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Fusil arbeitete in seinem Büro, als Kywood unangemeldet hereinstürzte. Fusil sah erstaunt auf.

«Lesen Sie das.» Kywood warf einen vollbeschriebenen Aktenbogen auf den Tisch.

Fusil nahm das Papier und begann zu lesen. «Gottverdammte Lüge», sagte er plötzlich laut.

«Lesen Sie zu Ende», sagte Kywood scharf, und in seiner Stimme war ein befehlender Unterton, den man nicht mehr gehört hatte, seit er die Untersuchung der Goldaffäre leitete.

Fusil las die Aussage zu Ende. «Schön. Und jetzt werde ich den Wisch zerreißen und ins Klo werfen.»

«Reden Sie keinen Unsinn.»

«Glauben Sie ein Wort davon?»

«Was ich glaube, spielt keine Rolle. Sie glauben’s nicht, ich glaub’s nicht – wir müssen uns dennoch damit befassen. Walker hat ihn angezeigt, und die Sache muß untersucht werden.»

Fusil sprach ruhiger. «Gut, also untersuchen wir die Sache schnellstens, um so schneller wird Kerr entlastet.»

«Möglich.»

«Denken Sie etwa, daß doch was dran ist?»

«Auch Polizisten gehen gelegentlich krumme Wege.»

«Nicht in meiner Abteilung.»

«Was hat das mit Ihnen zu tun? Leidet Ihr Stolz nicht, daß jemand in Ihrer Abteilung auf Abwege geraten könnte?»

«Ich setze meinen Stolz in meine Abteilung, schön. Aber ich kenn auch meine Leute. Ich war zuerst nicht sehr begeistert von Kerr, als er kam, in keiner Weise, und es kann auch immer noch passieren, daß er Blödsinn anstellt, weil er noch nicht begriffen hat, daß die Welt nicht nur aus Wein, Weib und Gesang besteht; aber er hat gezeigt, daß er ein guter Kriminalbeamter ist. Er würde nie krumme Sachen machen.» Es war das erste Mal, daß Fusil sich für Kerr einsetzte; aber obgleich seine Reaktion fast automatisch war, denn er hätte jeden Mann seiner Abteilung gegen eine solche Anklage verteidigt, lag ihr doch auch die wirkliche Überzeugung zugrund, daß Kerr seiner eigenen Truppe nie Unehre machen würde.

«Jeder Mensch hat seinen Preis», sagte Kywood scharf.

«Und glauben Sie, hundert Pfund sind Kerrs Preis?»

«Eine Erpressung geht weiter. Kerr meinte vielleicht, er hat sich eine Rente gesichert.»

«Lassen Sie mich mit Walker sprechen.»

«Nicht in Ihrer augenblicklichen Stimmung. Sie würden ihn gleich fertigmachen, damit er sagt, was Sie wollen.» Kywood setzte sich. «Sehen Sie den Tatsachen ins Gesicht, Bob. Es muß schon etwas sehr Wichtiges sein, wenn Choppy Walker aufs Revier kommt und freiwillig Fahrerflucht zugibt.» Er beugte sich vor. «Sie haben mir berichtet, daß sich nach Kerrs Meinung Evans alte Taue unter den Nagel gerissen hat.»

«Und?»

«Wenn auf dem Lieferwagen zur Zeit des Unfalls noch ein zusätzliches Tau war, dann müßte sich Walker überdies noch wegen Hehlerei verantworten. Das wäre ein starker Anreiz für eine Erpressung. Walker hat ein langes Vorstrafenregister für kleinere Vergehen; für Hehlerei würde er in Sicherheitsverwahrung kommen, und um das zu vermeiden, würde er mit Handkuß hundert Pfund zahlen … Bis er sich mal die Zeit zum Nachdenken nimmt und dahinterkommt, daß er dann ewig weiterzahlen muß. Das paßt alles zusammen.»

«Ich sage, es paßt nicht zusammen.»

«Und ich sage, Kerr wird ab sofort suspendiert, mit vollen Bezügen.»

«Das ist nicht fair, Sir.»

«Es ist Vorschrift.»

Fusil murmelte etwas über die Vorschrift, was Kywood geflissentlich überhörte. «Wer soll die Untersuchung durchführen, Sir?»

«Sie wissen genau, daß es jemand von einer anderen Truppe sein muß.» Kywood rieb sich den Nacken. «Wie heißt der Mann, mit dem Sie zusammen beim Kreis-C.I.D. waren, der jetzt Chefinspektor ist?»

«Peters?»

«Genau der. Ich will sehen, daß ihn der Kreischef freigibt.»

«Danke, Sir.»

Die Vorschrift wurde eingehalten. Es stand nirgends, daß der Vorgesetzte des Angezeigten und der Untersuchungsbeamte nicht befreundet sein durften.

«Wenn Kerr unschuldig ist, handelt es sich um eine abgekartete Sache», sagte Fusil.

«Offensichtlich.»

«Wegen des Goldes.»

«Das ist neunundneunzig Prozent sicher. Und das sollte Ihnen weiterhelfen.» Kywood nieste plötzlich. Er schneuzte sich.

«Morgen wird wieder eine Partie Gold geladen?»

«Jawohl.»

«Behalten Sie sie im Auge.»

«Ich hatte nicht die Absicht, an die Riviera zu fahren.»

«Sie werden jede freie Minute an der Sache Kerr arbeiten.»

«Haben Sie schon den Chief Constable informiert?»

«Nein.»

«Wird er alles tun, um Kerr zu stützen?»

«Hören Sie, Bob, der Alte fällt uns allen gelegentlich auf den Wecker, aber er steht unbedingt zu seinen Leuten, solange nicht eindeutig erwiesen ist, daß sie schuldig sind.»

«Das ist nur recht und billig.»

Kywood stand auf. «Ich mach mich auf die Socken.»

«Ja, Sir. Wollen Sie mir die Kopie von Walkers Aussage dalassen?» Er nahm sie und legte sie auf seinen Schreibtisch.

 

Kywood ging. Fusil stopfte seine Pfeife und zündete sie an. Logischerweise konnte ein Inspektor nicht dafür verantwortlich gemacht werden, wenn einer seiner Leute plötzlich auf Abwege geriet, aber es bedeutete immerhin, daß in seiner Abteilung etwas faul war. Er schüttelte ungeduldig den Kopf. War Kerr auf Abwege geraten? Er hatte Kywood gegenüber die Möglichkeit abgeleugnet, aber konnte man je für einen anderen Menschen in jeder Hinsicht garantieren? Gab es außer dem Wort eines kleinen Gauners noch andere Beweise?

Er rief über das Haustelefon im Dienstzimmer an und bestellte Kerr in sein Büro. «Kerr, es ist eine Beschwerde gegen Sie eingereicht worden.»

«Sir?» Kerr war verhältnismäßig unbesorgt. Seitdem ein Innenminister die Öffentlichkeit dazu ermuntert hatte, Beschwerden einzulegen, hatten diese gewaltig zugenommen.

«Sie sind wegen Erpressung angezeigt worden.»

«Was?» Kerr war plötzlich völlig verändert.

«Walker – Choppy Walker – schwört, daß er Ihnen heute früh hundert Pfund Schweigegeld gezahlt hat.»

«Ich habe den Kerl nie gesehen.»

«Er ist der Fahrer des VW-Lieferwagens mit den Schiffstauen. Er gibt zu, der Gesuchte in dem Fahrerfluchtunfall zu sein, den Sie bearbeitet haben. Er behauptet, Sie hätten, sobald Sie wußten, daß er der Fahrer war, hundert Pfund Schweigegeld verlangt. Haben Sie ihn heute morgen erpreßt?»

«Natürlich nicht, Sir.»

«Von ‹natürlich› wollen wir nicht reden. Wenn Sie unsere Truppe verraten haben, dann haben Sie gefälligst auch den Schneid und geben es sofort zu, damit wir die Schweinerei so rasch wie möglich aus der Welt schaffen können.»

Kerr sagte wütend: «Glauben Sie wirklich, ich habe diesen schmutzigen kleinen Gauner erpreßt?»

«Hundert Pfund extra sind eine ganze Menge Geld für einen Detective Constable, der’s gern mit den Frauen treibt.»

«Was ich für andere ausgebe, stammt von meinem Gehalt.»

«Das hoffe ich von ganzem Herzen. Die Sache wird eingehend untersucht werden, und vorläufig sind Sie mit vollem Gehalt vom Dienst suspendiert.»

«Braucht Walker nur den Mund aufzumachen, und ich werd gleich als Verbrecher gestempelt?»

«Sie kennen die Vorschriften. Sie werden sich zur Verfügung halten, um der Untersuchung weiterzuhelfen.» Pötzlich fluchte er. «Sehen Sie her, Kerr. Jeder einzelne Mann in der ganzen Truppe wird Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um zu beweisen, daß Walker gelogen hat.» Fusil versuchte zu klingen, als bestünde nicht der Schatten eines Zweifels an Kerrs Unschuld.

«Das … das weiß ich, Sir.»

«Schreiben Sie einen ausführlichen Bericht über den Fahrerfluchtunfall, und machen Sie einen genauen Zeitplan, Minute um Minute, über alles, was Sie heute morgen getan haben und wo Sie waren.»

«Wann soll ich ihn gesehen haben?»

«Zwischen sieben und acht Uhr dreißig.» Fusil nahm einen Bleistift. «Bringen Sie den Bericht, so rasch Sie können.»

«Jawohl, Sir.»

«An welchen Fällen arbeiten Sie gerade?»

«An dem Diebstahl in der Kirk Road, zwei Zeugenaussagen und der Fahrerflucht, Sir.»

«Sagen Sie Rowan und Welland, sie sollen das übernehmen. Das ist alles.»

 

Kerr lief auf die Straße, gleichzeitig voll Wut und Angst. Seine Welt war sorgenfrei gewesen, eine Welt, in der man seine Arbeit so gut wie möglich machte, aber nichts zu ernst nahm, denn das Leben war nicht dazu da, zu ernst genommen zu werden. Und doch – plötzlich war seine Welt düster und böse geworden. Fusil hatte getan, als gingen ihm diese Lügen mühelos ein – vielleicht deshalb, weil er ihn nie gemocht hatte und deshalb um so leichter Böses von ihm glaubte? Gab es irgendeinen Beweis außer Walkers Behauptung? Aber wie sollte es …? Und doch …

Er bog in die Straße ein, in der Judy wohnte. Ein Aston Martin DB 6 fuhr mit knatterndem Auspuff vorbei. Hinter dem Lenkrad saß ein geschniegelter junger Mann, und Kerr haßte ihn plötzlich, weil er reich und sorglos war.

Bei Judys Haus angelangt, klopfte er an die braungestrichene Eingangstür, die von der Wirtin, einer untersetzten, aufgedunsenen Frau mit einer Andeutung von Schnurrbart, geöffnet wurde. «Ist Judy da?» fragte er.

«Miss Anderson ist in ihrem Zimmer.» Mrs. Greens Stimme deutete an, daß sie einen Besuch um halb sechs Uhr nachmittags für unmoralisch hielt.

Er ging an ihr vorbei ins Haus.

«In meinem Hause sind Besuche nach neun Uhr abends nicht erlaubt», sagte sie unvermittelt.

«Na, ganz so spät ist es ja wohl noch nicht.»

«Sie wissen sehr gut, daß ich von gestern abend spreche. Sie sind erst dreieinhalb Minuten nach elf gegangen.»

«Ich war gestern abend nicht mal in der Nähe Ihres Hauses.»

Sie starrte ihn an, als wenn ihr das Wort «Lügner» auf der Zunge lag, sagte aber nichts. Er haßte diese abstoßende Frau, weil sie ihm verraten hatte, was vor sich ging.

Er ging bis ans Ende des schmalen Korridors, der voller Küchendünste war, und klopfte an die zweite Tür. Als er hineinging, sah er, wie ihm Mrs. Green einen feindlichen Blick nachschickte.

Judy lag auf dem Bett und las. «Du bist früh dran, John.»

«Es ist was passiert.»

«Was?»

Er setzte sich aufs Bett und zog ein Paket Zigaretten heraus.

«Ich bin in Schwierigkeiten.»

«Oh?»

«In ernsthaften Schwierigkeiten.»

«Was für ernsthaften Schwierigkeiten?»

«Ich bin wegen Erpressung angezeigt worden.»

«Und hast du jemand erpreßt?»

«Kennst du mich nicht besser?»

«Aber was würde sein, wenn du’s getan hättest?»

«Ich würde ins Gefängnis kommen und zwar schleunigst.» Er bemerkte, daß sie ihn forschend ansah, und wußte mit plötzlicher Bitterkeit, daß sie überlegte, ob er schuldig war.

Innerhalb von fünf Minuten entwickelte sie rasende Kopfschmerzen, so rasende, daß es ihr schrecklich leid tat, aber sie konnte heute abend nicht mit ihm ausgehen. Er verließ sie, noch wütender und noch erschreckter.

Am Montag morgen ging Detective Peters, ein Mann mit gepflegtem Äußerem, in die Zweigstelle der Midland Bank, die beim Polizei-Wohnheim lag, und ließ sich zum Direktor führen.

Peters setzte sich. «Wie ich Ihnen am Telefon sagte, bin ich an Mr. Kerrs Konto interessiert.»

«Ich habe den üblichen schriftlichen Antrag auf dem vorgeschriebenen Formular noch nicht bekommen», sagte der Direktor, ein ziemlich mißmutig wirkender Mensch.

«Das weiß ich, Sir, aber es handelt sich um eine vordringliche Angelegenheit. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir die Formalitäten übergehen könnten.»

«Gut, wenn Sie mir das ausgefüllte Formular innerhalb der nächsten zwei Tage zuschicken.»

«Sie haben es morgen früh.»

Der Direktor nahm ein Blatt Papier. «Mr. Kerr hat nur ein Konto bei uns, und das zeigt ein Haben von einhundertundneunzehn Pfund, zwölf Shilling und Sixpence.»

«Ist in den letzten vierundzwanzig Stunden etwas eingezahlt worden?»

«Genau einhundert Pfund.»

«In welcher Form?»

«Sie sind heut früh mit der Post gekommen. Hier ist der Einzahlungsabschnitt.» Der Direktor hob einen länglichen weißen Papierstreifen empor. «Hundert Einpfundnoten.»

«Darf ich das sehen?» Peters nahm den Einzahlungsabschnitt und betrachtete ihn aufmerksam. «War ein Begleitschreiben dabei?»

«Nein. Nur dieser Abschnitt und die Banknoten, alles gebrauchte.» Der Direktor blickte dem anderen direkt ins Gesicht.

«Geht es um etwas Ernsthaftes?»

«Es scheint so», antwortete Peters grimmig.