleren Zwischendeck hinaufgeklettert war, hatte er beinahe damit gerechnet, von den Stauern als blutiger Amateur ausgelacht zu werden. Aber sie hatten ihn nur feindselig angestarrt und offensichtlich darauf gewartet, daß er so rasch wie möglich verschwand, damit sie mit ihren eigenen kleinen Diebstählen fortfahren konnten. Er hatte ohne Schwierigkeit die Docks verlassen. Die Dockpolizisten hatten ihn nicht durchsucht – sie waren nicht auf den Gedanken gekommen, daß ein Marineinspektor so idiotisch sein konnte, seine Karriere und seine Freiheit für ein paar Meter Seidenbrokat aufs Spiel zu setzen.
Prudence hatte der Stoff gefallen, aber bevor sie wieder geneigt war, ihn in ihrem Bett zu empfangen, hatte sie verlangt, er solle ihr ein Kleid daraus machen lassen. Er hatte Gladys bitten müssen, ihm das Geld zu leihen. Gladys hatte ihm einen Scheck ausgestellt auf das Konto, auf das alle Zinsen der einundzwanzigtausend Pfund Versicherungsgeld eingezahlt wurden. Die bittere Ironie des Ganzen war ihm nicht entgangen.
Und jetzt … Jetzt ging es nicht mehr um ein paar Meter Seidenbrokat. Es ging um Goldmaskottchen, eingeschmolzen im Wert von fünftausend Pfund; und beim nächsten Mal würde es um neuntausend gehen – wenn es überhaupt ein nächstes Mal gab.
Er konnte sich von diesem Alptraum befreien: er brauchte nur Heywood-Smith zu sagen, daß alles aus sei. Aber dann würde es kein, Geld mehr geben, und kein Geld bedeutete keine Prudence. Seit sie ihn einmal ins Grenzenlose gerissen hatte, beherrschte ihn der irrsinnige Wunsch, wieder und wieder mitgerissen zu werden. Sie hatte eine unheimliche Macht über ihn, von der sie wußte und die sie genoß.
Er ging langsam bis zum Ende des Lagerschuppens. Zwischen diesem und dem nächsten Schuppen, auf gleicher Höhe mit dem rostfleckigen Heck des griechischen Trampschiffs, stand eine Telefonzelle. Er ging auf sie zu, durch verstreut herumrollende und verfaulende Orangen, die aus einer geborstenen Kiste hervorquollen. Vor der Telefonzelle blieb er stehen. Schweiß sammelte sich langsam auf seinem Gesicht. Ein Gabelstapler rumpelte mit zwei großen Ballen beladen vorbei. Er stöhnte leise, trat dann rasch in die Zelle und wählte. Heywood-Smith meldete sich. Leery warf Sixpence in den Schlitz. «Es geht los», sagte er mit heiserer Stimme.
«Mein lieber Freund, was für eine erfreuliche Nachricht», war die Antwort.
Es war Mitte August. Das sehr heiße Juliwetter war durch den sehr viel vertrauteren, unangenehmen Wechsel von Hitze und Kälte, Sonne und Regen abgelöst worden.
An einem regnerischen, windigen Tag verließ Fusil das Untersuchungsgericht, das im selben Gebäude wie die Abteilung West des C.I.D. untergebracht war, und trat auf die Straße. Der Wind blies ihm das Haar in die Stirn und in die Augen.
Ein großer, überelegant gekleideter Mann passierte nach ihm denselben Ausgang, und ihm folgte ein zweiter im traditionellen Anzug der Anwälte, schwarzer Jacke und gestreifter Hose.
Der erste sah Fusil, kam zu ihm herüber und sagte höhnisch: «Das war nett von den Richtern.»
«Scheißdämlich.»
«Verärgert, Mr. Fusil?»
«Ich bin immer verärgert, wenn ein alter Gauner davonkommt.»
«Fangen Sie nicht an herumzuschreien, daß ich schuldig bin.»
«Wollen Sie mich wegen übler Nachrede verklagen?»
Der Anwalt flüsterte dem Mann etwas zu; der zuckte die Schultern und sagte, wieder zu Fusil gewandt: «Es wird Zeit, daß ihr mal aufwacht. Ihr seid abserviert. Die Jungens nennen euer Revier das sicherste im ganzen Kreis.»
«Lassen Sie’s mal drauf ankommen, und Sie sausen so rasch ins Kittchen, daß Ihnen die Füße dampfen.»
«Sie gehen ja ran. Sieht’s so mies aus? Gibt man Ihnen nicht mehr als zehn Prozent dafür, daß Sie die Goldaffäre schleifen lassen?»
Der Anwalt sprach jetzt dringlicher auf seinen Klienten ein, und der Mann ging an Fusil vorbei und die Straße hinunter. Der Anwalt sah Fusil an und zuckte entschuldigend die Schultern. Fusil ignorierte ihn und versuchte, seinen Ärger zu beherrschen. Dieser Mann war wegen einer Reihe gemeinster Schwindeleien angeklagt, die er an einem Dutzend älterer Frauen begangen hatte. Die Beweise waren lückenlos mit Ausnahme eines kleinen, unwesentlichen Punktes, aber wegen dieses Punktes hatte das Gericht entschieden, den Täter außer Verfolgung zu setzen. Das war typisch für das heutige Rechtswesen: es wurde von den Liberalen beherrscht, die rasch dabei waren, die Polizei als brutal anzuprangern, aber unfähig zu begreifen, daß ein paar deftige Hiebe zur Selbstverteidigung nötig waren; sie verlangten ununterbrochen Schutz vor Verbrechern, wollten aber der Polizei nicht gestatten, sie tatsächlich zu beschützen, sie sympathisierten mit den Verbrechern, aber nie mit den Opfern; sie verschrieben sich der Aufgabe, die Freiheit der Unschuldigen zu gewährleisten, und übersahen, daß sie dabei die Schuldigen laufenließen.
Die Anspielung auf das Gold war ein Tiefschlag gewesen. Es war lächerlich, sich den Hohn eines Ganoven zu Herzen zu nehmen, und doch ärgerte ihn, was dieser Kerl gesagt hatte. Er hatte den Fall bis jetzt nicht gelöst, und wenn nicht etwas Neues auftauchte, würde er ihn auch nicht lösen. Es war nicht seine Schuld. Er und seine Leute hatten gearbeitet wie die Teufel, aber hatten nichts erreicht. Im Innersten war er sicher, daß der Dieb unter den wenigen Verdächtigen zu suchen war, aber Verdacht allein bringt in England niemand hinter Gitter. Nicht einmal die angewandte Methode war klar. Wenn sie nur mehr Zeit zur Verfügung gehabt hätten; aber da hatten plötzlich die Taschendiebstähle ungewöhnlich zugenommen, und der Stadtrat hatte es mit der Angst bekommen, daß der Name der Stadt Fortrow leiden könnte, was weniger Touristen und damit weniger Einnahmen bedeuten würde. Der Chefinspektor war angewiesen worden, sich vornehmlich um die Unterbindung der Taschendiebstähle zu kümmern, und die Goldaffäre war in den Hintergrund gedrängt worden. Für gewisse Leute gab es nichts Wichtigeres als ihren Profit.
Die Sandstream wurde morgen zurückerwartet. Die Besatzung und ihre Unterkünfte sollten durchsucht, die Mannschaft verhört werden. Am Tiefpunkt seines Pessimismus angelangt, war er bereit, zu wetten, daß sich aus all dem nichts ergeben würde: absolut nichts.
Fusil war seit einer Dreiviertelstunde wieder in seinem Büro, als das Telefon klingelte. Kywood wollte ihn sprechen.
Er trommelte mit den Fingern auf dem Schreibtisch. Was zum Teufel war jetzt wieder los? Kywood hatte alles peinlichst nachgeprüft und war jetzt, kurz vor Ankunft der Sandstream, wie vom Teufel besessen.
Das Telefon klickte zweimal. «Sind Sie da?» fragte Kywood.
«Hier Fusil, Sir.»
«Wellington meldet, auf der Sandacre fehlt eine Ladung Gold.»
Eine Sekunde lang weigerte sich Fusil zu glauben, was er gehört hatte.
«Hören Sie mich?»
«Jawohl, Sir», sagte Fusil zwischen zusammengepreßten Zähnen. Seine Finger hatten aufgehört zu trommeln.
«Ist das alles, was Sie zu sagen haben? Mein Gott, Mann, siebenundzwanzigtausend Pfund sind futsch.»
«Ist das der Versicherungswert oder der reine Goldwert?»
«Das ist doch egal. Es ist gestohlen worden. Und direkt vor Ihrer Nase. Der Chef brüllt, daß die Wände wackeln.»
«Kann ich mir vorstellen.»
«Kommen Sie sofort rüber.» Kywood knallte den Hörer auf.
Fusil stand langsam auf. Wütend starrte er zum Fenster hinaus auf die wenig inspirierende Häuserreihe gegenüber. Diesmal gab es keine Alternative – wenn er die Golddiebstähle nicht aufklärte, war er reif für den Schrotthaufen.