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Am Freitag morgen kam Kerr um acht Uhr dreißig ins Revier und lernte gleich Welland kennen. Welland absolvierte seine sechs Monate als Hilfs-Constable. Er war ein gutgelaunter Mann und hatte ein Gesicht, das aussah, als sei es irgendwann einmal seitlich verschoben worden – ein Eindruck, der durch seine großen, nicht ganz auf derselben Höhe stehenden Ohren verstärkt wurde.

«Fred Rowan?» sagte Welland als Antwort auf eine Frage. «Er ist ein elender Bastard, gewiß, aber ich nehme an, er hat allen Grund.»

«Warum?»

«Hast du nichts gehört?»

«Keinen Ton.»

«Er ist mit einer Frau verheiratet, die Modell steht. Er glaubt, sie amüsiert sich mit dem Kerl, der ihr die Jobs besorgt, aber er ist als Detektiv nicht schlau genug, um’s herauszukriegen.»

«Warum taucht er nicht mal unerwartet bei ihr auf?»

«Hat wahrscheinlich Angst.»

«Angst vor dem andern Kerl?»

«Angst vor dem, was er finden könnte.» Welland grinste. «Er ist die beste Reklame fürs Nicht-Heiraten, die ich kenne.»

«Brauchst du die denn?»

«Ich? Ich bin verheiratet und möchte außer dem Gehalt nichts ändern. Und da wir schon von Geld reden: ich habe von einem Kerl gelesen, der fünftausend Pfund die Woche verdient. Was tut man mit so viel Geld?»

«Ausgeben.»

«Unmöglich.»

«Versuch’s mal mit mir.»

«Sieh mal her. Du kriegst fünftausend. Du kaufst all die Dinge, die du dir je gewünscht hast. Aber in sieben Tagen sind die nächsten fünftausend da, und …»

Die Tür ging auf, und Rowan kam herein. Welland brach seinen Satz ab.

«Was ist los?» fragte Rowan.

«Los?»

«Keine Arbeit?»

«Ich erzähle John gerade alles über die Abteilung und die Leute, die dazu gehören.»

Rowan wurde rot, als wäre er sicher, daß über ihn und seine Frau geredet worden war. «Hat jemand die Listen heraufgebracht?»

«Noch nicht.»

«Wie wär’s dann, wenn jemand etwas in dieser Richtung täte?»

Welland stand auf. «Mach dich auf die Socken, Laufbursche», bemerkte er gutmütig, bevor er hinausging.

Kerr drückte seine Zigarette aus. Wenn er mit einer Frau verheiratet wäre und glaubte, daß sie ihm ins Bett spuckte, würde er rasch genug herausfinden, ob sie es wirklich tat. Wer war doch dieser Kerl im Olymp gewesen, der ein Netz gespannt hatte, um seine Frau und ihren Liebhaber drin zu fangen, wenn der Spaß losging? Und alle andern waren dazu gekommen und hatten sich krank gelacht bei dem Anblick.

Im Zimmer am Ende des Korridors stopfte Fusil seine Pfeife. Er riß ein Streichholz an: es brach entzwei, der brennende Kopf flog über den Schreibtisch und blieb in der Morgenpost liegen. Er fluchte und schlug ihn mit der Faust aus. Tag gut begonnen.

Er dachte an die Beförderung. Sie hing von so vielen Dingen ab, nicht nur von Fähigkeiten. Der Unterschied zwischen Erfolg und Fehlschlag war oft so gering, daß nur das Glück entschied. Man arbeitete wie der Teufel, um einen Fall zu knacken, und schließlich fehlte ein minimales Beweisstück, um ihn vor Gericht zu bringen. Es hing allein vom Glück ab, ob dieses Beweisstück auftauchte oder nicht. Vorgesetzte waren Menschen mit Zu- und Abneigungen. Waren sie selbst fähig, dann haßten sie Unfähigkeit und umgekehrt. War die richtige Stelle zur richtigen Zeit frei? Auf jeden Chefinspektor kamen drei Inspektoren. Es hatte keinen Zweck, in einer Truppe zu dienen, die zu viele langlebige Chefinspektoren hatte.

Beförderung hieß, das Glück ausnützen, so lange es anhielt, die meiste Zeit wie ein Wilder arbeiten, die Quote der aufgeklärten Fälle hochhalten, eine saubere Weste haben und dafür sorgen, daß auch die anderen saubere Westen hatten.

Er hatte seine Weste im Fall Burchell schmutzig gemacht, und zwar nicht wenig. Wenn er diese Scharte wieder auswetzen wollte, mußte er den Golddiebstahl schleunigst aufklären. Tat er das nicht, würde das Wort Beförderung bald zu einem Fremdwort für ihn werden.

Er stopfte den brennenden Tabak mit einem Bleistift fest. Auf dem Boden neben dem Schreibtisch stand der Metallbehälter, der das Gold enthalten hatte. Er war von Sydney hergeflogen worden. Die Polizei von Sydney hatte eine Anzahl Fingerabdrücke auf dem Behälter gefunden, die jetzt in der kleinen Fabrik in Cumberland nachgeprüft wurden.

Oft kam man mit einfacher Logik am besten weiter. Wo konnten die Goldmaskottchen logischerweise gestohlen worden sein? Oben in Cumberland, wo die Arbeiter mit ihnen zu tun hatten. Aber der erste Polizeibericht aus Whitehaven besagte, die Sicherheitsmaßnahmen seien dort so scharf, daß ein Diebstahl ausgeschlossen sei. Vielleicht.

Wenn es also nicht die Arbeiter waren, war es dann auf dem Transport zwischen Cumberland und Fortrow geschehen? Das schien unmöglich. Der LKW hatte auf dem ganzen Weg bis zum Sicherheitsschuppen eine Eskorte gehabt. Hatten die Stauer das Gold gestohlen? Wie hätten sie es machen sollen? Die Kiste umstülpen, den Boden aufreißen, die Metallverschalung aufschneiden, den Ballast entleeren, den Metallbehälter herausheben, das Schloß aufbrechen, die Backsteine und das Packpapier an Stelle des Goldes einlegen, Behälter und Ballast wieder in die Kiste tun, die Kiste vernageln, sie wieder aufrecht stellen – und all das, ohne daß jemand sie dabei erwischt hätte? Schön, die meisten Wachmänner übersahen kleine Klauereien, aber dies war Großdiebstahl. Und beim Aufladen der wertvollen Ware war ständig ein Schiffsoffizier zugegen. Die Stauer waren geschickte Diebe, aber so geschickt nun auch wieder nicht.

Seine Pfeife war ausgegangen. Er legte sie auf den Schreibtisch, stand auf und nahm den Schlüssel, der von Sydney geschickt worden war. Aus seiner Form war ersichtlich, daß es sich um ein gutes Schloß handelte – das war nicht anders zu erwarten, machte aber die für den Diebstahl benötigte Zeit noch länger.

Er öffnete den Behälter. Innen lagen zwei ganze Backsteine, viele Bruchstücke und eine Menge zusammengeknülltes Packpapier, das Ganze in eine große, dicke Plastiktasche verpackt – eine unnötige Vorsichtsmaßnahme, dachte er.

Es klopfte, und Braddon kam herein.

«Morgen, Sir.»

«Morgen.» Fusil ging zu seinem Stuhl zurück. «Was liegt vor?»

Braddon sah in seinem Notizbuch nach. «Zwei Einbrüche, nicht viel gestohlen; ein Vergewaltigungsversuch, der sich so anhört, als wenn die Frau im letzten Moment Angst bekommen hat; drei gestohlene Wagen; eine Messerstecherei unten bei den Docks; und zwei volltrunkene Rowdys aus Patchel.»

«Sie glauben nicht recht an die Vergewaltigung?»

«Die Originalaussage der Frau liegt auf Ihrem Tisch, sie ist ziemlich doppeldeutig. Rowan ist hingegangen, um eine ausführlichere Aussage zu kriegen.»

«Rowan?»

«Jawohl, Sir.»

«Warum er?»

«Ich dachte, es sollte jemand gehen, der Erfahrung hat, und Kerr hat keine.»

Braddon war nicht dumm, dachte Fusil, nur handelte er manchmal dumm, weil er nie über die psychologische Seite eines guten Kriminalbeamten nachdachte – deshalb hatte er es auch nicht weiter als bis zum Detective Sergeant gebracht. Rowan hatte eine Frau, die ihren Mann vielleicht betrog; deshalb haßte Rowan alle Frauen, die vom geraden Pfad abwichen. Wenn er glaubte, daß die Frau in diesem Fall log, würde er seine Gefühle so deutlich zeigen, daß er nie die Wahrheit aus ihr herausbringen würde. «Ich werde mir die Frau mal selbst ansehen.»

«Gut, Sir.»

«Wie schwer sind die Einbrüche?»

«Nicht mehr als hundert Pfund Warenwert.»

«Die Messerstecherei?»

«Ein Matrose ist bei einer Schlägerei in einer Hafenkneipe mit einem Messer an den Rippen gestreift worden. Im Krankenhaus sagen sie, daß das Messer gar nicht eingedrungen ist.»

«Zeugen?»

«Eine Menge Leute in der Kneipe, aber keiner erinnert sich an was.»

«Dann feuern Sie mal ihr Gedächtnis ein bißchen an.»

«Jawohl, Sir.»

Fusil deutete auf den Metallbehälter mit den Backsteinen und dem Papier. «Nehmen Sie die Backsteine zu einem von unsern Händlern und fragen Sie, ob irgendeine Möglichkeit besteht herauszufinden, woher sie stammen; das Papier ins Labor zu den üblichen Tests. Okay, das ist alles.»

Er sah Braddon nach, als er hinausging, und zündete dann seine Pfeife wieder an. Der Sergeant war ein guter Polizeibeamter während neun Zehnteln seines Arbeitstags – neun Zehntel aller Polizeiarbeit war Routine.

Seine Gedanken kehrten zu dem Golddiebstahl zurück. Dies war der Fall, der ihn hochreißen oder kaputtmachen konnte, nicht die Messerstecherei, die Vergewaltigung, die Einbrüche. Aufgeklärt oder nicht, sie waren letzten Endes reine Statistik, der Golddiebstahl dagegen hatte sich zu einem richtigen Fall ausgewachsen.

Konnten die Schiffsoffiziere die Täter sein? Natürlich wäre es für sie eine Kleinigkeit gewesen, herauszufinden, wo das Gold lag. Der Reederei war es bekannt.

Das Gold war in den Sonderladeraum im unteren Zwischendeck von Laderaum Nummer 5 gebracht worden. Nummer 5 bestand aus einem unteren Laderaum, einem unteren und einem oberen Zwischendeckraum. Als das Gold geladen wurde, war der untere Laderaum bereits voll. Aber es war nicht klar, wie schnell nach Abschluß der Goldladung der Ladeplatz vor dem Sonderraum mit Ware gefüllt und dieser damit hermetisch abgeschlossen worden war.

Er sah auf die Uhr. Es war Zeit für seinen täglichen Bericht beim Superintendent.

 

An Bord der Sandpatch zog Captain Leery den Ladeplan über den Kartentisch, bis er gerade vor ihm lag. Er sagte zum Ersten Offizier, der beim Chronometerschrank stand: «Ladung in vier Häfen für vier Häfen.»

«Jawohl, Sir», erwiderte der Offizier brummig.

Leery war nicht überrascht. So etwas war der Alptraum eines Ladeoffiziers – sechzehn mögliche Kombinationen, und es brauchte nur ein Korb, ein Sack, eine Kiste am falschen Hafen ausgeladen zu werden, um dem Ersten eine Mordszigarre von der Hauptverwaltung einzubringen. «Ihre Hauptladung ist hier in Fortrow: sechstausend Tonnen, fast alles für Wellington und Auckland. Eintausend Tonnen chemische Produkte in Säcken für den unteren Laderaum von Nummer 3; völlig sichere Ware, darf nur nicht in die Nähe von Säuren kommen. Hundert Tonnen Zinn in Barren für den unteren von Nummer 4. Dann eine wertvolle Ladung von Stoffen, die in einen verschlossenen Sonderladeraum kommen muß, entscheiden Sie selbst, welchen. Zweitausendfünfhundert Postsäcke von hier, und fünfhundert weitere in Liverpool. Wenn diese Postsäcke dran sind, passen Sie auf, daß es nicht wie bei der letzten Fahrt ein völliges Durcheinander gibt.»

«Das kam daher, weil …»

«Das kam daher, weil die Schiffsliste nicht mit der Postliste übereinstimmte und weil die Schiffsliste falsch war.»

«Das war nicht unser Fehler.»

«Ihre Liste war falsch.»

Der Erste Offizier verfluchte den Reederei-Inspektor in seinem Innern. Leery glaubte, die Sonne scheine nur für die Reederei. Eine Menge von den Alten dachte dasselbe, aber heutzutage war man realistisch: ein blöder Hund, wer für den Gewinn der Reederei auch nur ein Jota mehr arbeitete, als er absolut mußte.

«Ich möchte noch einen Ladeplan.»

«Jawohl, Sir.»

«Und sehen Sie zu, daß die Farbangaben stimmen.»

«Jawohl, Sir.»

Es klopfte an der offenen Tür des Kartenraums. Ein Schiffsjunge in einer offensichtlich neuen Uniform stand am Eingang.

«Ja?» fragte der Erste Offizier scharf.

«Entschuldigung, Sir. Ist bitte Captain Weary hier?»

«Wer?»

Der Schiffsjunge wurde noch verwirrter. «Bitte, Sir, Captain Weary. Es geht um einen Telefonanruf, und die Verbindung war schlecht …»

«Wahrscheinlich für mich», sagte Leery. «Komm rein, Junge, und sag mir, was du ausrichten sollst.»

Der Schiffsjunge trat in den Raum. Er stand stramm. «Sir, telefonische Mitteilung, daß Detective Constable Burr im Büro ist und Sie sprechen möchte.»

«Burr?»

«Jawohl, Sir. Ich bin ganz sicher.»

«Glaubst du nicht, daß es vielleicht Kerr war?»

Der Schiffsjunge war gar nicht mehr so ganz sicher. «Die … Verbindung war sehr schlecht, Sir.»

«Zweifellos. Ruf zurück und sag im Kontor, ich hätte zuviel zu tun. Wenn der Constable mich heute noch sprechen will, soll er um sechs Uhr dreißig zu mir nach Hause kommen. Ist das klar?»

«Jawohl, Sir.»

Leery sah dem Schiffsjungen nach. Er hatte ein unbehagliches Gefühl. Was mochte Kerr wollen? Eine Routinesache oder etwas weit Wichtigeres?

 

Im Dienstzimmer der Polizeistation durchsuchte Kerr seine Taschen nach einer Zigarette, fand aber keine. Da er allein war, mußte er aufs Rauchen verzichten. Das Leben war manchmal eine Pest.

Er ging nach unten und in den Hof, stieg in den Dienstwagen, drehte den Zündschlüssel und drückte auf den Anlasser. Der Motor machte eine Umdrehung, aber zündete nicht. Eines Tages, dachte er, wird der Schlitten einen letzten Seufzer tun und in seine mehrere tausend Einzelteile zerfallen. Vielleicht würden sich dann die Steuerzahler von Fortrow zu einem neuen aufschwingen. Die Öffentlichkeit verlangte Polizeischutz, weigerte sich aber, auch nur einen einzigen Penny dafür zu bezahlen.

Der Motor zündete schließlich; Kerr setzte zurück und hätte beinahe den Chefinspektor angefahren, der unversehens aus einer Tür kam. Kerr grinste. Der Chefinspektor hielt an den Schulen in Fortrow Vorträge über das richtige Verhalten der Fußgänger im Zeitalter des Autos.

Fünfundzwanzig Minuten später erreichte Kerr Pendleton Bray und fand Leerys Haus ohne Mühe. Während er zwischen zwei gepflegten Rasenstücken zum Eingang ging, dachte er, daß das Haus eine gute Investition sei und genau das Haus, in dem er gern wohnen würde. Sollte er es zum Chefinspektor oder noch höher bringen, würde er ein Haus wie dieses hier anschaffen; also mußte er es zum Chefinspektor oder noch höher bringen.

Leery selbst öffnete ihm und ging voran ins Wohnzimmer, wo er ihn seiner Frau vorstellte. Kerr erschrak, als er sah, wie schwer es ihr fiel, sich zu bewegen, und wie ihr Gesicht sich vor Schmerz zusammenzog.

«Ich werde mich jetzt ums Essen kümmern», sagte sie.

Kerr sah ihr unbewußt nach, wie sie langsam und mühevoll zur Tür ging. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, sagte Leery: «Sie hatte einen sehr schweren Autounfall und schwebte lange zwischen Leben und Tod.»

Kerr suchte nach einem Ausdruck des Bedauerns. «Sie scheint es sehr tapfer zu tragen.»

«Sie sind sehr freundlich.» Leery schwieg einen Augenblick und sagte dann: «Was wollen Sie trinken, wenn es Ihnen gestattet ist, Pflicht und Drink zu mischen.»

Kerr grinste: «So oft sich die Gelegenheit bietet.»

«Kurz oder lang?»

«Es ist noch warm genug für ein Bier.»

Leery goß ein und setzte sich dann in einen der Armsessel. «Prost.»

«Zum Wohl, Sir.»

«So – was kann ich für Sie tun?»

«Es dreht sich darum, die Beweisaufnahme in die richtige Ordnung zu bringen, Sir. Von wann ab war der Sonderladeraum durch andere Ladung blockiert?»

«Das kann man wirklich eine Vierundsechzig-Dollar-Frage nennen! Im Durchschnitt haben wir alle vierzehn Tage ein Schiff zu laden, und ich habe mich um jedes einzelne zu kümmern. Die Sandstream nahm hier beinahe volle Ladung auf: ganz bestimmt bis achtern vom oberen Zwischendeck. Aber ob der Hauptladeraum von Nummer 5 sofort belegt worden ist, nachdem der Sonderladeraum vollgeladen war …?» Er stand auf, ging zu einem Tischchen und holte eine silberne Zigarettendose. «Rauchen Sie?»

«Ja, danke.»

Er reichte ihm die Dose, vergewisserte sich, daß Kerr noch zu trinken hatte, und goß sich einen zweiten Whisky ein. «Ich kann Ihnen eine präzise Antwort erst dann geben, wenn ich die Papiere in meinem Büro durchgesehen habe. Soll ich Sie anrufen, wenn ich es weiß?»

«Das wäre sehr schön.»

Leery zögerte und sagte dann: «Sie glauben doch hoffentlich nicht, daß es einer von den Schiffsoffizieren war?»

«Wir prüfen nur alles und jeden. Ich glaube, ich verrate kein Staatsgeheimnis, wenn ich Ihnen erzähle, daß wir bis jetzt noch nicht sehr weit gekommen sind, weil die Spuren so weit auseinander führen: Cumberland, das Schiff hier, das Schiff auf See, Australien.»

«Also noch nichts Definitives?»

«Bis jetzt nicht.»

Leery trank langsam seinen Whisky und versuchte sich einzureden, daß er das brennende Interesse, das hinter seiner Frage lag, erfolgreich verborgen hatte. Gladys sagte immer, er könne seine Gefühle gut verbergen. Er hoffte zu Gott, daß sie recht hatte.

 

Um neun Uhr fünf am nächsten Morgen kam Detective Sergeant Braddon ins Büro. Rowan und Kerr waren da. «Wo ist Welland?»

«Er war hier, ist aber gleich wieder gegangen, Chef», sagte Kerr.

«Sag ihm, daß ich ihn sehen will, wenn er zurückkommt. Rowan, da ist eine Zeugenaussage aufzunehmen, eilig – die Anfrage liegt auf meinem Schreibtisch. Mach es heut vormittag fertig.»

Rowan ging wortlos.

Braddon zog seine Hose hoch und setzte sich auf den Rand von Wellands Schreibtisch. Er zog ein Paket Zigaretten aus der Tasche, machte es auf und warf Kerr eine Zigarette hinüber. «Gewöhnst du dich gut ein?»

«Nicht schlecht, Chef, solang ich dem Inspektor aus dem Weg gehe.»

«Er wird sich beruhigen, wenn er sieht, daß du deinen Job gut machst.»

«Wenn oder falls?»

«Das liegt bei dir.»

«Ich weiß, nicht bei ihm.»

Braddon kratzte sich am Kinn. «Wie ist es gestern abend mit Captain Leery gegangen?»

«Er konnte mir nichts sagen, ohne die Papiere geprüft zu haben; er wird im Lauf des Tages anrufen.»

«Und mit ihm persönlich?»

«Mit vollen Segeln. Kennen Sie ihn?»

«Nie gesehen.»

«Er sieht richtig trübselig aus: für den sind Grabinschriften Unterhaltungslektüre. Aber im Grunde ist er in Ordnung. Hübsches Haus, sehr kameradschaftlich und sehr freigebig mit Drinks.»

«Hast du was getrunken?»

«Zwei, und er hätte mir drei gegeben, wenn ich länger geblieben wäre.»

«Ich will dir mal was sagen. Ich habe mir von jeher zur Regel gemacht, Kerr, nie mit jemand zu trinken, der in einen Fall verwickelt ist, solange ich nicht weiß, wie er ins Bild paßt.»

«Eine schlechte Regel für eine trockene Kehle.»

«Eine gute Regel, selbst wenn die Kehle ausgebrannt ist.»

Kerr kippte seinen Stuhl zurück, bis die Lehne die Wand berührte. Er legte die Füße auf den Tisch. «Zum Teufel, Chef, das Leben ist zu kurz, um sich um solche Dinge zu sorgen. Wenn einer nun mal darauf besteht, mir einen Drink zu spendieren, enttäusche ich ihn nur ungern.»

«Hast du dich mal gefragt, warum er dir zu trinken gegeben hat?»

«In dem Augenblick fragen? Ich bestehe nicht nur aus Willenskraft. Runter damit, und das hat vielleicht geschmeckt!»

«Er ist ein großes Tier in der Gesellschaft, und du bist ein neuer Detective Constable. Er könnte einen Grund haben.»

«Was wollen Sie damit sagen? Daß er normalerweise nicht mit dem niedrigen Volk trinkt?»

Braddon schüttelte langsam den Kopf und erinnerte Kerr wieder an einen Bluthund. «Ihr jungen Spunde von heute glaubt wohl, keiner über dreißig kann weiter sehen als bis zu seiner Nasenspitze. Ich bin schon lange beim C. I.D. und habe ein paar merkwürdige Dinge erlebt.»

Diesmal war Kerr taktvoll genug, zu schweigen.

«Das hat nichts mit Klassenunterschieden oder ähnlichem Blödsinn zu tun», fuhr Braddon gewichtig fort. «Es ist einfach gesunder Menschenverstand in unserm Beruf.»

«Stimmt, Chef. Ich werd dran denken.»

«Laß ihm seine Drinks, bis du sicher bist, daß er aus der Sache raus ist.»

Sie schwiegen lange. «Wissen Sie, daß seine Frau ein Krüppel ist?» fragte Kerr.

«Tatsächlich? Schlimm?»

«Jeder Schritt tut ihr entsetzlich weh.»

«Armer Teufel. Kerr, der Inspektor hat gesagt, wir sollen alle gehen und rausfinden, wer Gold verkaufen will. Du bist noch nicht lang genug hier, um Verbindungen zu haben, und ich nehme nicht an, daß Charrington dir irgendwelche Namen hinterlassen hat.»

«Nicht einen einzigen.»

«Ich geb dir zwei zum Anfangen. Du kannst ohne höhere Genehmigung bis zu fünf Pfund aus dem Sonderfonds verwenden: für mehr brauchst du eine schriftliche Genehmigung vom Inspektor.» Braddon schwang sich vom Tisch. «Vergiß nicht, was ich dir über Drinks gesagt habe.»

«In Ordnung, Chef.»