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Kerr sah auf die Kaminuhr; auf dem Rost des Kamins lagen sechs versilberte Tannenzapfen, die seine Mutter jeden Sommer dorthin legte.

«Du wirst zu spät kommen, wenn du nicht aufpaßt», sagte sein Vater.

«Hast du alles?» fragte seine Mutter besorgt.

«Alles okay.» Er lächelte. Seine Mutter war durchaus nicht davon überzeugt, daß er groß genug war, um auf sich selbst aufzupassen. Wenn man sie gelassen hätte, wäre sie bestimmt zum Polizei-Wohnheim gegangen, um nachzusehen, ob die Bettlaken auch richtig gelüftet waren.

«Nett, daß du wieder mal zu Hause warst», sagte sein Vater fast schüchtern.

«Tut mir leid, daß ich den Garten nicht fertig machen konnte.»

«Hattest wichtigere Dinge zu tun, was?»

Seine Mutter sagte rasch: «Sie ist ein nettes, anständiges Mädchen, John. Ein sehr anständiges Mädchen.»

Nett und anständig, dachte Kerr, bedeutet für jeden etwas anderes. Helen war zweifellos nett im Sinne von gut erzogen, und er mochte sie sehr gern, aber es gab Augenblicke – wie neulich abend – in denen er wünschte, sie wäre weniger anständig. Der Mensch war nur einmal jung, und solange er jung war, wollte er ein bißchen über die Stränge schlagen. Helen war in solchen Dingen altmodisch.

«Wir hoffen, daß du sie wieder herbringst», sagte seine Mutter betont. «Du könntest viel schlechter fahren.»

«Mir stehen aber noch ein paar Jahre Freiheit zu.»

«Dein Vater und ich, wir haben geheiratet, bevor wir so alt waren wie du.»

Kerr sagte nichts. Er beneidete sie um ihr Glück, fand es aber unlogischerweise etwas beengend. Wußten sie überhaupt, daß es außerhalb ihrer Gemeinschaft noch Leben gab? Im Laufe der Zeit würde er heiraten und gesetzt werden, und wenn die Auserwählte Helen war, um so besser; aber vorläufig wollte er noch einige Erinnerungen sammeln.

Die Uhr in der Diele schlug. Kerr sah auf die Kaminuhr.

«Die geht genau», sagte sein Vater. «Die andere sollte nachgesehen werden.»

«Immer noch?»

«Ich finde niemand, der mit diesen alten Uhren umgehen kann.»

Sie lebten äußerlich in der Gegenwart, dachte Kerr, aber innerlich zweifellos in der Vergangenheit. Das Haus hatte weder fließend Warmwasser noch Wasserspülung, und die Miete betrug acht Shilling und vier Pence pro Woche. Manchmal fragte er sich, ob sie immer noch grüßend die Finger an die Stirn legten, wenn der Gutsherr vorbeifuhr. Er selbst würde vor niemand die Finger an die Stirn legen, und sein künftiges Haus würde Warmwasser, Wasserspülung und ein Fernsehgerät haben. Sie hörten einen Wagen vorfahren.

«Da ist er», sagte sein Vater. «Hast du genügend Geld?»

«Ja, danke.»

«Er ist nicht billig.»

«Schon gut, danke.» Sie hielten es für Verschwendung, im Ortstaxi zum Bahnhof zu fahren. In seinem Alter wären sie die zweieinhalb Meilen, selbst mit zwei Koffern, zu Fuß gegangen und hätten sich nichts dabei gedacht.

Er küßte seine Mutter, sagte seinem Vater auf Wiedersehen und ging. Auf dem Bahnhof hatte er noch fünf Minuten Zeit und kaufte sich ein Taschenbuch, weil der Einband ein kurvenreiches nacktes Mädchen zeigte. Im Zug fand er ein leeres Abteil und nahm einen der Eckplätze in Fahrtrichtung. Er zündete eine Zigarette an und dachte an seine Versetzung nach Fortrow. Von Fusil sagte man, er sei ein scharfer Hund, der junge Constables verfrühstücke. Doch er sagte sich, selbst wenn Fusil so schlimm war wie sein Ruf, so war es doch sehr viel interessanter, in Fortrow Dienst zu tun als in der Abteilung G, deren größte Ortschaft ein totes Kuhnest war. Helen arbeitete in Fortrow, und so würde immer eine Schulter da sein, auf die er sein Haupt betten konnte.

Der Zug verließ den Bahnhof und beschleunigte die Fahrt. Er las in seinem Buch und entdeckte, daß der Inhalt nicht auf der Höhe des Einbandes war, was ihn ärgerte und langweilte. So legte er das Buch erleichtert weg, als er fünfundvierzig Minuten später auf dem Hauptbahnhof von Fortrow ankam.

Er nahm ein Taxi vom Bahnhof zum Polizeirevier. Das hieß Geld ausgeben, aber dazu war Geld schließlich da. Seine Eltern hatten ihr ganzes Leben lang gespart – ein Wunder bei dem niedrigen Einkommen –, und jetzt hatte die Inflation ihre Ersparnisse so gut wie wertlos gemacht. Hatte nicht irgend jemand einmal gesagt: Lasset uns essen, trinken und fröhlich sein, denn morgen sind wir tot?

Er ging in die Anmeldung, stellte seine Koffer ab und sprach mit dem Sergeant vom Dienst. Dann ging er den Gang entlang, eine Treppe hinauf, einen anderen Gang entlang bis zu der Tür an seinem Ende. Er klopfte an und ging hinein.

«Detective Constable Kerr, Sir. Hier sind meine Papiere.» Er gab dem Inspektor die beiden Umschläge, von denen einer versiegelt war und seine halbjährlichen Beförderungsberichte von seiner Vereidigung an enthielt.

Fusil nahm wortlos die Umschläge.

Nur nicht zu viele Willkommensflaggen hissen, dachte Kerr. Er studierte den Inspektor. Der Mann sah hart und glatt aus, genau seinem Ruf entsprechend.

«Sie haben noch keine Erfahrung als Kriminalbeamter?» sagte Fusil unvermittelt.

«Ich bin eben erst ernannt worden, Sir. Aber ich habe sechs Monate als Hilfs-Constable gearbeitet.»

«Natürlich», sagte der Inspektor und schob die Umschläge beiseite.

Ein Witzbold, dachte Kerr. Gehört vermutlich zu denen, deren größtes Vergnügen es ist, andere zusammenzustauchen. Er soll ja vor der Beförderung zum Chefinspektor gestanden haben, als ihm sein letzter Fall schiefging. Wäre das nicht passiert, dann könnte jetzt jemand anderes Chef der Abteilung Ost sein.

«Sie lösen einen erstklassigen Mann ab», sagte Fusil.

«Jawohl, Sir», antwortete Kerr und fragte sich, ob man von ihm einen Salam deswegen erwartete.

«Sagen Sie Sergeant Braddon, er soll Ihnen Starthilfe geben. Wir haben viel zu wenig Leute, also sehen Sie zu, daß Sie richtig spuren.»

«Jawohl, Sir.»

«Der Dienstwagen ist nur in dringenden Fällen zu benutzen. Normalerweise nehmen Sie die öffentlichen Verkehrsmittel. Im Notfall können Sie ein Taxi nehmen, aber nur im Notfall. Ist das klar?»

«Jawohl, Sir.»

«Noch etwas. Wir arbeiten hier als Team: ein Team, das nicht den ganzen Tag an die Teepause denkt.»

«Jawohl, Sir.»

«All right.»

Kerr verließ das Zimmer und blieb, nachdem er die Tür geschlossen hatte, im Gang stehen. Offenbar wurde hier ein Tag von nur dreiundzwanzig Arbeitsstunden als Ruhetag betrachtet! Die Tür gegenüber öffnete sich, und ein rothaariges Mädchen kam mit ein paar Papieren in der Hand heraus. Sie war auf eine etwas laute Weise attraktiv, ihre Figur war voll und auffällig. Sie fegte an Kerr vorbei, als ob er unsichtbar wäre. Er sah hinter ihr her, wie sie den Gang entlang zur Treppe ging, und pfiff leise. Es war also nicht alles Trübsinn und harte Arbeit in der Abteilung Ost.

Die Behauptung des Inspektors, daß die Abteilung ein Team sei und nicht dauernd an die Teepausen denke, stimmte, wie Kerr bald merkte. Er hatte gehofft, nach der Meldung beim Sergeanten – einem vernünftigen Mann, der nur etwas trübselig dreinsah – ins Wohnheim fahren und den Rest des Tages zur Akklimatisierung verwenden zu können. Statt dessen führte man ihn in den leeren Dienstraum, zeigte ihm seinen Schreibtisch und gab ihm sofort die Adresse einer Farbenfabrik, bei der in der Nacht zuvor eingebrochen worden war.

Er fragte den Sergeanten vom Dienst nach dem kürzesten Weg zu der Farbenfabrik, der ihm riet, ein Taxi zu nehmen. Kerr sagte, der Inspektor habe sehr deutlich betont, Taxis seien nur für Ausnahmefälle da. Der Kommentar des Sergeanten war, das Leben sei ein einziger Ausnahmefall mit gelegentlichen Krisen.

Die Farbenfabrik, die er mit dem Bus 41 a erreichte, lag in einem nordöstlichen Vorort. Die beiden Gebäude waren alt und düster, und der Safe, in dem das Geld gelegen hatte, schien noch älter als die Gebäude. Kerr sprach mit dem Sergeanten, der den Safe und alle anderen Flächen nach Fingerabdrücken untersuchte, vergewisserte sich, daß die richtigen Fotos gemacht worden waren, und erfuhr schließlich die Adresse des Nachtwächters. Er mußte einen anderen Bus nehmen und dann eine halbe Meile laufen. Die Sonne brannte, und er geriet so ins Schwitzen, daß in seiner Vorstellung ein Strand, ein kühles, träumerisches Meer und ein noch kühlerer Drink in einem von Eis beschlagenen Glas auftauchten. Schließlich fand er die Wohnung des Nachtwächters, der offensichtlich nichts gehört oder gesehen hatte.

Kerr kehrte zum Revier zurück und ging hinauf in das Büro des Sergeanten, in dem er niemand vorfand. Auf dem Schreibtisch standen zwei Fotos, eins zeigte eine rundliche Frau mittleren Alters, das andere zwei Kinder. Kerr stellte sich Braddons Familienleben vor: Hemdsärmel, Hosenträger, Bier, Fernsehen und einmal wöchentlich Bingospiel. Er hoffte, davon noch jahrelang verschont zu bleiben. Er wollte noch Spaß vom Leben haben. Eine große Blondine, einen Aston Martin, eine zum Bersten volle Brieftasche, Aufregung. Ein James Bond sein, gefährlich leben. Er steckte die Hand in die Jackentasche, Zeigefinger ausgestreckt – und sah sich dem schlitzäugigen Mongolen gegenüber, der hinter der nackten Blonden stand und sie gerade mit sadistischer Wut foltern wollte. Die Schlitzaugen des Mongolen schienen von einem bösen inneren Feuer zu glühen … Braddon kam herein.

Die beiden Männer starrten einander an. Kerr nahm die Hand aus der Tasche.

Braddon zog ein Paket Zigaretten hervor. «Blähungen?»

«Sozusagen.»

«Nimm ein Magenpulver. Ich hab auch Blähungen; fühle mich manchmal wie ein alter Sperrballon. Pulver hilft immer.» Er bot eine Zigarette an, ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich. «Fertig mit der Farbenfabrik draußen?»

Kerr wollte eben antworten, als das Haustelefon einmal klingelte. Braddon hob ab, horchte, antwortete kurz und legte wieder auf. «Das war der Inspektor, wollte wissen, ob du verschüttgegangen bist.»

«Ich?»

«Er sagt, er hat dich vor ein paar Tagen weggeschickt, um einen Mann wegen eines Geldschranks zu vernehmen, und seitdem hat niemand was von dir gehört.»

«Ich war höchstens drei Stunden weg und die Hälfte davon in Autobussen.»

«Warum hast du unsern Schlitten nicht genommen? Er war frei.»

«Der Inspektor hat mir gesagt, ich soll öffentliche Verkehrsmittel benutzen, außer die Welt geht unter.»

«Nimm nächstes Mal den Wagen.»

Kerr zögerte und fragte dann: «Ist er so scharf, wie er tut?»

«Der Inspektor? Er ist in Ordnung – vorausgesetzt …»

«Vorausgesetzt was?»

«Daß man auf Befehl Wunder tut.» Braddon lehnte sich zurück. «Er ist ein guter Detektiv, laß dich nicht täuschen. Und noch etwas, er tritt für seine eigenen Leute mit Klauen und Zähnen ein – so eine Art Korpsgeist.»

«Alles sehr feudal.»

Braddon sagte gutgelaunt: «Denk dran, daß sich die Welt schon gedreht hat, als du man gerade ein Zwinkern im Auge deines Alten warst – und wenn du mich fragst, war es damals besser. Nicht alles Neue ist so viel wert.»

«Sicher nicht.»

Braddon grinste und klopfte seine Zigarettenasche in einen Aschenbecher. «Um auf den Inspektor zurückzukommen: Wenn du dein Bestes tust, und es taugt was, wirst du ihn okay finden. So, hau jetzt ab und berichte ihm von deiner Farbenfabrik,»

Kerr drehte sich um und ging zur Tür.

«Geh nicht mit der Zigarette rein», sagte Braddon.

«Gegen den Korpsgeist?»

Braddon lachte, und sein Bluthundgesicht sah plötzlich beinahe fröhlich aus.

Kerr ging ins Büro des Inspektors. Fusil fragte nach dem Bericht, und Kerr gab ihn, so knapp wie er es auf dem Polizei-College gelernt hatte.

«War der Nachtwächter die Nacht über wach oder hat er geschlafen?» fragte Fusil.

«Er schwört, daß er wach war, Sir, aber meiner Ansicht nach hat er die ganze Zeit gepennt.»

«Kann er absichtlich in die entgegengesetzte Richtung geguckt haben? Ist er im Strafregister?»

«Ich … Ich habe das noch nicht nachgeprüft, Sir.»

«Warum nicht?»

«Ich bin eben erst ins Revier zurückgekommen, Sir.»

«Was hat es für einen Sinn, zum Rapport zu kommen, bevor Sie nicht einmal die elementaren Routine-Nachforschungen angestellt haben? Selbst ein eben ernannter Constable sollte das wissen.»

«Jawohl, Sir.» Sofort Kriegsgericht, Fanfaren, Degen weggenommen, Schulterstücke abgerissen …

«Was?» fragte Fusil.

«Nichts, Sir.»

Fusil sah ihn scharf an. «All right», sagte er nach einer Weile.

Kerr ging. Draußen sah er auf seine Uhr. Es war kurz nach sechs. War das Feierabend, oder mußte man bis Mitternacht in der Tretmühle bleiben? Ein Freund von ihm hatte eine Kusine, die ein Bissen sein sollte. Sie arbeitete im Fernsehstudio in Fortrow. Je eher er erfuhr, was für ein Bissen sie war, desto eher würde das Leben erfreulich werden.

In seinem Dienstzimmer klopfte Fusil seine Pfeife in dem übervollen Aschenbecher aus. Er gähnte, sah auf die Uhr und erinnerte sich, daß er versprochen hatte, um halb sieben zu Hause zu sein. Es war bereits drei Viertel. Josephine, einer der wenigen Menschen auf der Welt, denen er es wirklich recht machen wollte, würde bald anfangen, sich zu sorgen.

Das Telefon klingelte. Er fluchte, fragte sich, ob er es ignorieren sollte, tat es aber nicht. Chefinspektor Kywood war am Apparat.

«Eben ist ein Bericht aus Australien gekommen, Bob. Die Sandstream ist beim Löschen in Sydney, und sie hat eine Ladung Sonderware, einschließlich Goldmaskottchen – das Zeug, das die Frauen sich an die Armbänder hängen. Eine Partie davon ist gestohlen worden, in dem Behälter war nichts als Backsteine und Packpapier. Die Polizei in Sydney schwört, daß der Diebstahl nicht drüben ausgeführt werden konnte.»

«Ich würde dasselbe tun, wenn ich in ihrer Haut steckte – dann können sie sich eine Untersuchung sparen. Wieviel ist das Gold wert?»

«Die Maskottchen sind auf fünfzehntausend Pfund geschätzt; Gewicht rund zweiundzwanzig Pfund, eingeschmolzen ein Wert von ungefähr fünftausend. Das Schiff ist von Platz zwölf, New Dock, abgefahren – in Ihrem Bezirk. Die Maskottchen kommen von Whitehaven, Cumberland, und sind unter Sonderbewachung per LKW gebracht worden. Ich schicke Ihnen den ganzen Bericht sofort rüber. Der Reederei-Inspektor ist Captain Leery.»

Kywood legte auf. Fusil gähnte, reckte die Arme und stand auf. Jetzt mußte er Josephine anrufen und ihr erklären, daß er trotz aller Versprechen nicht annährend zur abgemachten Zeit zu Hause sein würde. Besser und auch taktvoller war es jedoch, dann nicht zu sagen, wie spät es werden könnte.