7

Braddon hatte Kerr den Namen von Freddie Ross gegeben. Nach verschiedenen ergebnislosen Nachfragen fand er ihn schließlich in einer Billardhalle.

Sie war im ersten Stock eines alten Gebäudes im südlichen Teil von Fortrow, am Rand der Hafenzone. Der Eingang lag zwischen einem Wettbüro und einem Trödlerladen.

Er ging die Holztreppe zwischen schmutzigen, abbröckelnden Gipswänden hinauf und betrat vom Treppenabsatz aus direkt den Raum. Am Eingang saß ein Mann hinter einem Tisch. Sein Gesicht war eines der häßlichsten, die Kerr je gesehen hatte, und als er sich in seinem Stuhl umdrehte, bemerkte Kerr, daß er bucklig war.

«Morgen, Joe», sagte der Bucklige krächzend. «Suchen Sie jemand?»

Kerr fühlte sich von dem Mann auf eigenartige Weise abgestoßen. Es war, als hätte er ein Stück menschlichen Schleims vor sich, der alles ansteckte, was in seine Nähe kam.

«Einer von Mr. Fusils großen jungen Hoffnungen, was, Joe?» Der Bucklige lachte meckernd.

Kerr wurde rot. So groß waren seine Füße nun auch wieder nicht! «Ist Freddie Ross hier?»

«Ja. Sie interessieren sich für ihn?»

«Ich will nur mit ihm sprechen.»

«Bedienen Sie sich. Wie steht’s mit den fünf Shilling Eintritt?»

«Steck sie dir …» Kerrs verärgerte Antwort war ungewöhnlich für ihn, aber der Bucklige machte ihn nervös.

Kerr ging hinein. Von den fünf Tischen wurden nur zwei benutzt, und als er einen Mann am ersten nach Ross fragte, wurde er an den zweiten verwiesen. Ross war groß und hager, sein Gesicht war schmutzigweiß, als hätte er jahrelang unter Tag gelebt.

Ross schoß schwarz, und damit war das Spiel zu Ende. Sein Gegner fluchte, zahlte ihm ein Pfund und verdrückte sich nach einem raschen Blick auf Kerr.

Ross rollte sich eine fast nadeldünne Zigarette. Als er sie anzündete, verschwand fast ein Drittel davon in einer einzigen Flamme. «Sie tun mir keinen Gefallen, wenn Sie so bei hellem Tageslicht hier reinlatschen.»

«Nennen Sie das Tageslicht?»

Sie gingen ans andere Ende des Raums und setzten sich. Über den letzten drei Tischen brannten keine Lampen, und sie mußten im Halbdunkel sitzen, konnten aber nicht gehört werden.

«Wo ist Mr. Charrington?» fragte Ross.

«Versetzt.»

«Ein netter Bursche.»

«Kenn ihn nicht.»

Ross zog an seiner Zigarette; damit kam er fast bis an ihr Ende und drückte sie zwischen Daumen und Zeigefinger aus. Er steckte die Kippe in seine rechte Jackentasche. «Kam regelmäßig mich besuchen, Mr. Charrington.»

Kerr holte eine Pfundnote hervor und reichte sie ihm. Sie wurde ihm aus der Hand geschnappt. «Was gibt’s Neues am Goldmarkt?»

«Nichts Besonderes.»

«Es muß aber irgendwas geben.»

«Da, wo ich war, nicht, auch wenn in der Zeitung steht, daß ihr welches verloren habt.»

«Denken Sie noch mal nach.»

«Das macht’s auch nicht besser.»

«Dann rufen Sie mich an, wenn Sie was erfahren. Sofern Sie sich an die Nummer erinnern», fügte Kerr spöttisch hinzu. Er stand auf und ging.

Als er zu dem Buckligen am Ausgang kam, krächzte der: «Was Interessantes erfahren, Joe?»

«Ein ganzes Buch voll.»

Der Bucklige wieherte vor Lachen, als wäre Kerrs Antwort ein guter Witz.

Kerr ging weiter und die Treppe hinunter. Bei aller Sorglosigkeit, mit der er das Leben betrachtete, fragte er sich doch, wie erwachsene Leute so tief sinken konnten, Stunden auf Stunden in solchen Lokalen zu verbringen – aber ihm kam auch nicht der leiseste Gedanke, daß das Leben einen seltsame Wege führen kann. Er wußte genau, wohin ihn sein Weg führen würde.

Er fuhr durch das Zentrum in die Altstadt, die merkwürdig von den Bomben verschont geblieben war und die aus schmalen Straßen, vielen Fachwerkhäusern und einer Menge Antiquitäten- und Kuriositätengeschäften bestand. Dies Gebiet gehörte zur Abteilung West, aber vorausgesetzt, daß seine Nachforschungen nur routinemäßig blieben, brauchte niemand in dieser Abteilung zu wissen, daß er sich hier aufhielt. Er sprach mit einem Mann in einem Geschäft für Baumaterial, der ihn zu einer Ziegelei in Leighton schickte.

Die Fahrt nach Leighton führte durch eine hübsche Gegend mit sanften Hügeln, von denen viele auf ihrem Gipfel einen Kranz von Eichen trugen, die dem Volksmund zufolge zur Erinnerung an Trafalgar gepflanzt worden waren. Die zerstreuten Bauernhäuser sahen aus, als seien sie Jahrhunderte alt. Es war eine friedliche, zeitlose Landschaft, wie sie Helen gefiel, dachte er plötzlich.

Die Ziegelei lag eine halbe Meile von dem stillgelegten Bahnhof entfernt. Kerr sprach mit dem Geschäftsführer, erklärte den Grund seines Besuchs und gab ihm einen der Backsteine.

Der Geschäftsführer untersuchte ihn. «Stammt von uns. Das hier ist unser Markensiegel, und diese Art Färbung wird nur von uns angewandt. Sieht hübsch aus, ist aber teuer.»

«Hat Ihre Firma noch irgendwo andere Ziegeleien?»

«Sie hat noch zwei, in der Nähe von Southampton. Aber der Stein stammt nicht daher. Sehen Sie dieses kleine Zeichen? Das zeigt, daß er hier hergestellt worden ist.»

«Gut. Vielen Dank für Ihre Hilfe.»

«Schwerer Fall?»

«Ziemlich.»

 

In einem Londoner Polizeilabor wurde das Packpapier, mit dem die Backsteine festgeklemmt worden waren, untersucht. Ein Stück des Papiers wurde in einer Natriumhydroxid-Lösung gekocht, dann ausgewaschen, auf eine Glasplatte gebracht und unter dem Mikroskop mit Reagenzien zur Feststellung der verwendeten Fasern geprüft. Weitere Untersuchungen ergaben die gebrauchten Mengen an Mineralstoffen, Leim und Gelatine und den Fabrikationsprozeß. Die Laboranten stellten die Ergebnisse der chemischen Untersuchungen zusammen und fügten die leichter erkennbaren Einzelheiten wie Farbe, Oberfläche, Fehlen eines Wasserzeichens, Gewicht, Stärke und Einschlüsse hinzu.

Das Gesamtergebnis wurde auf Lochkarten registriert und dem neuen Computer Midas 2 eingefüttert, der es mit Daten von Tausenden von Packpapieren aus dem ganzen Land verglich.

Eine Serie der Kontrollziffern stimmte in jeder Hinsicht mit der des Testpapiers überein. Sie bezeichnete das Erzeugnis einer Firma, die nur sechzehn Kilometer von Fortrow entfernt lag.

 

Leery kam um sechs Uhr siebzehn nach Hause. Er ließ seinen Wagen vor der Garage, nickte dem pensionierten Bankdirektor zu, der eine Blumenrabatte jätete, und schloß die Haustür auf.

«Bist du es, George?» rief Gladys.

«Jawohl, Liebling.»

Sie humpelte in den Vorraum, schwer auf ihren Stock gestützt.

«Wie geht’s dir?» fragte er und küßte sie auf die Wange.

«Leider ist es mir nicht sehr gut gegangen. Wahrscheinlich die Hitze.»

Obgleich er sich dagegen wehrte, fühlte er wieder Ärger aufsteigen. Warum konnte sie nicht sein wie andere Frauen, kräftig und gesund? Was war das schon für ein Leben? Und warum fand er nicht mehr Sympathie und Verständnis?

Sie legte ihren Arm in seinen und ging mit ihm langsam ins Wohnzimmer. Sie setzte sich, und er goß zwei Gläser ein.

«Du hast mir doch gesagt, daß du zum Abendessen nicht da bist, nicht wahr, George?»

«Ich fürchte, ja.»

«Ich wollte nur sicher sein. Es macht natürlich nichts», setzte sie eilig hinzu. «Ich verstehe wirklich, daß du abends noch arbeiten mußt.»

Er hätte offenen Ärger diesem gewollten Verständnis vorgezogen. Er fragte sich, ob ihr je der Verdacht kam, daß er sich mit einer anderen Frau abgab – und er beantwortete seine eigene Frage sofort. Sie würde diesen Verdacht nie fassen, denn sie kannte ihre eigene Verwundbarkeit nur zu gut und war entschlossen, ihre Gefühle nicht so tief verletzen zu lassen.

Sie hatte jeden Gedanken an die Möglichkeit seiner Untreue sorgfältig aus ihrem Innern verbannt. Sollte je irgend etwas diese innere Mauer durchbrechen, würde der Schock tragische Folgen haben. Nur zwei kostbare Dinge waren ihr im Leben geblieben: ihre Kinder und ihre Ehe. Die Kinder waren fort von zu Hause und lebten ihr eigenes Leben, und so blieb ihr im Grunde nur ihre Ehe.

«Gladys», sagte er plötzlich, «warum kaufst du dir nicht einen Wagen und kommst ein bißchen raus? Du könntest dir einen Chauffeur leisten, und er könnte dich in der Gegend herumfahren. Besser noch, such dir eine Frau, die dir im Haushalt hilft und einen Führerschein hat.»

«Nein. Ich möchte mein Geld für den Notfall aufheben. Irgend etwas Schreckliches könnte dir oder den Kindern zustoßen.»

«Aber warum willst du nicht einen Teil davon benützen, um dir das Leben ein bißchen leichter zu machen?»

«Du weißt, ich will nicht», antwortete sie ungeduldig.

Er trank sein Glas aus. Wollte sie sich das Leben nicht leichter machen, weil sie nichts von ihrem Märtyrertum einbüßen wollte? Er ging zum Cocktailschrank und goß sich einen neuen Drink ein. Wenn er sich doch nur nicht immer so viele Fragen stellen würde! Während seiner Kapitänszeit hatte er nie nach seinen eigenen Motiven oder denen anderer gefragt. Man kann kein Schiff kommandieren und sich gleichzeitig dauernd fragen, ob man das Richtige tut.

«George, willst du mir einen Gefallen tun?» fragte sie unvermittelt.

«Selbstverständlich», antwortete er automatisch.

«Bitte, iß morgen abend hier zu Hause. Ich werde etwas Besonderes machen. Erinnerst du dich, wie ich vor dem Krieg an besonderen Tagen und an Feiertagen immer etwas Besonderes gemacht habe? Wir hatten so wenig Geld, aber es war herrlich.»

Es war gar nicht herrlich, dachte er ärgerlich, aber in der Erinnerung kam es ihr jetzt so vor, denn damals durfte sie tanzen, Tennis spielen, in der Nacht schlafen und ohne Schmerzen sein.

«Tust du’s?»

«Natürlich, Liebling.» Er warf einen raschen Blick auf die Uhr.

Sie bemerkte seinen Blick. «Mußt du weg?» fragte sie.

«Ich fürchte, ja.»

«Wird es spät werden?»

«Möglich.»

Bevor sie noch mehr sagen konnte, stellte er sein leeres Glas auf den Tisch, küßte sie und ging.

Er fuhr von Pendleton Bray nach Marshborough, wenig mehr als fünfzehn Meilen. Während der Fahrt dachte er mit nagendem Ärger an Gregory Heywood-Smith und fragte sich, wie solch ein Mensch so reich sein konnte. Stimmte denn die oft geäußerte Behauptung, daß die Welt jetzt nur noch die Unaufrichtigen, die Aalglatten, die Erfolgreichen ehrte, ohne Rücksicht darauf, wie ihr Erfolg zustande gekommen war?

Heywood-Smith behauptete, sein Vater sei Grieche und seine Mutter Levantinerin gewesen, und er selbst sei in einem Zug geboren, als dieser gerade über die Grenze von Montenegro nach Bosnien fuhr. Ohne Zweifel sei er deshalb ein Weltbürger. Er sagte mit seinem dröhnenden Lachen, seine Eltern seien so ehrlich gewesen, daß er erst fünf Jahre nach ihrem Tod fähig gewesen sei, den letzten hemmenden Einfluß ihrer Ehrlichkeit abzuwerfen. Aber es war ebenso gut möglich, daß sein Vater Straßenkehrer in Ankara und seine Mutter Puffmutter in Kairo gewesen war.

Heywood-Smith wohnte in Heller Towers, unter lauter Börsenmaklern. Sein Haus war ein architektonischer Alptraum, ein Mischmasch aus einem Dutzend verschiedener Stile, mit Säulen, breiten und spitzen Türmen, Erkern und weiß Gott was noch. Als Besitzer dieser wildromantischen Barbarei hätte man ein Ungeheuer erwartet, aber Heywood-Smith sah aus wie der liebe Familienonkel – freilich nur solange, bis man merkte, daß seine schiefergrauen Augen den gefühllosen, eiskalten Blick einer uralten Echse hatten.

Heywood-Smith öffnete die Tür und forderte Leery zum Eintreten auf. «Mein Lieber, wie nett, Sie zu sehen.»

Leery murmelte eine Antwort. Jedesmal, wenn er bei Heywood-Smith war, hatte er das Gefühl, man mache sich über ihn lustig, aber er war sich nie sicher. Der Hausherr blieb stets bei seinem selbstzufriedenen, bombastischen Gehabe.

Sie gingen in den größeren der beiden Gesellschaftsräume. Die Wohnung war ohne Rücksicht auf Stil oder Geschmack möbliert, nur mit der Absicht, zu zeigen, daß sie eine Menge Geld gekostet hatte.

«Setzen Sie sich, verehrter Captain. Einen Drink? Ich kann Ihnen alles anbieten, was Sie wünschen, sogar Absinth. Und es gibt nur noch wenig Leute, bei denen man Absinth angeboten bekommt, stimmt’s?»

«Da haben Sie recht», erwiderte Leery und verachtete sich selbst, weil er dem Wunsch des anderen nach Lob und Beifall nachgegeben hatte.

«Also, was trinken Sie?»

«Bitte Whisky, Gregory.»

«Scotch, Malt oder Blended, Irish, Bourbon, Soda, Wasser oder pur?»

«Gewöhnlichen Scotch mit Soda, bitte.»

«Ein Mann von Gewohnheiten, was?»

Leery folgte seinem Gastgeber mit den Augen, als dieser zu einem übergroßen Cocktailschrank mit eingelegten Ornamenten ging. Heywood-Smith wog offensichtlich über zwei Zentner, doch er bewegte sich leicht wie eine Katze und in perfekter Ausgewogenheit. Er brachte den Whisky und seinen eigenen Drink auf einem Silbertablett, das ihn, wie er sagte, zweihundertfünfzig Pfund gekostet hatte. Leery wußte, was man von ihm erwartete, und zeigte sich erstaunt über den Preis.

«Silber ist die Sache», dröhnte Heywood-Smith. «Stecken Sie Ihr Geld in Silber, auch heute noch, und Sie können nicht fehlgehen.» Er hob sein Glas. «Fein, daß man Sie mal wieder sieht.»

«Wir müssen …» begann Leery mit dringlicher Stimme.

«Zigarette? Was rauchen Sie am liebsten? Virginia, türkisch, ägyptisch?»

«Ist mir gleich, Gregory.»

«Dann versuchen Sie mal diese hier.» Heywood-Smith holte eine silberne Zigarettendose und machte sie auf. Darin lagen King-size Zigaretten mit dem goldenen Monogramm GHS.

Leery nahm eine Zigarette und ließ sich Feuer geben. «Die Polizei …»

«Der Tabak ist in der Hauptsache erstklassiger Virginia mit einer Schattierung Balkan. Sonderanfertigung für mich gemacht, natürlich.»

Leery trank rasch. Heywood-Smith machte sich über seine ängstliche Ungeduld lustig und unterbrach absichtlich seine Ansätze zu sprechen. Leery wünschte plötzlich mit hoffnungslosem Verlangen, daß er, als er vor achtzehn Monaten Prudence kennenlernte, die Kraft gehabt hätte, sein heftiges Begehren zu unterdrücken. Aber er hatte sie nicht gehabt. Später, als sein Bankguthaben um achthundert Pfund überzogen war und der Bankdirektor unangenehm wurde, hatte er versucht, das Verhältnis abzubrechen. Aber da war es bereits zu spät gewesen. Sein Bedürfnis nach ihr war das des Alkoholikers, dessen Körper und Geist verlangt, was beide vergiftet. Er hatte mit dem Bankdirektor verhandelt, alte Silberbestecke versetzt, sogar seiner Frau Geld gestohlen, aber das alles hatte nicht ausgereicht, um Prudence zufriedenzustellen. Sie hatte sich ihm verweigert. Sein Hirn hatte ihn mit Bildern gefoltert, er sah sie nackt in den Armen eines anderen Mannes liegen und all die Dinge tun, die sie mit ihm getan hatte. Er war wahnsinnig geworden. So wahnsinnig, daß ihm eines Nachmittags, im Laderaum eines Schiffes, plötzlich die Lösung klargeworden war – er war umgeben von Waren im Wert von Hunderttausenden von Pfunden.

«Sie sind auffallend ernst, mein lieber Freund», dröhnte Heywood-Smith. «Hoffentlich nichts Unerfreuliches. Ihre Frau …?»

Leery erschrak bei dieser Frage. Bis jetzt hatte er nie Grund gehabt zu denken, daß der andere etwas von dem Zustand seiner Frau wußte. Wußte er etwas von Prudence?

Heywood-Smith trank aus und stand auf. «Noch einen? Ich habe einen Freund, dessen Lieblingsausspruch ist, es gebe nur ein Ding auf der Welt, das angenehmer sei als ein Whisky mit Soda, nämlich zwei Whisky mit Soda. Er ist ein netter Kerl, aber etwas aufgeblasen.»

Während Leery ihm sein Glas hinreichte, fragte er sich, wie aufgeblasen dieser Mann sein mußte, wenn es Heywood-Smith auffiel. Und doch, war Heywood-Smith tatsächlich aufgeblasen, oder war das nur eine Pose? Wer weiß. Die kalten, stechenden, schiefergrauen Augen ließen niemand sehen, was dahinter lag. Manchmal hatte Leery die phantastische Vorstellung, daß hinter dem grobschlächtigen Äußeren ein anderer und viel kleinerer Mann steckte, der seine Verkleidung ablegte, wenn er allein war.

Heywood-Smith füllte die Gläser wieder, ging zu seinem Sessel zurück und setzte sich. Der stoffbezogene Sessel krachte, als er das Gewicht aufnahm. Leery erinnerte sich, wie er beim ersten Zusammentreffen heimlich über den anderen gelacht hatte. Das war ein großer Fehler gewesen.

Heywood-Smith drückte seine erst halb gerauchte Zigarette aus und zündete eine neue an. «Sie sagten, mein Lieber …?»

«Sagte?» wiederholte Leery.

«Wollten Sie nicht etwas mit mir besprechen im Zusammenhang mit der Polizei?»

Leery zwang sich, seine Gedanken zu ordnen. «Sie sind überall, fragen alle Welt aus. Es ist keine sichere Sache, mit der zweiten Partie weiterzumachen.»

«Unsinn.»

«Ich schwöre es. Sehen Sie, wenn wir weitermachen …»

«Überlassen Sie diese Seite der Sache mir, mein lieber Captain. Machen Sie sich eines klar, Panik ist der beste Freund eines Polizisten. Wenn Sie nicht in Panik geraten, brauchen Sie sich gar keine Gedanken zu machen.»

«Wir sollten nicht –»

«Aber wir werden», unterbrach ihn Heywood-Smith, und zum erstenmal an diesem Abend klang seine Stimme nicht jovial, sondern kalt und scharf.

Leery widersprach nicht weiter.

Eine Viertelstunde später verabschiedete er sich. Er war mit dem Entschluß gekommen, mit den Golddiebstählen ein Ende zu machen, weil sie zu gefährlich waren, aber er hatte nur erreicht, vor sich selbst als Feigling dazustehen. Er fuhr zu schnell und reagierte damit etwas von seinem Selbsthaß ab.

Im Salon goß sich Heywood-Smith einen dritten Drink ein und zündete eine Zigarette an. Er dachte, daß Leery einer der großen Narren dieser Welt war. Seinen ehrlichen Namen – für einen Mann seiner Erziehung von höchster Bedeutung – wegen einer Nutte zu verlieren, war in der Tat ein lächerlicher Wahnsinnsakt.

Heywood-Smith dachte mit tiefer Genugtuung, daß im Gegensatz dazu er selbst weit davon entfernt war, ein Narr zu sein. Er hatte etwas Wichtiges gelernt, und diese Entdeckung hatte ihn zu einem schwerreichen Mann gemacht und würde ihn noch reicher machen. Er hatte es in Amerika gelernt, wo die Leute so viel weniger an die Traditionen gebunden sind. Es war eine einfache Tatsache: Wer alle seine Energien darauf verwendete, die Polizei an der Aufdeckung der Tatsachen zu hindern, war ein Narr. Wer jedoch dafür sorgte, daß die Polizei die wahren Tatsachen nie legal beweisen konnte, wurde in Ehrbarkeit und Reichtum alt. Die Strafgesetze waren gemacht worden, um die Unschuldigen vor den Schuldigen zu schützen; durch eine seltsame Wandlung waren sie jetzt jedoch in ein Stadium getreten, in dem die cleveren Schuldigen sie dazu benützen konnten, sich selbst vor den Unschuldigen zu schützen. Weshalb sich also Gedanken machen, wenn die Polizei auch wußte, daß er ein bißchen Marihuana hier, ein bißchen Heroin dort verkauft, ein paar Frauen aus Frankreich und Italien importiert und mit väterlichem Auge über sie gewacht hatte, daß er seine Finger in Wettbüros, Ganovengruppen, Spielklubs hatte … Bevor die Polizei etwas unternehmen konnte, mußte sie vor einem Gerichtshof beweisen können, was sie wußte. Und eine Beweisführung brauchte Zeugen, und Zeugen vergaßen oft, was sie gesehen oder gehört hatten, besonders wenn kleine Unfälle sie daran erinnerten, daß gelegentlich auch große Unfälle in dieser unvollkommenen Welt passierten.

Er drückte die halbgerauchte Zigarette aus und steckte sich eine neue an. Er hatte irgendwo gelesen, daß das Risiko von Lungenkrebs beträchtlich abnehme, wenn man die Zigaretten nur halb aufrauche. Der Gedanke an Lungenkrebs machte ihm weiche Knie.

Er war ein reicher Mann, und Amerika hatte ihn noch etwas gelehrt: Wenn du zu etwas Geld gekommen bist, steck es in legale Geschäfte und laß es legal arbeiten. Es vermehrt sich rasch, und je mehr es wird, desto ehrenwerter wirst du: und je ehrenwerter du wirst, desto eher sind die Gesetze aller Länder genau auf deine sehr speziellen Bedürfnisse zugeschnitten. Das einzige, was er bis jetzt nicht konnte, war, auf Verweigerung der Aussage plädieren, aber das würde vielleicht in England auch noch möglich werden.

Leery war ein Schwächling und ein Narr, wenn er glaubte, die nächste Goldsendung bleibe unangetastet. Er lebte in der Angst, die Polizei könnte ein paar Tatsachen aufdecken. Sicher würde sie das, früher oder später. Sie würde Leerys Rolle bei den Golddiebstählen aufdecken, ihn vielleicht vor Gericht stellen und ins Gefängnis stecken. Aber selbst wenn sie dahinterkamen, wer das Ganze geplant hatte, würden sie nie etwas beweisen können – so beweisen, daß ein Gericht überzeugt war.

Er dachte an das Gold, und das Wasser lief ihm im Munde zusammen, als hätte man ihm Malassol-Kaviar vorgesetzt. Gold war so schön, daß der Gedanke daran beinahe weh tat, vom Berühren gar nicht zu reden. Er haßte es, sich davon zu trennen, doch gab es einen Trost: Geld war fast ebenso schön wie Gold.

 

Judy Anderson war, so unglaublich es klingt, beinahe genau so, wie Kerr sie sich vorgestellt hatte: eine eindrucksvolle Brünette mit einem Gesicht wie ein Filmstar. Sie bewegte sich mit so biegsamer Grazie, daß jeder ihrer Schritte von dem gedämpften Ton springender Sektkorken begleitet schien: sie hatte eine heisere, intim klingende Stimme, in der so vieles mitschwang, daß sein Gehirn ganz durcheinandergeriet; sie war einmalig, ganz und gar, hundertfünfzigprozentig aufregend. Andererseits war sie auch unleugbar kostspielig.

Als sie das Restaurant verließen, versuchte Kerr auszurechnen, wieviel Geld er noch hatte. Das Essen hatte drei Pfund fünfzehn gekostet, obgleich er in dem Augenblick, als er die Preise sah, sofort erklärt hatte, er habe nicht den geringsten Hunger; er hatte ein Trinkgeld von drei Shilling gegeben, das der Kellner verachtungsvoll entgegengenommen hatte; das Taxi zum Restaurant war auf sechs Shilling gekommen … Aber – so sagte er sich, wenn schon etwas trübsinnig – umsonst ist der Tod. Auf alle Fälle hatte er gerade noch soviel Geld, um das Taxi zurück zu ihrer Wohnung zu bezahlen.

Das Haus, in dem sie ein Zimmer bewohnte, entsprach nicht dem, was er erwartet hatte: es sah fast schäbig aus. Judy erzählte ihm, nachdem er das Taxi bezahlt hatte und es weggefahren war, ihre Wirtin sei ein bißchen altmodisch und habe Männerbesuche spät abends verboten, aber wenn er sich ruhig verhalte, bis sie in ihrem Zimmer im Erdgeschoß seien, würde der alte Drachen es nicht merken.

Er folgte ihr durch den dunklen Eingang … Er wurde zehn Fuß groß und sechs Fuß breit, und Superman war ein Zwerg gegen ihn. Er küßt sie sanft, sie erbebt. Sie wehrt ihn ab, aber nur um die Form zu wahren. Bei der Berührung seiner Hand biegt sich ihr Rücken. Ein heftiger Kuß, und ihre Lippen brennen, ihr Widerstand schmilzt dahin. In sklavischer Untertänigkeit …

Er küßte sie. Er machte einen weiteren kleinen Fortschritt, doch dann sagte sie freundlich, dabei müsse es bleiben. Und dabei blieb es dann auch.