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Agar fuhr direkt zum Zuchthaus Lettworth. Er sprach mit einem der stellvertretenden Direktoren und dem Wachkommandanten und erfuhr – wie er erwartet hatte – gar nichts. Dann fragte er, ob er einen von Krammers Zellengenossen vernehmen könne, und erhielt die Antwort, das sei völlig unnötig. Krammer sei bei allen nur verhaßt gewesen, und dieser Haß habe sich nach seiner erfolgreichen Flucht aus dem Gefängnis nur noch vertieft, so daß jeder Gefangene, der der Verwaltung irgendwie helfen konnte, das bereits getan habe. Mit viel Takt und Geschick gelang es Agar schließlich doch, das Verhör durchzusetzen.
Zehn Minuten später wurde Younger in eines der Besuchszimmer im Erdgeschoß des E-Blocks geführt. Er trug sein übliches herausforderndes Benehmen zur Schau, war jedoch bereit, Auskünfte zu erteilen. Krammer sei ein Galgenvogel, und wenn er, Younger, nur einen blutigen Schimmer hätte, wo Krammer stecken könnte, würde er ihn verpfeifen.
Nachdem Agar Younger ein paar Zigaretten zugeschoben und einige Minuten lang die Schimpfworte angehört hatte, mit denen Younger Krammer belegte, stand er auf: «Falls Sie etwas erfahren sollten, würden Sie das sofort weitergeben?»
«Ich würde es von allen Dächern herunterschreien, Chef, da können Sie ganz beruhigt sein.»
«Hat es Zweck, daß ich noch mit anderen Häftlingen spreche?»
«Nein. Hier gibt es niemand, der mit dem Dreckschwein irgend etwas zu tun hatte. Außer dem Pfaffen, aber der würde für ’nen Sünder im Beichtstuhl alles tun.»
«Danke für die Auskunft.»
«War mir’n Vergnügen, Chef.» Younger stolzierte mit geschwellter Brust aus dem Zimmer und winkte dem Wärter gönnerhaft zu, der sich mit einem Ruck von der Wand löste.
Agar verließ das Besuchszimmer und ging zur Verwaltung, wo er sich nach der Privatadresse des Gefängniskaplans erkundigte. Dann schlenderte er über den Zuchthaushof, und als das eiserne Tor hinter ihm zugeschlagen wurde, schüttelte er sich unwillkürlich. Was für ein widerliches, ekelhaftes Geräusch.
Er setzte sich in sein Auto und überlegte, was er unternehmen sollte. Wenn er zuerst den Kaplan besuchte, würde er hinterher im Hotel kein Essen mehr bekommen. Wenn er jedoch zuerst ins Hotel fuhr, um zu Abend zu essen, war es hinterher wieder zu spät für einen Besuch beim Kaplan. Er war verdammt hungrig. Doch schließlich entschied er sich, seiner Pflicht zu gehorchen, nicht seinem Magen.
Das Haus des Kaplans lag kaum einen Kilometer vom Zuchthaus entfernt. Es stand in einer Reihe ziemlich armseliger, schäbiger Gebäude. Smith, der Kaplan, war ein hagerer ältlicher Mann, der eine Sportjacke und eine graue Flanellhose trug. Sie gingen ins Wohnzimmer, und Agar bemerkte neben dem altmodischen Armsessel ein Tablett, auf dem das Abendessen für seinen Gastgeber bereitstand. Er versuchte, nicht allzu genau hinzusehen, aber natürlich meldete sich jetzt sein Hunger nur noch stärker.
«Darf ich Ihnen etwas zu essen anbieten?»
«Nein, danke. Wenn ich ins Hotel komme …»
«Das wird zu spät sein. Unsere Hotels hier halten die Essenszeiten sehr streng ein. Das habe ich leider erst festgestellt, als mein Bischof mich besuchte. Ich werde etwas für Sie herrichten. Ich besorge den Haushalt selbst, deshalb beschränkt sich die Zubereitung meiner Mahlzeiten meistens auf das Büchsenöffnen. Eine Büchse mehr oder weniger, das macht wirklich keine Umstände. Aber vielleicht möchten Sie vorher noch einen kleinen Sherry?»
Agar verzehrte mit großem Appetit geräucherten Lachs, grünen Salat, Käse und Kekse.
«Sie möchten wissen, ob ich Ihnen im Fall Krammer weiterhelfen kann?» fragte Smith, nachdem beide mit dem Essen fertig waren.
«Ja.»
«Glauben Sie, ich hätte eine Ahnung, wohin er geflüchtet ist? Erwarten Sie, daß ich Ihnen seinen Unterschlupf verrate?»
«Einer der Gefangenen sagte mir, Sie wüßten eine Menge von ihm.»
«Er war einer der wenigen – genauer gesagt, der einzige –, der meine Hilfe oft und dringend brauchte.» Smith holte tief Luft. «Ich konnte ihm nicht wirklich helfen, vielleicht kann ihm überhaupt kein Sterblicher mehr helfen.»
«Wahrscheinlich nicht», sagte Agar hart.
Smith nahm seine Brille ab und putzte die Gläser mit seinem Taschentuch. «Er war der verzweifeltste und unglücklichste Mann, den ich je getroffen habe. Die anderen Häftlinge verfolgten ihn ohne Erbarmen, und die Wärter ließen das stillschweigend geschehen. Ich sprach darüber mit dem Zuchthausdirektor, aber obwohl er ein Mensch mit wachem Gewissen ist, hat er gewisse … ich möchte sagen, blinde Stellen.»
«Die meisten von uns haben blinde Stellen, wenn es sich um einen Mann handelt, der solche Verbrechen begangen hat wie Krammer.»
«Ist das wirklich so einfach, Inspektor?»
«Was ist so einfach?»
«Zu urteilen. Sehen Sie, ich habe genug von ihm erfahren, um überzeugt zu sein, daß er aus einem Zwang heraus handelte, gegen den der Wille nicht mehr ankämpfen konnte. Er war nicht ‹entschlossen›, über ein Mädchen herzufallen – dieser schreckliche Zwang war stärker als er. Die meisten Verbrecher entschließen sich, ein Verbrechen zu begehen, das heißt, sie gebrauchen den von Gott gegebenen freien Willen dazu und gelangen so zu ihrem verwerflichen Entschluß. Aber Krammer besaß diese Freiheit nie. Wiegt also sein Verbrechen schwerer als das eines Mannes, der freiwillig den Weg des Bösen wählt? Schließt denn eine Geisteskrankheit die moralische Verantwortlichkeit nicht aus?»
«Das Gericht erklärte ihn für gesund.»
«Vergeben Sie mir, Inspektor, aber wir beide wissen, daß die Untersuchungen des Gerichtes in dieser Hinsicht weder genau noch unvoreingenommen sind. Die Gerichte erkennen diese Art Zwang nicht an, doch jeder wirklich kompetente Arzt wird Ihnen erklären können, daß es so etwas gibt. Ich bin mir der Tatsache nur zu sehr bewußt, daß die Folgen seines Verbrechens unendlich schlimmer sind als die eines gewöhnlichen Verbrechers, aber dürfen wir die Verbrecher denn wirklich nach den Folgen ihrer Taten beurteilen? Wenn wir das tun, dann ist der Verbrecher, dessen Verbrechen mißglückt, weniger verbrecherisch als derjenige, dem es glückt.»
«Ein Mann wie er ist so verderbt, daß es nur einen Weg gibt, mit ihm fertig zu werden.»
«Sie werden doch sicher nicht von mir erwarten, daß ich mit Ihnen in diesem Punkt übereinstimme. Krammer erzählte mir von den furchtbaren inneren Kämpfen, die er durchmachen mußte. Er beschrieb es so, als sei sein Verstand in zwei Teile gespalten worden. Die eine Hälfte habe das grauenhafte Verbrechen begehen wollen, während die andere sich über diese furchtbare Begierde entsetzte. Inspektor, für Krammer waren die Verurteilung und die Haft notwendige Maßnahmen, denn sie zwangen ihn zur leidenden Buße für das, was er getan hatte. Und in diesem Leiden hoffte er, Erlösung von seinem schrecklichen Zwang zu finden. Aber seine Mitgefangenen zeigten auch nicht die kleinste Spur von christlicher Nächstenliebe und ließen ihn zu sehr leiden. Kein Mensch, Inspektor, ist eine Insel, die sich selbst genügt. Niemand kommt ohne Mitgefühl aus.»
Agar drückte seine Zigarette aus: «Wollen Sie damit sagen, er habe sich geändert?»
«Ja. Ich glaube, er ist eine von den Seelen, die in den tiefsten Grund der Hölle hinabgesunken war, die aber begann, emporzustreben, als er von der Gesellschaft, die er selbst so abscheulich mißhandelt hatte, bestraft wurde. Ich glaube, jetzt kämpft er mit sich und sieht sich als ein Mensch, der ein Leben lang durch einen finsteren Tunnel gewandert ist und plötzlich in eine offene Landschaft hinaustritt. Und wegen dieses Wunders der Wiedergeburt danke ich Gott, daß ihm die Hinrichtung erspart und er am Leben blieb, um entfliehen zu können.»
«Und nach Ihrer Philosophie mußten all diese Mädchen zu Tode gequält werden, damit er zu sich selbst fand?»
«Ich wünsche bei Gott, ich wüßte die Antwort», sagte Smith leise. «Ja, ich wünsche, ich wüßte es.»
Fünfzehn Minuten später verließ Agar das Haus des Kaplans und fuhr ins Zentrum der Stadt. Er stellte seinen Wagen in der Hotelgarage unter, empfing seinen Schlüssel aus der Hand des verschlafenen Hotelportiers und ging in sein Zimmer hinauf.
Er öffnete das Fenster, damit die leichte Brise die stickige Luft aus dem Zimmer vertrieb. Er kleidete sich aus und zog den Pyjama an, von dem Caroline behauptete, er sähe darin wie ein chinesischer Mandarin aus. Dann legte er sich aufs Bett und zündete sich eine Zigarette an. Er dachte an seinen Sohn, der Jura studierte, und dann an den Kaplan. Waren das, was der Geistliche ihm erzählt hatte, nur religiöse Fragen gewesen? Konnte wirklich jemand behaupten, ein Mann, der vorsätzlich einen Laib Brot stahl, sei ein schlimmerer Verbrecher als ein Mann, der gegen seinen Willen junge Mädchen zu Tode quälte? Und doch, wie konnte ein Mensch einem unwiderstehlichen Zwang widerstehen? Er, Agar, kannte sich selbst als normalen, beherrschten Mann. Doch angenommen, es ergriffe ihn ein Zwang. Verwandelte ihn dieser Zwang dann in ein unzurechnungsfähiges, tierisches Wesen? War er dann absolut ohnmächtig und konnte nicht mehr aufhören, das zu tun, was er tat?
Hier fragte er sich, ob es wirklich wahr sein konnte, daß der entflohene Krammer keine Gefahr mehr für ein Mädchen bedeutete, das ihm über den Weg lief. Ob er sich jetzt irgendwo versteckte und mit sich kämpfte? Ob er vielleicht diesen Kampf mit sich selbst gewann?
Als Agar seine Zigarette ausgedrückt hatte und das Licht löschte, wurde ihm plötzlich bewußt, daß er das erste Mal an Krammer als menschliches Wesen gedacht hatte.
Bei Tagesanbruch lief die Jagd auf Krammer bereits auf Hochtouren. Natürlich war es theoretisch möglich, daß Krammer schon mehr als hundertfünfzig Kilometer zurückgelegt haben konnte. Trotzdem konzentrierte man sich besonders auf den Umkreis von hundertfünfzig Kilometern um das Zuchthaus, der die Grafschaften Kent, Essex, Middlesex und Surrey umfaßte. In diesem Ausnahmefall war sogar fast jeder Verbrecher, der der Polizei bekannt war, zur Hilfe bereit, aber kein einziger konnte eine brauchbare Auskunft geben.
Krammers Haus wurde natürlich ständig überwacht, doch die unglückselige Mrs. Krammer – von allen gemieden, obwohl sie unschuldig war – blieb allein.
Gegen neun Uhr morgens waren Briefe und Hinweise aus der Bevölkerung zu einer solchen Flut angewachsen, daß der Stab, der sie zu bearbeiten hatte, der Verzweiflung nahe war. Krammer war in hundertfünfundsiebzig Städten gesehen worden, und vierundzwanzig Männer, die Krammer ähnlich sahen, waren von ihren Mitbürgern festgenommen worden. Auf allen Flugplätzen und in jedem Hafen wurden besonders Sonderstreifen eingesetzt, obwohl niemand glaubte, Krammer beabsichtige, das Land zu verlassen.
Die Hysterie, die anfangs viele Leute ergriffen hatte, konnte man auf ein erträgliches Maß zurückschrauben, da die Kommentare in Radio, Fernsehen und Presse das Publikum zur Ruhe und Vernunft aufforderten. In einigen Fällen führte diese Hysterie jedoch zu Anzeigen. Fünfzehn Frauen meldeten, sie seien von Krammer überfallen und vergewaltigt worden, und in keinem Fall war einer Frau wirklich etwas passiert. Dreiundfünfzig Schulmädchen erschienen nicht zum Unterricht, und als man ihre Eltern davon in Kenntnis setzte, vermuteten sie sofort das Allerschlimmste, bis sich herausstellte, daß alle dreiundfünfzig Mädchen diese einmalige Chance ergriffen hatten, die Schule zu schwänzen.
Gegen elf Uhr dreißig meldete ein Hausbesitzer aus dem Bankviertel von Surrey, der Geräteschuppen in seinem Garten sei in der Nacht aufgebrochen worden, und es sähe so aus, als ob jemand darin geschlafen habe. Detektive schwärmten durch das Haus, begannen mit einer gründlichen Durchsuchung des Gartens und des Schuppens. Sie fanden einen Nagel in der Wand, an dem ein Fädchen von einem blauen Sergestoff hing. Vielleicht stammte es von der Jacke, die Krammer entwendet hatte, aber das Fädchen konnte sich ebensogut von der Joppe irgendeines Landstreichers gelöst haben, der hier genächtigt hatte. Würde aber ein herumlungernder Stromer nicht einiges von den kleinen praktischen Geräten, die im Schuppen herumlagen, mitgenommen haben? Deshalb war es nicht ausgeschlossen, daß Krammer die Nacht in diesem Schuppen verbracht hatte. Die Suche wurde in diesem Gebiet noch verstärkt. Kriminalbeamte und uniformierte Polizisten fuhren die Straßen ab, durchstöberten Schulen, Geschäfte und Kinos, baten um Mithilfe und gaben gute Ratschläge.
Im Hauptquartier in Carriford ging Agar den Gang entlang zu seinem Arbeitszimmer, nachdem er Chefsuperintendent Parkinson Bericht erstattet hatte. Da Clanton unterwegs war, hatte er den Raum für sich allein. Er rief Caroline an, um ihr zu sagen, er sei heil aus Lettworth zurückgekehrt, dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und starrte auf die Landkarte, die fast die ganze ihm gegenüberliegende Wand einnahm und das Gebiet zeigte, das die J.A.P. mit ihren verschiedenen Sektionen zu betreuen hatte. Er betrachtete das Gebiet der Sektion neun, in dem der bewußte Schuppen lag. War Krammer dort gewesen? Hielt er sich noch in diesem Gebiet auf? Nervös zündete er sich eine Zigarette an. Ob Krammer gerade versuchte, seine Seele zu finden, ob er überhaupt eine Seele hatte, nach welchem Maßstab eine Schuld zu bemessen sei – das waren jetzt alles bedeutungslose Fragen. Wo steckte Krammer? Wenn er, Agar, nur irgend etwas tun könnte, dachte er ärgerlich. Während J.A.P. in der Absicht gegründet worden war, den Polizeiapparat beweglicher zu machen, schien er zu absoluter Unbeweglichkeit verdammt zu sein. Sein Instinkt befahl ihm, auszurücken und etwas zu tun, aber seine Order lautete, er müsse hier sitzen bleiben.
Er versetzte sich in Krammers Lage. Ein Mann auf der Flucht brauchte Nahrung und Obdach: Krammer war in dem Augenblick verloren, wo er sich damit versorgen wollte. Selbst den kleinsten Laden im entlegensten Dorf durfte er nicht betreten, wenn er nicht auf den ersten Blick erkannt werden wollte. Er konnte also nur in ein Haus einbrechen, um sich Nahrung zu verschaffen, aber dieser Einbruch würde ihn ebenfalls sofort verraten.
Das Telefon läutete, und Agar nahm den Hörer ab. Drei Männer, die in Verbindung mit dem letzten Postraub gesucht wurden, waren durch die verstärkte Aktivität der Polizei in Kent gefaßt worden. Alle Diebe, Betrüger und andere Halunken waren bereit, bei der Jagd zu helfen. Sie haßten Krammer, da sie seinetwegen ein größeres Risiko tragen mußten.
Er fragte sich, ob jemand im J.A.P. alle Einbrüche oder Einbruchsversuche der vergangenen Nacht erfaßt hatte. Falls die Polizei sich jetzt allzusehr auf die Spur im Geräteschuppen verließ und andere Indizien dabei übersah, konnte das leicht ins Auge gehen. Agar nahm den Telefonhörer ab und wählte Parkinsons Nummer, der seinerseits mit vier anderen Chefsuperintendenten Kontakt aufnehmen konnte, um zu fragen, was man in dieser Hinsicht unternommen hatte. Falls nichts unternommen worden war, konnte er die nötigen Anweisungen geben. Leider war Parkinson nirgends zu erreichen. Wie immer, dachte Agar verbittert. Er ergriff sein Notizbuch mit der roten Plastikhülle und blätterte, bis er die Seite der Telefonnummern der J.A.P. fand. Da Parkinson nicht aufzufinden war, mußte ja schließlich jemand anders die sechzehn Kriminalinspektoren auf Trab bringen.
Die Schule in Stoneyacre war eine der Lehranstalten, die den neuen pädagogischen «Totalkurs» eingeführt hatte. Sie folgte im großen und ganzen dem Lehrplan der Volksschulen, wollte aber gleichzeitig in ihren Zöglingen die Minderwertigkeitsgefühle bekämpfen, die – so sagte man – durch das System der höheren Schulen hochgezüchtet worden waren. Sarah Bramswell gehörte zu den «Fortgeschrittenen», was bedeutete, daß sie eigentlich das Zeug für die höhere Schule gehabt hätte. Aber sie neigte zur Faulheit, so daß sie selten erreichte, was sie ihren Talenten nach hätte erreichen können. Unglücklicherweise gehörte sie stets zu den drei Besten der Klasse, weshalb sie leicht in der Lage war, jede Ermahnung zu härterer Arbeit als unbegründet abzulehnen. Sie war bei den meisten Mädchen beliebt, und einige Jungen hatten bereits bemerkt, daß sie ein sehr hübsches Mädchen zu werden versprach. Sie gab den Jungen jedoch keine Ermunterungen, da sie sich unter Sex nur etwas sehr Dummes vorstellen konnte.
Während der Sportstunden, die um elf Uhr dreißig begannen – der Sportunterricht am Samstag war mit dem «Totalkurs» eingeführt worden –, bevölkerten zweihundertdreiundsiebzig sehr lebhafte Schulkinder die Sportanlagen. Sarah hielt Ausschau nach Allyson Darcy, die die gleiche Klasse besuchte, aber zu der Kategorie der «Normalschüler» gehörte. Allyson hatte ein Gesicht mit außerordentlich vielen Sommersprossen und war daher nicht zu übersehen, aber so sehr Sarah sich auch anstrengte, sie konnte Allyson nirgendwo entdecken.
«Busty!» rief sie.
Ein Mädchen, das offensichtlich mit der Schwierigkeit zu kämpfen hatte, daß ein bestimmter Teil ihres Körpers sich allzu schnell entwickelte, blieb am Rande eines asphaltierten Platzes stehen, den die Jungen zum Cricketspielen benutzten.
«Busty, wo ist Allyson?»
«Krank. Sie hat Typhus oder die Cholera.»
«Aber … sie kann doch nicht ausgerechnet heute krank werden!» Sarah fuhr sich bestürzt mit der rechten Hand durch ihr blondes Haar.
«Sie soll so krank sein, daß sie schon einen Teil ihres Magens herausgehustet hat», erklärte Busty mit der Herzlosigkeit der gesunden Jugend, die Krankheit für einen Charakterfehler hält.
«Was ist denn jetzt mit der Party?»
«Wieso? Was soll denn damit sein?»
«Dann geht Allyson also nicht hin?»
«Sie? Der Sarg ist doch schon bestellt. Es soll ein ganz flacher, furchtbar billiger Sarg sein.»
«Ihr Vater sollte mich doch nach der Party nach Hause fahren!»
«Das wird er wohl nicht tun. Was ist denn mit deinem Vater los? Ist er lahm oder verkrüppelt?»
«Er muß zu einer dieser blöden Versammlungen.»
«Um was geht es denn heute? Freiheit für Lateinamerika?»
«Ich weiß nicht», sagte Sarah bedrückt und sah zutiefst enttäuscht aus.
«Ich verstehe nicht, warum du so das Gesicht verziehst. Du hast doch nur eine halbe Sekunde bis nach Hause.»
«Mammi hat das verboten, und darum habe ich ihr erzählt, daß ich mit Allysons Papa mitfahren würde.»
«Geht denn Dotty nicht hin?»
«Die frage ich nicht. Die hat mich verpetzt, weil ich das Gedicht an die Tafel geschrieben habe.»
«Das Gedicht war gar nicht schlecht», sagte Busty und kicherte.
Zwei Jungen kamen vorbei und ließen ein paar Bemerkungen über Bustys Brustweite fallen. Sie antwortete mit solchem Temperament, daß sie sich mit hochroten Ohren trollten. «Warum läßt deine Mutter dich denn nicht allein nach Hause gehen?» fragte sie nach einer Weile.
«Das hat irgendwas mit dem Mann zu tun, der aus dem Zuchthaus entflohen ist. Als ich fragte, was er denn mit den Mädchen gemacht hat, hat mir keiner was gesagt. Mammi ist manchmal dumm. Ich könnte in zehn Minuten zu Hause sein, aber sie sagte, das ginge auf gar keinen Fall. Deshalb behauptete ich, Allysons Vater würde mich heimfahren. Aber so, wie es jetzt aussieht, wird sie ja gar nicht zur Party gehen können.»
«Hast du irgend jemand erzählt, daß sie nicht geht?»
«Sei nicht so blöd! Wie kann ich das jemand gesagt haben, wenn ich es doch gerade erst von dir erfahren habe?»
«Dann sag niemand was davon.»
Sarah meinte nachdenklich: «Mammi hat nie mehr Vertrauen zu mir, wenn sie merkt, daß ich lüge.»
«Aber wer lügt denn? Als du ihr das gesagt hast, konntest du ja noch nicht wissen, daß es nicht wahr sein würde. In der Zwischenzeit hat sie nicht gefragt, ob sich irgend etwas geändert hat. Also, wenn sie nicht fragt und du nichts sagst, kannst du auch nicht lügen, oder?»
«Hm.»
«Du bist viel zu wenig raffiniert, weißt du.»
«Wer ist zu wenig raffiniert?»
«Du natürlich, wenn dir so was nicht einmal von selbst einfällt.»
«Ich bin nicht psychologisch verdreht», antwortete Sarah überlegen.
«Du vielleicht nicht, aber dein Vater ist es ganz bestimmt!» erwiderte Busty, entschlossen, das letzte Wort zu haben.