10
Mrs. Pretty saß in ihrem Wohnzimmer und starrte vor sich hin. Die Unordnung um sie her bemerkte sie gar nicht. Es war Sonntagmorgen. Das Schicksal hatte sich gegen sie verschworen. Heute wurde keine Post ausgetragen.
Mechanisch, wie schon so oft, seitdem Krammer in ihr Haus eingebrochen war, sah sie auf die Uhr. Sieben Uhr zweiundvierzig. Sie fühlte sich wie ausgelaugt. Sie hatte nicht mehr genügend Kraft, weiterzukämpfen. Dann, mit enormer Willensanstrengung, zwang sie sich dazu, vorwärtszuschauen, nicht rückwärts. Wenn der Postbote heute also nicht kam, mußte sie sich etwas anderes ausdenken. Ihr fiel die Sonntagszeitung ein, die von einem vierzehnjährigen Jungen auf einem buntgestrichenen Fahrrad ausgeteilt wurde. Der Junge pfiff immer die gleiche Melodie, und zwar hoffnungslos falsch. Doch der würde ihr nicht helfen können. Sie fürchtete, er war noch zu jung und zu dumm. Wenn er ihre Anweisungen nicht sofort begriff, war das Leben des Mädchens gefährdet. Sie konnte das nicht riskieren. Aber jedenfalls würde er die Zeitung in die Box neben dem Gartentor legen, wo sie am vergangenen Nachmittag das Geld dafür, zwei Schillinge, hingelegt hatte.
Langsam ging sie aus dem Wohnzimmer in die Vorhalle, und als sie dort stand, nahm sie oberhalb der Treppe eine Bewegung wahr. Krammer stand oben am Geländer. Er hatte seine Uniform mit einem hellgrauen Anzug vertauscht, der ihm bemerkenswert gut stand.
Sie schauderte zusammen. «Gott, nein!» murmelte sie verstört.
Seine linke Hand vollführte eine unbestimmte Geste. «Was fehlt Ihnen, Amelia?»
«Dieser Anzug.»
Er sah an sich hinunter. «Ich fand ihn in meinem Zimmer im Schrank. Dort hängen auch noch andere Anzüge. Ich dachte, es macht Ihnen sicher nichts aus, wenn ich ihn mir ausleihe. Oder stört es Sie?»
Sie wollte ihm keine Antwort darauf geben, aber dann sagte sie, einem unwiderstehlichen Zwang gehorchend: «Mein verstorbener Mann hat diesen Anzug am liebsten getragen … und … einen Augenblick lang sahen Sie ihm ein bißchen ähnlich.»
«Das tut mir schrecklich leid.»
«Es macht nichts», sagte sie tonlos.
Er kam die Treppe herunter, bewegte sich dabei mit übertriebener Vorsicht, als ob jeden Augenblick die Treppe einstürzen könnte. Dann sagte er: «Sarah ist aufgewacht. Sie hat großen Hunger und möchte frühstücken. Sie läßt Sie fragen, ob Sie vielleicht ein weiches Ei für sie kochen können. Sie mag sie nicht, wenn sie hartgekocht sind, und sie mag sie auch nicht so weich, daß das Eiweiß noch flüssig ist. Ihre Mutter kocht sie immer genau vier Minuten lang. Ich hoffe, Sie haben Eier im Haus?»
«Ja.»
«Und vielleicht haben Sie auch noch ein paar Scheiben Schwarzbrot. Sie mag Schwarzbrot viel lieber als weißes. Je kräftiger, um so besser.»
«Ich habe nur Weißbrot.»
«Na ja – sie wird schon damit zufrieden sein.»
«Ich gehe gleich in die Küche. Wenn das Frühstück fertig ist, bringe ich es ihr hinauf.»
«Es tut mir leid, Amelia, aber ich bringe es ihr lieber selbst.»
«Warum?»
«Bitte, fragen Sie mich jetzt nicht danach. – Sie werden doch nicht lange Zeit dazu brauchen, oder? Sie ist wirklich sehr hungrig.»
Sieben Uhr dreiundfünfzig. Die Sonne stand schon hoch über den Wipfeln. Die Schatten der Bäume wurden zusehends kürzer und wichen nach Norden aus. Der Tag versprach wundervoll zu werden. Die Schwalben schossen über der Wiese hin und her, und hoch über ihnen zog ein großes Flugzeug majestätisch dahin, vier weiße Kondensstreifen hinter sich lassend, die sich zu einer weißen Schleppe vereinigten.
Die Polizisten schwitzten, und die meisten hatten den Uniformrock ausgezogen. Die Hunde hechelten, aber sie ließen kaum nach in ihrem Eifer und gaben kräftig Laut, wenn sie irgend etwas Verdächtiges aufgespürt hatten. Eine nervöse Spannung ergriff die Männer, wenn sie das Bellen hörten. Denn diesmal hatten die Hunde vielleicht gefunden, wonach sie alle suchten. Doch dann kam die Meldung, es sei doch wieder falscher Alarm, und die Suche ging weiter.
Endlich, um sieben Uhr neunundfünfzig, fanden sie eine Spur.
Ein schwarz-gelb gezeichneter Schäferhund bellte, und die ganze Linie blieb wie auf Kommando stehen. Sie hatten das Gelände zum zweitenmal durchkämmt und standen jetzt nur noch ungefähr fünf Meter von der Böschung der Landstraße nach London entfernt. Der Hundeführer bückte sich und sah, daß der Hund eine Seilrolle verbellte, wie es die Bauern zum Garbenbinden verwendeten.
«Nichts», sagte er enttäuscht und zuckte die Achseln.
«Nichts? Was ist denn dann mit deinem Köter los?» stichelte der Polizist rechts neben ihm. «Hat er vielleicht einen Sonnenstich und verbellt seinen eigenen Schatten?»
Der Hundeführer, der für sein hitziges Temperament bekannt war, warf dem Beamten ein paar angelsächsische Kraftausdrücke an den Kopf und erklärte dann, sein Hund habe ihn eben auf eine Seilrolle aufmerksam gemacht, aber nur ein Idiot könne vermuten, das Seil habe etwas mit dem vermißten Kind zu tun. Der Polizist, der seine Krawatte gelockert und den Kragen geöffnet hatte, da seine Vorgesetzten weit genug entfernt waren, trat hinzu und starrte auf die Seilrolle hinab, die zwischen den kniehohen Brennesseln lag.
«Weißt du, was uns der Strick einbringen kann?»
«Er ist zwar neu, aber …»
«Den blauen Brief, mein Lieber, wenn wir nicht dem Chef davon Meldung machen!» Der Polizist winkte den nächsten Mann herbei, der sein Tornistergerät zum Teufel wünschte, weil er sich deswegen seine Jacke nicht ausziehen konnte. «Fred, gib die Meldung durch, wir hätten eine nagelneue Seilrolle gefunden!»
Die Meldung wurde an den Einsatzstab weitergegeben, der ein allgemeines Halt befahl und den Hundeführer anwies, seinen Hund vom Fundort zurückzunehmen. Eine Minute später brauste ein schwarzes Auto auf der schmalen Straße heran. Superintendent Pearce und Kriminalinspektor Raydon stiegen aus.
Die beiden Kriminalbeamten kletterten ganz langsam und vorsichtig die Böschung hinunter, betrachteten jedes Grasbüschel, ehe sie den Fuß darauf setzten. Als sie endlich die Stelle erreichten, wo die Seilrolle zwischen den Brennesseln lag, hatten die beiden den gleichen Gedanken. Das war kein Gegenstand, den man so ohne weiteres verlor oder fortwarf. Schließlich war die Rolle etwa fünfzehn Zentimeter hoch, betrug vielleicht fünfundzwanzig Zentimeter im Durchmesser und wog mindestens zwei Pfund. Aber das bedeutete noch lange nicht, daß diese Seilrolle etwas mit dem vermißten Mädchen zu tun hatte, oder doch? Sie starrten den Strick an, als ob er ihnen Auskunft geben könnte.
Auf der Straße brachte Agar seinen Morris hinter dem Austin zum Stehen, kletterte heraus, stellte sich an den Rand der Böschung und rief: «Was gibt’s, Sir?»
Pearce brummte etwas Unverständliches, ohne sich umzudrehen.
Raydon beantwortete Agars Frage: «Eine Seilrolle, Bill, funkelnagelneu. Wir fragen uns, wie sie hierhergekommen ist.»
Agar kletterte den Abhang hinunter, aber an einer anderen Stelle als seine beiden Kollegen. Wie sie suchte er erst den Boden ab, ehe er einen Schritt machte, um nur ja keine Spuren zu vernichten. Und so entdeckte er den Fußabdruck.
Er kniete nieder. Hier war das Gras verdorrt und die Erde so ausgetrocknet, daß sie eine dünne feine Kruste gebildet hatte. Und auf dieser dünnen Erdkruste – so hell und fein wie Sand – hatte der Absatz eines Schuhs seinen Abdruck hinterlassen.
«Was gefunden, Agar?» fragte der Superintendent.
«Fußabdruck», murmelte Agar, ohne sich aus seiner hockenden Stellung aufzurichten.
«Guter Gott, Mann, in dem Park gibt es bestimmt Tausende von Fußspuren. Wir sollten lieber die Leute weitersuchen lassen. Ich werde die Rolle zum Einsatzwagen bringen, aber ich glaube nicht, daß wir damit viel anfangen können.»
«Warten Sie noch einen Moment, Sir.» Agar zog sein Notizbuch aus der Rocktasche, riß ein Blatt heraus und versuchte damit das Sonnenlicht so zu reflektieren, daß er den Abdruck deutlicher erkennen konnte. Aber mit dieser Methode kam er auch nicht weiter. Er verfluchte die Hitze, die den Boden so ausgetrocknet hatte, daß er keinen Fußabdruck mehr annehmen wollte. Er überlegte, ob er die Erde um den Abdruck herum anfeuchten sollte, entschied sich aber dann dagegen.
Seine beiden Kollegen waren inzwischen zu ihm getreten und sahen ihm zu. Agar rutschte auf den Knien um den Abdruck herum, prüfte Lichteinfall und Schattenbildung, hielt dann das Blatt im Winkel von 45 Grad über den Abdruck, beugte sich vor, bis seine Wange das Gras berührte, und konnte jetzt endlich den Abdruck einigermaßen deutlich erkennen. Er richtete sich auf, schlug sein Notizbuch auf und studierte die Skizze, die er von dem Profil M 72 angefertigt hatte. Der Abdruck und die Skizze stimmten überein, außer in einer wichtigen Einzelheit: an der rechten Kante fehlte die Zeichnung, wo der Absatz sich abgenützt hatte.
«Nun?» schnautze Pearce ungeduldig. «Ist das eine stille Andacht, oder dürfen wir mitmachen?»
Agar erhob sich und wischte den Staub von seinen Knien. «Ich bekam heute morgen ein Fernschreiben, Sir, von der Sektion 9 der J.A.P. Man fand einen Fußabdruck bei dem Geräteschuppen, in dem Krammer vermutlich übernachtet hat. Ich kann mit fünfundneunzig Prozent Sicherheit sagen, daß dieser Abdruck mit dem in Surrey gefundenen identisch ist.»
Der Superintendent ließ sich auf die Knie fallen und studierte den Abdruck zuerst von der einen Seite, dann von der anderen. Er stand auf. «Zeigen Sie mal Ihre Skizze.»
Als Agar ihm sein Notizbuch hinüberreichte, starrte er lange Zeit auf die Zeichnung. Dann schlug er das Notizbuch zu und brummte: «Sie passen.» Er steckte die Hände in die Hosentaschen, und seine mächtige Gestalt schien plötzlich zusammenzusinken, als ob er alle Muskeln zugleich entspannte. «Sperren Sie das Gelände im Umkreis von fünfzig Metern und schicken Sie mir drei Männer hierher, die jeden Quadratzentimeter absuchen sollen. Alle anderen durchkämmen weiterhin das Gelände.»
Befehle wurden erteilt, und Männer und Hunde nahmen die Suche wieder auf. Drei Polizisten traten aus der Linie heraus, um in dem abgesteckten Kreis an die Arbeit zu gehen.
Agar hob vorsichtig die Seilrolle vom Boden auf und wendete sie hin und her, ohne etwas Auffälliges daran zu entdecken.
Ein großer schwarzer Humber hielt mit kreischenden Bremsen hinter den beiden anderen Wagen, und der Polizeidirektor, der den Großeinsatz leitete, stieg aus. Er rief den Superintendenten zu sich und ließ sich Bericht erstatten. Dann nahm er die Seilrolle in Augenschein und wollte gerade etwas sagen, kam aber nicht dazu.
«Sir!» rief einer der drei Polizisten.
Alle drehten sich um. «Was gibt’s?» rief Pearce.
«Ich glaube, ich habe ein paar Blutspuren gefunden.»
Agar und Raydon untersuchten die Stelle, auf die der Polizist deutete. Auf einer Fläche, die ungefähr vierzig Zentimeter im Quadrat maß, waren ganz deutlich dunkle, rostrote Flecken auf dem Gras zu erkennen.
Raydon rief dem Beamten, der in der Nähe mit einem Funkgerät bereitstand, zu, er solle sich mit dem Einsatzwagen in Verbindung setzen und eine Schere, einen Plastikbeutel und einen Polizeifotografen anfordern.
Agar verließ den Sperrkreis und kletterte die Böschung hinauf. Dann zündete er sich eine Zigarette an. Stammte das Blut von Krammer oder von dem Mädchen? Vielleicht hatte das Mädchen heftigen Widerstand geleistet und Krammer das Gesicht zerkratzt. Aber weshalb lag diese Stelle verhältnismäßig weit von der Straße entfernt? Und hatte in der Tragödie das Seil ebenfalls eine Rolle gespielt? Eine Flut von Fragen schoß ihm durch den Kopf, nur eine Antwort konnte er darauf nicht finden. Eines stand jedoch fest: Krammer war für Sarah Bramswells Verschwinden verantwortlich.
Er blickte die Straße hinunter, als ihn Motorengeräusch aus seinen Gedanken schreckte. Ein Polizeisergeant und ein Kriminalbeamter kletterten die Böschung hinunter, während ein Gerätewagen und ein Mannschaftswagen mit laufenden Motoren am Straßenrand hielten. Dahinter drängte sich eine lüsterne Gruppe von Gaffern, aber die Polizisten im Mannschaftswagen verhinderten, daß sie sich zu weit vorwagte. Inzwischen hatte der Kriminalbeamte seine Kamera aufgebaut.
Pearce legte die Seilrolle wieder genau an der Stelle nieder, wo sie der Hund aufgestöbert hatte, wartete, bis sie von allen Seiten fotografiert worden war, und ließ sich dann von dem Sergeanten eine Schere und drei Plastikbeutel geben. Er schnitt das Gras selbst ab und verteilt es auf die drei Plastikbeutel. Dann hob er die Rolle wieder vom Boden auf und überreichte sie Raydon. «Vielleicht können die Jungen im Labor mehr damit anfangen als wir.»
Schließlich rief man einen Funkstreifenwagen herbei und befahl dem Fahrer, er solle die Rolle und die Plastikbeutel so schnell in das Labor von Scotland Yard bringen, als hinge sein eigenes Leben davon ab.
Mrs. Pretty spülte das Frühstücksgeschirr, wozu sie Seifenflocken benutzte, denn sie weigerte sich zu glauben, andere Spülmittel seien ebenso wirkungsvoll. Sie weigerte sich, mit der Zeit zu gehen. Alle Dinge aus der guten, alten Zeit waren wertvolle Schätze. Von den «modernen» Errungenschaften hielt sie grundsätzlich nichts. Der Todestag ihres Mannes war für sie der Stichtag. Alles, was danach folgte, war modern und deshalb abzulehnen.
Sie stellte die Teller zum Abtropfen neben das Spülbecken. Sarah hatte das ganze Frühstück aufgegessen, nur eine halbe Scheibe Brot mit Butter war übriggeblieben. Das war recht tröstlich. Ein Kind, das gut aß, blieb auch bei Kräften.
Sie mußte etwas tun, um das Mädchen zu retten. Sie mußte etwas unternehmen, statt in Passivität zu verharren. Aber was konnte sie tun, ohne das Mädchen zu gefährden? Denn am meisten erschreckte sie die Vorstellung, an welch dünnem Faden Sarahs Leben hing. Krammer brauchte sie nur bei dem kleinsten Versuch zu ertappen, Hilfe zu holen, und würde sofort das Mädchen töten. Dieser Mord würde ihm nichts bedeuten. Hinzu kam der quälende Gedanke, daß es vielleicht ihre Pflicht sei, diese Krisensituation beschleunigt herbeizuführen, denn selbst wenn Krammer seine bestialische Drohung ausführte, war das immer noch tausendmal besser für das Mädchen, als die unaussprechlichen Qualen auszustehen, die die anderen Mädchen hatten erdulden müssen. Sarah würde dann nur einige Minuten lang diese Hölle erleben, aber nicht ganze Tage hindurch. Aber würde sie, Amelia Pretty, nicht den Verstand verlieren bei der Erinnerung, daß sie für den Mord an dem Mädchen selbst verantwortlich war? «Wo Leben ist, ist Hoffnung» – sollte sich das ins Gegenteil verkehren?
Dann fiel ihr das uralte Problem wieder ein. Wenn Mutter und Kind zu ertrinken drohten und man nicht beide retten konnte – welche Entscheidung sollte man treffen?
Krammer betrat die Küche. «Es ist ein wunderschöner Tag heute. Am liebsten möchte ich irgendwo ein Picknick halten.»
Sie begann das Geschirr abzutrocknen. Es war in recht erbärmlichem Zustand – wie so vieles im Haus. Sie mußte unbedingt ein neues Service kaufen. Ein Teeservice mit Rosenmuster.
«Lassen Sie mich das machen», sagte er plötzlich und nahm ihr das Tuch aus den Händen. «Wissen Sie, Amelia, früher veranstaltete ich immer Picknicks, in den Bergen in Cumberland, wo ich geboren bin.»
«Ich weiß.»
«Wußten Sie das? Aber natürlich, Sie haben ja über mich in den Zeitungen gelesen. Ich muß Ihnen etwas erklären. Die Zeitungen haben Lügen über mich erzählt. Stimmt, ich habe ein paar Katzen verbrannt, aber es war nicht so, wie sie in den Zeitungen schrieben. Ich empfand dabei gar kein Vergnügen. Todd – ein Mann, den ich damals gekannt habe – sagte mir, er habe was gegen Katzen. Und ich wollte ihm imponieren. Verstehen Sie denn das nicht?»
«Ja», sagte sie, ohne daß sie es meinte. Es war ihr unbegreiflich, wie ein schon halberwachsener Junge Katzen bei lebendigem Leib verbrennen konnte.
Da er offensichtlich der Richtung ihrer Gedanken nicht gefolgt war, fuhr er fort: «Natürlich waren das keine richtigen Picknicks.» Er setzte den abgetrockneten Teller vorsichtig auf dem Küchentisch ab, der mit einem alten Wachstuch bedeckt war. «Ich besaß ja keinen Pfennig. Ich schnitt mir eine Scheibe Brot ab und bestrich sie mit Marmelade oder holte heimlich ein Stück Schinken aus der Speisekammer. Dann kletterte ich auf den Gipfel des Berges, der hinter unserem Haus lag, kaute mein Brot und träumte, ich wäre ein Gott. Kein Mensch weit und breit, mit niemandem mußte ich meinen Berg teilen. Das war die einzige Zeit in meinem Leben, in der ich mich wirklich frei fühlte.»
Sie drehte sich so rasch herum, daß ihr der nasse Spüllappen aus der Hand glitt. «Sie sagten gerade, wie schön es für Sie war, frei zu sein, da oben auf dem Berggipfel. Begreifen Sie denn nicht, wie furchtbar es für ein Kind ist, Tag und Nacht im Zimmer eingesperrt zu sein?»
«Ich weiß es.»
«Warum lassen Sie sie dann nicht frei?»
«Ich kann nicht – noch nicht.»
«Wann denn?»
«Nach vier Tagen.»
«Guter Gott, nein!» schrie sie. «Nein, das dürfen Sie nicht tun!»
Er trocknete bedachtsam den letzten Teller ab. «Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen.» Er legte seine rechte Hand auf ihren nackten Arm, dicht unterhalb des hochgekrempelten Blusenärmels.
Sie schüttelte seine Hand ab und starrte auf das Messer, das auf dem Küchentisch lag.
Er folgte ihrem Blick, und seine Augen zogen sich zusammen. Er schien zu überlegen, ehe er vorsichtig und behutsam, wie es seine Art war, zum Tisch ging und das Brotmesser aufnahm. Nach jahrelangem Gebrauch hatte die Klinge sich so abgeschliffen, daß sie so scharf und dünn wie ein Stilett war. Er rammte das Messer durch das Wachstuch in den Tisch und bog es mit heftigem Ruck zur Seite, so daß die Klinge genau unterhalb des Griffs abbrach. «Wir müssen noch die beiden Tassen dort abspülen», sagte er und legte den Messergriff auf den Tisch. Wie betäubt sah sie sich nach den beiden Tassen um, die am hinteren Ende des hölzernen Spülbrettes standen. Während sie die Tassen in das Seifenwasser legte, fragte sie sich bitter, ob sie wohl den Mut aufgebracht hätte, mit dem Messer zuzustoßen.
«Ich habe Sarah von meinen Picknicks erzählt, während sie ihr Frühstück aß», sagte er, sich erinnernd. «Sie ist ein wundervolles kleines Mädchen und so intelligent. Sie erzählte mir, daß ihre Eltern oft mit ihr ans Meer fahren und am Strand Picknick halten. Sie sagt, sie liebt das Meer, wenn die Wellen hoch gehen und die Brandung gegen die Felsen donnert, denn dann fühle man, welche Gewalt das Meer hat. Ich glaube nicht, daß die meisten Mädchen in ihrem Alter intelligent genug sind, über so etwas nachzudenken. Stimmt das nicht?»
«Ich weiß es nicht.»
«Sie sagten mir, Ihre Ehe war kinderlos, nicht wahr, Amelia?»
«Ja.»
«Wollten Sie denn keine? Oder hätten Sie gern Kinder gehabt?»
Sie wusch die letzte Tasse ab und zog den Stöpsel aus dem Abfluß. Das Wasser floß mit gurgelndem Geräusch ab.
«Na? Wollten Sie keine?»
«Doch», antwortete sie fast flüsternd.
«Das freut mich. Ich wußte, daß Sie ein solcher Mensch sind. Bevor ich es vergesse, Amelia, ich habe Sarah gefragt, was sie gern zu Mittag essen möchte. Sie sagte, am liebsten hätte sie geräucherten Lachs mit viel Weinessigsauce. Aber haben Sie denn Lachs im Haus?»
«Ja.»
«Das ist ja großartig, denn darüber wird sie sich sehr freuen. Sie erzählte mir, zu Hause gäbe es das nur zu besonderen Gelegenheiten, weil ihre Mutter meint, wenn sie es öfter bekäme, würde sie zu wählerisch im Essen. Ihre Mutter muß eine sehr vernünftige Frau sein, nicht wahr, und ihre Tochter sehr lieben?»
Mrs. Pretty erwiderte irgend etwas Belangloses. Urplötzlich war ihr eine Idee gekommen, wie sie Alarm schlagen konnte, ohne daß Krammer etwas davon erfuhr. In den Achtuhrnachrichten war die Meldung durchgegeben worden, Sarah Bramswell werde noch vermißt, und es gäbe Gründe, anzunehmen, Krammer habe sie entführt. Daher werde die Bevölkerung gebeten, alles zu melden, was der Polizei einen Hinweis geben könnte, gleichgültig, wie dumm oder trivial es auch scheinen mochte. Sie würde daher die Geschäfte im Ort anrufen und kleine Bestellungen aufgeben, doch es mußten Bestellungen sein, die den Geschäftsinhaber sofort auf den Gedanken bringen mußten, daß etwas nicht in Ordnung war. Als sie sich dann überlegte, was sie bestellen könnte, das Verdacht erregen würde, fiel ihr wieder ein, daß Sonntag war. Krammer würde wissen, daß normalerweise am Sonntag niemand eine telefonische Bestellung aufgab, nicht einmal auf dem Land.
«Wollten Sie etwas sagen?» fragte er. «Sie sahen so aus, als hätten Sie etwas Wichtiges auf dem Herzen.»
Sie wollte gerade den Kopf schütteln, als ihr eine weitere Möglichkeit einfiel. Im Bruchteil einer Sekunde hatte sie sich eine passende Antwort überlegt. «Ich gehe sonntags immer zur Kirche.»
Er hängte das Geschirrtuch vorsichtig über das Wandbrett und breitete es aus, damit es trocknen konnte. «Ich fürchte, heute können Sie nicht zur Kirche gehen. Das ist ganz unmöglich.»
«Aber ich verspreche Ihnen, niemand etwas zu sagen!»
Er schüttelte den Kopf: «Es wäre nicht richtig, Sie dieser Versuchung auszusetzen.»
«Ich ordne immer die Blumen nach der Kommunion und vor der ersten Messe.»
«Man wird schon einen Ersatz für Sie finden. Im Gefängnis fand sich immer jemand, der das erledigen konnte.»
«Wenn ich nicht zur Kirche kommen kann, muß ich den Vikar anrufen und Bescheid sagen, daß ich heute die Blumen nicht aufstellen kann. Dann hat er wenigstens Zeit, jemand zu finden.»
Er dachte nach. «Ich glaube, das ist richtig. Es ist so ergreifend, wenn der Altar mit Blumen geschmückt ist. Sollen wir jetzt das Geschirr wegräumen? Dann muß ich hinaufgehen, um nach Sarah zu sehen und sie zu fragen, ob sie etwas wünscht. Ich glaube, sie möchte etwas Milch. Haben Sie genug im Haus?»
«Nicht mehr viel.»
«Dann schreiben Sie am besten dem Milchmann einen Zettel, und ich bringe ihn dann hinaus. Wo stellt er immer die Milch hin?»
«Draußen an der Speisekammer.»
«Ist die Speisekammer dort? Bestellen Sie zwei Flaschen, ja? Auch wenn Sarah besonders gern Milch trinkt, dürfte es reichen, denn ich nehme Milch nur zum Kaffee, nie zum Tee.»
Sie zog die rechte Schublade der alten Anrichte auf und holte ein Notizbuch heraus. Sie schrieb «zwei Flaschen, bitte» auf das erste Blatt, riß es heraus und gab es ihm. Er las, was sie geschrieben hatte, drehte dann das Blatt um, um sich zu vergewissern, daß nichts auf der Rückseite stand. Dann ging er durch die Speisekammer, die sie auch als Abstellkammer benutzte, riegelte die Tür auf und öffnete sie. Sie sah über seine Schulter auf das große runde Rosenbeet.
«Wohin sollen wir den Zettel legen?»
«Auf die Kiste dort.»
Er las die Notiz noch einmal und beschwerte das Blatt mit einem Stein, der oben auf der Kiste lag. Sie gingen ins Haus, und er riegelte die Tür wieder ab.
Sie ging durch die Küche in den Flur und zum Telefon. Sie nahm das Telefonbuch auf und suchte unter der Rubrik «R», bis sie auf die Spalte «Roydon J., Vikar» stieß. Sie wählte die Nummer. Als sie auf die Verbindung wartete, beobachtete sie Krammer, der in der Halle auf und ab ging und die Ölgemälde betrachtete, mit einer Miene, als ob er wirklich etwas von Kunst verstünde. Sie hatte dabei den merkwürdigen Eindruck, er bemühe sich, sie nicht zu verwirren, während er ihr zuhörte.
Eine Frauenstimme meldete sich: «Hier ist Stoneyacre drei-zwo-zwo.»
«Mrs. Roydon?» Sie versuchte verzweifelt, ihrer Stimme einen normalen Tonfall zu geben.
«Ja, wer spricht denn dort?»
«Hier ist Amelia Pretty. Ich rufe Sie an, um Ihnen zu sagen, daß es mir schrecklich leid tut, aber ich fühle mich nicht recht wohl und werde heute morgen die Blumen in der Kirche nicht arrangieren können.»
«Verzeihung, was sagen Sie da?»
«Sie werden bestimmt noch jemand finden, der Ihnen Blumen aus seinem Garten mitbringen kann. Es tut mir schrecklich leid, daß ich Sie ausgerechnet heute im Stich lassen muß.»
«Aber, Mrs. Pretty, entschuldigen Sie, ich verstehe gar nicht, wovon Sie sprechen! John hat mir kein Wort davon gesagt, daß Sie heute für den Altarschmuck Blumen mitbringen wollen. Soviel ich weiß, ist Mrs. Avory …»
«Ich weiß, ich weiß … Es ist das erste Mal, daß ich einen Sonntag auslasse, seit Sie und Ihr Mann unserer Gemeinde vorstehen. Aber so Gott will, bin ich nächste Woche wieder auf dem Posten. Auf Wiedersehen, Mrs. Roydon.» Sie legte den Hörer auf.
Krammer nickte ihr zu. «Ich bin sicher, sie werden jemand finden, der ihnen die Blumen richtet.»
Die Frau des Vikars mußte begriffen haben, was dieser Anruf bedeutete, dachte Mrs. Pretty. In den fünf Jahren, in denen die Roydons nach Stoneyacre gezogen waren, hatte sie noch nie einen Fuß in die Kirche gesetzt. Das einzige, was sie für die Gemeinde tat, war eine Spende von fünf Pfund, die sie jedesmal zu Ostern an den Vikar überweisen ließ. Mrs. Roydon mußte begriffen haben, was dieser Anruf wirklich bedeutete.
In der Pfarrei hörte Mrs. Roydon ihren Mann die Treppe herunterkommen. «John!» rief sie laut.
Er kam zu ihr ins Arbeitszimmer, wo das Telefon stand. «Was gibt es, mein Liebling? Ich muß in die Kirche, sonst komme ich zu spät zur Andacht.»
«Gerade hat mich Mrs. Pretty angerufen.»
«Eine zweifelhafte Ehre!»
«Sie entschuldigte sich und sagte, sie könne heute in der Kirche nicht den Altar schmücken. Sie hoffe, wir würden jemand anderen finden.»
«Wie bitte?»
«Das sagte sie.»
«Verrückt, total verrückt! Ich habe ja immer gesagt, ein Mensch kann sich nicht von der Welt abkapseln, ohne verrückt zu werden. Jetzt muß ich aber in die Kirche, bevor sich der Chor versammelt.»
Den ganzen Sonntagmorgen hindurch rief die Polizei die Bevölkerung zur Mithilfe auf, und das Echo war gewaltig; zu Hunderten rückten freiwillige Helfer in Stoneyacre mit allen nur erdenklichen Transportmitteln an, und die Polizei mußte sechzig Beamte abstellen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten.
Scotland Yard war um Amtshilfe gebeten worden, und eine Sonderkommission traf um elf Uhr fünf aus London ein. Dieses eine Mal rief ihr Erscheinen keinen Haß bei der Grafschaftspolizei hervor: der Teufel selbst wäre willkommen gewesen, wenn er seine Hilfe angeboten hätte.
Schwitzende Polizeioffiziere beugten sich über Generalstabskarten und planten neue Operationen. Jetzt nahmen sie sich die Landkreise vor, die an Stoneyacre angrenzten. Hundert Mann starke Suchtrupps wurden zusammengestellt, um ein bestimmtes, auf der Karte abgegrenztes Gebiet zu durchkämmen. Jedem Trupp wurde ein Hundeführer zugeteilt, die bis von Schottland herbeieilten, um sich an der Suche zu beteiligen. Zwei weitere Hubschrauber waren am Ortsrand von Stoneyacre gelandet, und ein Streifendienst war organisiert worden, bestehend aus Hunderten von freiwilligen Autofahrern, der alle Straßen der Grafschaft abfuhr, nach allem Ausschau hielt, was verdächtig erschien. Dieses Massenaufgebot brachte natürlich auch Mißverständnisse mit sich, verursachte manchen Unfall, und sogar Verletzte gab es, doch nichts konnte die Suche aufhalten. Zehn Meilen im Umkreis von Stoneyacre wurden die Telefonanrufe bei der Polizei so zahlreich, daß die Leitungen überlastet waren. Selbst die pensionierten Beamten wurden für den Einsatz aufgeboten, und als keine Beamten mehr zur Verfügung standen, sprangen die Polizeipräsidenten der anderen Grafschaften sofort hilfsbereit ein. Die Armee wurde gebeten, Feldtelefonleitungen zu verlegen und ihre Funkfrequenzen zur Verfügung zu stellen.
Die Sonne stand jetzt im Zenit, und die Hitze machte den Männern und Frauen arg zu schaffen, die ihren freien Sonntag geopfert hatten, um ein vermißtes zwölfjähriges Mädchen wiederzufinden.
Langsam wanderte die Sonne wieder dem Horizont zu.
Die Stunden verrannen – und jede Stunde bedeutete die Verlängerung einer Qual für Sarah Bramswell, die sich keiner von den Menschen, die um sie bangten, zu genau vorzustellen wagte. Keiner wußte, wann Krammer begonnen hatte, seine früheren Opfer zu quälen und zu martern. Man wußte nur, daß die Mädchen erst nach vier Tagen von ihren entsetzlichen Qualen erlöst wurden. Jetzt wurde Sarah Bramswell seit fünfzehn Stunden vermißt.
Agar saß im Einsatzwagen und sprach durch ein Telefon, das ein Bautrupp der Post eben erst installiert hatte, mit der Sektion 9 der J.A.P., als einer der anderen beiden Apparate auf dem kleinen Tisch läutete. Ein Sergeant nahm das Gespräch entgegen und kritzelte hastig etwas in sein Notizbuch. Sowie Agar sein Telefonat beendet hatte, beugte er sich hinüber, um zu lesen, was der Sergeant geschrieben hatte, und er sah die Buchstaben «AB». Das war offensichtlich die Blutgruppe, der das auf dem Gras getrocknete Blut angehörte. Sekunden später beendete der Sergeant sein Gespräch und legte den Hörer auf. Er blickte hoch. «Das Laboratorium, Sir, mit dem Blutgruppenbefund.»
«Ich werde es weitergeben.»
«Sehr gut, Sir.»
Agar quetschte sich an dem Sergeanten vorbei und kletterte aus dem Wagen. Die Polizeioffiziere vom Einsatzstab standen in einer Gruppe beisammen und studierten eine Karte, die sie über dem Kühler eines Autos ausgebreitet hatten. Er trat hinzu, und nach einer Weile drehte Superintendent Pearce sich um. Sein Gesicht war gerötet; man sah ihm an, daß es Ärger gegeben hatte.
«Das Laboratorium hat das Ergebnis der Blutuntersuchung durchgegeben, Sir. Es gehört zur Blutgruppe AB.»
Alle horchten auf, als er zu sprechen begonnen hatte. Nur das Rascheln von Papier war noch zu vernehmen.
«Ist AB nicht die seltenste Gruppe?» fragte der Polizeidirektor endlich.
«Ja, Sir», gab Agar zurück. «Nur ungefähr fünf Prozent der Bevölkerung besitzt diese Gruppe.»
«Weiß jemand, was für eine Blutgruppe das Mädchen hat?»
Keine Antwort.
«Warum, zum Teufel, hat das niemand festgestellt?»
Wieder Schweigen.
«Agar», zischte Pearce, «stellen Sie sofort die Blutgruppe des Mädchens und die von Krammer fest.»
Agar ging zu seinem Morris zurück, der sich zwischen den Autos seiner Vorgesetzten recht schäbig ausnahm.
Er fuhr ins Zentrum von Stoneyacre. An der Kreuzung hinter dem Stadtpark stand ein Polizist und regelte den Verkehr und verhinderte, daß neugierige Passanten bis zum Einsatzwagen vordrangen. Ein Fernsehreporter versuchte, Agar zu interviewen, als er auf das Signal eines Polizisten hin seinen Wagen zum Stehen brachte. Er hielt das Mikrofon durch das geöffnete Seitenfenster, aber Agar verweigerte jede Antwort und fuhr einfach weiter, sobald der Polizist ihm den Weg freigab. Die Öffentlichkeit hatte ein Recht auf Information, aber er war nicht bereit, Millionen von Fernsehzuschauern mit der Tragödie eines Kindes zu unterhalten.
Dann hielt er vor dem Haus der Bramswells. Im grellen Sonnenschein sah es noch trauriger aus mit seinem abbröckelnden Verputz und dem faden, verwaschenen Anstrich. Er schloß seinen Wagen ab und drängte sich durch den Haufen der Gaffer, die das Haus umlagerten. Die Leute stießen sich an und warfen ihm neugierige Blicke zu.
Die Haustür wurde ihm von einer Frau geöffnet, die er nicht kannte. Als er sich ausgewiesen hatte, stellte sie sich als Bettys Schwester vor. Betty sei krank, sie liege im Bett und habe Beruhigungsmittel eingenommen. Mister Bramswell sei im Eßzimmer. Sie ließ ihn eintreten und führte ihn ins Eßzimmer. Charles Bramswell saß neben dem Fenster am Tisch, ein Glas Whisky in der einen, eine Zigarette in der anderen Hand. Er war unrasiert und ungewaschen. Agar schien es, als sei er in den paar Stunden, die seit dem nächtlichen Verhör vergangen waren, um Jahre gealtert.
Bramswell sah auf und blinzelte, als habe er Mühe, die Augen offenzuhalten. «Haben Sie etwas gefunden?»
«Nein. Es tut mir aufrichtig leid, daß ich Ihnen das sagen muß.»
«Herrgott», stöhnte er. Er kippte den Whisky hinunter und goß sich aus der halbleeren Flasche einen neuen Whisky ein. Er schüttete kein Wasser dazu. «Soll ich Ihnen mal was sagen? Ich habe ununterbrochen gebetet, daß mein Kind hoffentlich schon tot ist. Das habe ich getan. Ich liebe sie. Ich liebe sie ebensosehr wie Betty. Aber ich wünschte, sie wäre schon tot. Das ist komisch, nicht? Das ist so wahnsinnig komisch. Ich will …» Er nahm einen tiefen Schluck, zog an der Zigarette und drückte die Kippe aus. «Meine Frau verfluchte mich so lange, bis sie zu müde zum Fluchen wurde. Sie verfluchte mich, weil ich zu der Versammlung der ‹Moralischen Aufrüstung› ging. Wenn ich nicht hingegangen wäre, hätte ich Sarah nach Hause fahren können. Aber wie hätte ich das ahnen können? Sagen Sie mir doch, in Gottes Namen, wie? Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte einfach keine Ahnung. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, hier zu sitzen und darüber nachzudenken?»
«Das kann ich mir vorstellen», sagte Agar.
«Haben Sie schon erlebt, daß Ihre Tochter von einem Lustmörder verschleppt wurde, der Gott weiß wie viele junge Mädchen ihres Alters geschändet und gemordet hat? Haben Sie dann hinterher an einem Tisch gesessen, Whisky gesoffen, um Ihre Gedanken zu ertränken? Aber die Gedanken schwimmen lustig weiter. Sie haben ja keine Ahnung, nicht die leiseste Ahnung. Ich sage Ihnen – ich habe geweint wie mein kleines Mädchen. Ich habe geweint, wie ich seit fünfunddreißig Jahren nicht mehr geweint habe.» Er nahm wieder einen Schluck. «Und was habe ich damit erreicht?»
«Daß Sie leiden müssen wie kaum ein anderer Mensch.»
Diese Antwort hatte Bramswell nicht erwartet. Lange Zeit sagte er nichts. Dann sah er den anderen an und schob die Whiskyflasche über den Tisch. Agar schüttelte den Kopf.
«Wollen Sie etwas von mir?» fragte Bramswell. Seine Stimme klang plötzlich erloschen.
«Können Sie mir die Blutgruppe Ihrer Tochter nennen?»
Bramswell sah Agar an und runzelte die Stirn. «Warum wollen Sie denn die wissen.»
Agars Antwort war direkt: «Wir haben Blut an einer Stelle im Park entdeckt. Wir vermuten, daß Krammer dort Ihre Tochter getroffen hat.»
«Hat … hat er sie vielleicht getötet?»
«Es tut mir leid, aber jetzt wissen wir noch nicht, was das Blut bedeutet. Wir werden es auch nicht wissen, bis wir erfahren, welche Blutgruppe Ihre Tochter hat.»
«Das weiß ich nicht.»
«Könnte Ihre Frau uns vielleicht die Auskunft geben?»
«Sie ist von den Betäubungsmitteln so benommen, daß sie gar nichts mehr weiß. Verschonen Sie sie, um Gottes willen, damit.»
«Wie heißt Ihr Hausarzt?»
«Fingay.»
Agar wollte irgend etwas Tröstliches zum Abschied sagen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Stumm verließ er das Zimmer.
Vor dem Haus mußte er sich durch eine Menge zu seinem Auto keilen. Er fuhr zu der Telefonzelle an der Straßenkreuzung und suchte im Telefonbuch Dr. Fingays Adresse.
Nach fünf Minuten Fahrt gelangte er zu einem hübschen, aus Natursteinen errichteten Bungalow mit einem hellroten Ziegeldach darüber.
Der Arzt war noch jung, Ende Zwanzig. Er trug Tennisshorts und ein weißes Hemd und war offensichtlich gerade dabei, das Haus zu verlassen. Agar teilte ihm seinen Wunsch mit, und der Arzt führte ihn durch einen langen Gang, dann durch die Garage zu seinen dahinterliegenden Praxisräumen.
Er suchte aus der obersten Schublade seines Stahlschrankes eine Karte heraus. «Ja, hier habe ich ihre Blutgruppe vermerkt, als sie vor ein paar Jahren einen Unfall hatte. Sie hat die Blutgruppe Null. Ist Ihnen damit geholfen?»
«Schon, wenn auch in diesem Fall nur indirekt.» Agars Stimme klang müde und enttäuscht. «Wir haben Blut an einem Grasbüschel im Park gefunden. Das Blut stammt von einem Menschen mit der Gruppe AB. Da das Mädchen die Blutgruppe Null besitzt, muß das offensichtlich von Krammer stammen. Ich nehme an, das arme Kind hat sich verzweifelt gewehrt.»
«Wenn sie sich aber so sehr gewehrt hat, müßte jemand das bemerkt haben. Diese Straße ist bei Nacht sehr belebt.»
«Die Böschung neben der Straße ist recht steil. Wenn sie da hinuntergerollt sind … Der Boden an der Fundstelle war allerdings nicht zertrampelt. Wenn sie miteinander gekämpft hätten, müßten die Brennesseln geknickt sein und … Doktor, darf ich vielleicht einmal Ihr Telefon benutzen?»
«Bitte, dort.»
Agar meldete ein Ferngespräch mit dem Zuchthaus Lettworth an, und während sie warteten, bot der Arzt ihm eine Zigarette an und gab ihm Feuer. Als die Verbindung hergestellt war, sprach Agar mit dem stellvertretenden Gefängnisdirektor, den er ja bereits kannte, und fragte nach Krammers Blutgruppe. Der Beamte antwortete, es dauere eine Weile, bis er die Unterlagen herausgesucht habe, und er riefe wieder zurück.
Als Agar den Hörer auflegte, sah der Arzt auf seine Uhr und sagte, er müsse jetzt leider fortgehen, aber Agar könne hierbleiben, so lange er wolle. Dann ließ er ihn allein.
Agar ging im Sprechzimmer des Arztes auf und ab. Nach einer Weile blieb er vor dem Glasschrank stehen und versuchte zu erraten, wofür die vielen merkwürdig aussehenden ärztlichen und chirurgischen Instrumente gebraucht wurden.
Dann läutete das Telefon. «Wir haben unseren guten Doktor aus seinem wohlverdienten Verdauungsschlaf geweckt. Krammer hat die Blutgruppe Null», meldete sich die Stimme des stellvertretenden Gefängnisdirektors.
«Wie, bitte?»
«Null! Null wie Zero!»
Agar dankte ihm und hängte ein. Er starrte auf die gegenüberliegende Wand. Wenn beide, Sarah Bramswell und Krammer die Blutgruppe Null besaßen, woher stammten dann die Blutspuren im Park? Zwei mögliche Antworten fielen ihm ein. Entweder es war nicht Krammer gewesen, der Sarah überfallen und verschleppt hatte, sondern es trieb noch ein anderer Sexualverbrecher sein Unwesen, der ähnliche Schuhe wie Krammer trug – oder ein anderer Mann war noch in die Geschichte verwickelt worden, als Krammer das Mädchen überfallen hatte. Die andere Alternative hatte viel Wahrscheinlichkeit für sich. Er grübelte nach, wer dieser Unbekannte gewesen sein könnte. Ein Fußgänger? Ein Autofahrer? Ein Autofahrer mußte es gewesen sein, denn wenn Krammer ein Auto gestohlen hatte, gab es eine Erklärung, wie Krammer mit dem Mädchen flüchten konnte, ohne gesehen zu werden. Wer aber war dieser zweite Mann? Er war verletzt. Warum hatte er dann nicht den Überfall gemeldet? War er tot?
Agar verließ die Praxis mit großer Hast. Er ging durch die Garage, in der jetzt nur noch ein Wagen stand, und nachdem er sich bei der Frau des Arztes bedankt hatte, kehrte er zu seinem Morris zurück.
«Eine wichtige Mitteilung», meldete der Sprecher der BBC. «Es ist möglich, daß eine Frau oder ein Mann, der gestern nacht mit seinem Wagen auf der Straße von London nach Stoneyacre unterwegs war, sich verletzt hat oder verwundet wurde. Wir bitten, daß sich diese Person oder jemand, der über einen solchen Vorfall Bescheid weiß oder weiß, daß seit der letzten Nacht jemand vermißt wird, sofort die nächste Polizeistation benachrichtigt. Ich wiederhole: Es ist möglich …»
Um sieben Uhr abends hatte die Hitze etwas nachgelassen. Auf dem Trafalgar Square stiegen drei Männer in Badehosen in den Springbrunnen. Am Strand von Seascale trug ein Fotomodell einen Badeanzug ohne Oberteil, und in Glasgow wurde ein Redner der Konservativen ausgepfiffen. Während der Suchaktion in der Umgebung von Stoneyacre waren mehr als dreißig Personen vor Erschöpfung zusammengebrochen oder hatten einen Hitzschlag bekommen.
Um neunzehn Uhr fünfzehn klopfte jemand an die Haustür des alten viktorianischen Pfarrhauses. Im Wohnzimmer erhob sich Krammer und ging zu dem Erkerfenster, stellte sich mit dem Rücken zur Wand und schob vorsichtig die Vorhänge etwas zur Seite. Er zuckte zusammen, sagte aber ganz ruhig: «Es ist ein Polizist – ein Sergeant.»
Sie holte tief Luft.
Er sprach langsam weiter: «Wahrscheinlich suchen sie jedes einzelne Haus ab. Egal, was passiert, Sie werden nichts verraten.»
«Nein», stöhnte sie.
«Ich habe innen die Sicherheitskette vor die Tür gelegt. Öffnen Sie die Tür nur einen Spalt breit, wenn Sie mit ihm sprechen, und bringen Sie aus ihm heraus, was er will. Ich werde direkt hinter Ihnen stehen, Amelia, und vergessen Sie nicht, wie jammerschade es wäre, wenn Sarah jetzt etwas geschieht.» Das Klopfen an der Tür wurde stärker. Er schien es zu überhören und trat neben den Sessel, in dem sie saß. Er legte seine rechte Hand auf ihre Schulter und begann ihren Hals zu streicheln. «Wir sind so gute Freunde geworden, und es wäre fürchterlich, unser Verhältnis jetzt zu zerstören.»
Sie stand auf. In ihrem Kopf tobte ein Aufruhr. Sie schwankte zwischen Hoffnung und Angst. Sie mußte dem Sergeanten zu verstehen geben, was in ihrem Haus vor sich ging, daß etwas passiert war. Vielleicht war der Sergeant wegen des merkwürdigen Anrufs bei der Frau Vikarin gekommen. Ihre Hoffnung wuchs, als sie plötzlich überzeugt war, dies müsse der Grund sein, obwohl schon so viel Zeit seitdem vergangen war.
Ihre Beine zitterten. Sie wankte zur Tür und in den Flur hinaus. Als sie hinter der Haustür stehenblieb, fühlte sie eine Hand auf ihrer rechten Hüfte. Sie spürte den Druck der Finger, zart, aber anhaltend, so daß ihr Fleisch die Berührung wahrnahm.
«Vergessen Sie nicht», flüsterte Krammer.
Sie versuchte verzweifelt, sich nicht von dem Druck seiner Hand irritieren zu lassen, als sie die Tür so weit öffnete, wie die Kette es erlaubte. «Was gibt es?» Ihre Stimme war laut und böse.
«Nichts Besonderes, Mrs. Pretty. Ich bin Sergeant Armstrong von der Polizeistation Stoneyacre. Kann ich Sie einen Moment sprechen?»
«Warum?»
«Wegen Sarah Bramswell, dem Mädchen, das vermißt wird.»
«Was ist mit ihr?»
«Wir gehen von Haus zu Haus, Mrs. Pretty, um die Leute zu fragen, ob sie irgend etwas Verdächtiges gehört oder gesehen haben.»
Sie empfand eine tiefe Enttäuschung, denn dieser Besuch hatte nichts mit ihrem Telefonanruf bei der Frau des Vikars zu tun. Krammers Finger tasteten an ihrem Körper entlang und schienen ihre Brust zu erreichen. Sie erschauerte, ohne etwas dagegen tun zu können. Mit irrsinniger Anstrengung versuchte sie sich zu konzentrieren. Sie mußte das Mädchen retten. Sie mußte … Krammers Finger liebkosten ihre rechte Brust. Sie tat nichts anderes, als still stehenbleiben, aber vielleicht war das genug …
«Haben Sie nichts Verdächtiges bemerkt, Mrs. Pretty?»
«Nein.» Sie schrie es fast heraus.
«Fehlt Ihnen etwas?»
«Nein.»
«Lassen Sie mich doch bitte eintreten, damit ich ein Wort mit Ihnen sprechen kann.»
In ihrer Bedrängnis begriff sie, daß sie nur eines tun konnte: Sie mußte zu dem Sergeanten so schroff und abweisend sein, daß er die Wahrheit ahnte. «Gehen Sie!» schrie sie. Krammers Finger schienen glühend heiß geworden zu sein – sie krallten sich förmlich in ihr Fleisch. Sie versuchte, seine Hand von ihrem Körper abzuschütteln, doch sie hatte nicht die Kraft dazu. «Ich habe Sie nicht gebeten, herzukommen», keifte sie. «Lassen Sie mich endlich in Ruhe!»
«Aber das junge Mädchen, Mrs. Pretty …»
«Belästigen Sie mich doch nicht mit so einer Schlampe aus dem Dorf. Verlassen Sie sofort mein Grundstück! Gehen Sie, haben Sie gehört?»
Schweigen. Alle drei verhielten sich still. Der Sergeant stand draußen vor der Tür unter dem häßlichen gotischen Bogen. Amelia stand zitternd im Flur, ihr grobes, breites Gesicht war dunkelrot angelaufen, und ihre rechte Hand versuchte vergeblich, Krammers Hände wegzustoßen. Krammer stand hinter ihr und lehnte sich mit seinem Körper gegen sie.
Als der Sergeant wieder zu sprechen begann, war seine Stimme kalt und schneidend: «Sie haben nichts gesehen oder gehört?»
«Das habe ich ja schon gesagt. Gehen Sie jetzt gefälligst!»
«Gut – Sie können von Glück reden, daß das arme Mädchen nicht Ihre Tochter ist, Mrs. Pretty.» Er drehte sich auf dem Absatz herum. «Diese alte Vettel wird immer abscheulicher», murmelte er wütend.
Sie hörten, wie eine Wagentür zugeschlagen wurde. Der Motor wurde angelassen, und der Wagen fuhr sofort ab. Das Motorengeräusch verebbte rasch, als sich das Auto entfernte.
Krammers Finger ließen ihre Brust los. Sie spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie wischte sie mit dem Handrücken fort. Ihre Hände zitterten.
«Es tut mir ja so leid», sagte Krammer.
Sie wandte sich von ihm ab, damit er ihr Gesicht und ihre Verzweiflung nicht sehen konnte. Aber er las ja in ihren Gedanken wie in einem Buch.
«Wollen wir zu Abend essen?» fragte er.
«Ja», sagte sie gequält.
Sie ging zur Küche, und er folgte ihr. Sie deutete auf eine Konservenbüchse und bat ihn, sie zu öffnen. Er tat es mit derselben Sorgfalt, mit der er alles verrichtete.
Sie holte aus der Speisekammer eine Zitronenbaisertorte, die sie vor dem Tee gebacken hatte.
«Sarah wird davon begeistert sein», sagte er, als sie den Kuchen aufschnitt. «Sie sagt, sie mag Torte fast ebenso gern wie Schokoladeneiscreme. Ich habe ihr versprochen, Schokoladeneiscreme zu besorgen. Glauben Sie, daß man so etwas jetzt noch irgendwo bekommen kann? Gibt es das hier in den Geschäften zu kaufen?»
«Das weiß ich nicht. Ich esse nie Eiscreme.»
«Sie ist ein wundervolles Mädchen, Amelia. Zuerst war sie natürlich furchtbar verschüchtert. Dann, als sie ihre Angst überwunden hatte, wurde sie ganz lustig. Sie lacht sich kaputt, wenn ich dumme Gesichter für sie schneide. Meine Frau und ich, wir haben keine Kinder. Daran bin ich schuld. Ich wollte keine haben. Doch jetzt würde ich alles darum geben, so eine Tochter wie Sarah zu haben. Sie ist so strahlend – so intelligent.»
«Sie … hat sie denn keine Angst vor Ihnen?»
«Natürlich nicht, jetzt nicht mehr.» Er zog die Schublade auf, holte Messer und Gabel heraus und begann eine Pökelzunge zu tranchieren. «Ich glaube, es ist für Sie schwer, das zu verstehen, weil Sie gelesen haben, was mit den anderen Mädchen geschehen ist. Aber, wissen Sie, Sarah weiß ja nicht, was mit diesen Mädchen passiert ist. Sie ist so unschuldig und unwissend, Amelia. Können Sie verstehen, was es bedeutet, einem unschuldigen Kind zu begegnen?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Es ist, als ob … Ich kann es nicht richtig beschreiben.» Krammer legte sorgfältig die Zungenscheiben auf die Platte. «Sie sagte, sie sei hungrig. Ich bringe ihr drei Scheiben und ein wenig Kartoffelsalat hinauf. Ich sagte ihr, sie müßte auch etwas grünen Salat dazu essen, aber sie meint, das verträgt sich nicht mit Zunge. Wo steht das Tablett, Amelia? Ich dachte, sie möchte vielleicht ein paar Essiggurken anstatt grünem Salat, aber sie sagte, sie möchte so etwas nicht, weil sie wie scharfer Curry schmecken. Ich glaube nicht, daß das wahr ist. Was meinen Sie?»
Sie bewegte sich wie im Traum, holte das Tablett für Sarah und stellte es vor ihn auf den Tisch. Er setzte den Teller mit den Zungenscheiben darauf. Sie sah, wie er ein großes Stück der Zitronenbaisertorte auf einen Kuchenteller legte und ebenfalls auf das Tablett stellte.
«So, jetzt haben wir alles. Ich werde es ihr hinauftragen.»
«Ich komme mit! Ich möchte sie sehen und mit ihr sprechen.»
Er runzelte die Stirn. «Ich … ich weiß nicht recht.»
«Gehen wir.»
«Also gut. Aber sie ist fest eingeschlafen, und wir sollten sie nicht stören. Sie hat so viel geschlafen, so als ob sie ganz übermüdet gewesen wäre. Ich schaue sie gern an, wenn sie schläft. Sie ist so schön. Da fällt mir ein: Sie möchte gern etwas lesen. Haben Sie ein paar Bücher, die sie schon versteht?»
«Ich besitze keine Bücher, außer denen, die ich als Kind gelesen habe.»
«Dann geben Sie mir eines oder zwei davon.»
«Aber die Kinder von heute lesen ganz andere Sachen.»
«Das macht nichts. Sie gehört sicher zu den Mädchen, die auch die alten Märchenbücher gern lesen. Als ich noch so jung war, wollte ich immer so gerne Bücher haben, aber wir waren zu arm. So, lassen Sie uns jetzt hinaufgehen.» Er nahm das Tablett auf.
Sie folgte ihm aus der Küche und fühlte, wie ihr der Atem stockte vor Aufregung und innerer Spannung.
Er stieg die Treppe noch vorsichtiger als sonst hinauf, um das Tablett waagrecht zu halten und nichts zu verschütten. Sie erreichten den oberen Treppenabsatz, bogen nach rechts und gingen den Gang entlang. Er blieb vor der Tür des Schlafzimmers, in dem Sarah eingeschlossen war, stehen und wartete, bis Mrs. Pretty neben ihm war. Dann reichte er ihr das Tablett.
Ihre Hände zitterten so heftig, als sie das Tablett hielt, daß das Wasser aus dem Glas schwappte.
Er klopfte leise an die Tür und lauschte. Man hörte keinen Laut. Er klopfte wieder, ein wenig lauter. Noch immer keine Antwort. «Sarah», rief er, «möchtest du jetzt zu Abend essen? Ich habe ein großes Stück Zitronenbaisertorte für dich.»
Noch immer war kein Laut zu vernehmen.
Er sah Mrs. Pretty an und lächelte. «Sie muß wieder ganz fest eingeschlafen sein. Ich werde nur schnell hineinschauen.» Er zog den Schlüssel aus der Hosentasche, steckte ihn in das Schloß und drehte ihn herum. Er öffnete die Tür, bis er hineinschauen konnte.
Sie drängte sich an seine linke Seite, um das Mädchen sehen zu können, doch als er ihre Bewegung spürte, zog er rasch wieder die Tür zu und drehte den Schlüssel herum.
«Bitte, lassen Sie mich …» begann sie.
Er unterbrach sie. «Ist es nicht wundervoll, wie der Körper sich selbst erholt, wenn er schläft?»
«Bitte, ich möchte sehen, ob sie sich wohlfühlt!»
«Ich nehme das Tablett, Amelia. Ich stelle es vorläufig in mein Zimmer. Dann kann ich es ihr gleich bringen, wenn sie aufgewacht ist.» Er nahm ihr das Tablett ab. «Können Sie ihr ein frisches Handtuch hinlegen? Sie sagte, sie möchte gern baden, und dann kann sie heute abend ein Bad nehmen.» Sie reichte ihm das Tablett. Er trug es in das Zimmer, das neben dem Sarahs lag. Sie legte das Ohr gegen die Tür vor ihr und lauschte, aber nicht das leiseste Geräusch war zu hören. Dann kam Krammer wieder aus dem Fremdenzimmer und stellte sich so dicht neben sie, daß sie sofort schaudernd zurückwich. Er sah sie traurig an.
Bedrückt ging sie langsam wieder die Treppe hinunter und deckte im Eßzimmer den Tisch. Alles war bisher fehlgeschlagen – jetzt konnte sie nur noch versuchen, ihn so betrunken zu machen, daß er zu nichts mehr fähig war. Sie holte eine Flasche Whisky und eine Flasche Beaune aus der Speisekammer, stellte den Wein im Eßzimmer auf die Anrichte und den Whisky auf den Rauchtisch im Wohnzimmer.
Sie überredete ihn, vor dem Essen zwei Whisky zu trinken, und goß die Gläser bis zum Rand voll. Während des Essens tranken sie die ganze Flasche Wein aus. Er hatte sich fünf Gläser eingeschenkt, sie nur eines. Als sie abgedeckt hatte, kredenzte sie ihm wieder ein Glas Whisky.
«Ich habe viel übrig für gutes Essen und Trinken»; er streckte behaglich die Beine und lehnte sich im Ledersessel zurück.
«Vor meinem dreißigsten Lebensjahr kannte ich Wein nur dem Namen nach, aber man ist kein Gentleman, wenn man nichts von Wein versteht. Für meine erste Flasche habe ich nicht viel ausgeben können, und der Wein schmeckte wie Essig.» Er schüttelte sich und lachte.
Sie bemerkte, daß er viel lauter sprach als sonst.
«Es muß wunderbar sein, wenn man sich immer so guten Wein leisten kann.» Er schaute sie über den Tisch hinweg an. «Aber Sie trinken ja gar nichts, Amelia. Sie müssen mithalten, denn sonst bekomme ich ein schlechtes Gewissen, daß ich den Whisky ganz allein austrinke.» Er stand auf und schenkte ihr ein Glas ein.
«Das ist zu viel für mich!» protestierte sie.
«Unsinn, das ist nicht annähernd so viel, wie Sie mir eingeschenkt haben.» Er lachte. «Vielleicht wollen Sie mich betrunken machen?»
Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. «Nein, nein, das will ich natürlich nicht», sagte sie hastig.
Er reichte ihr das Glas. «Nippen Sie nicht zu lange daran, sonst kommen Sie nicht richtig auf den Geschmack. Darf ich Ihnen einmal etwas sagen, Amelia? Das ist das erste Mal seit vielen Jahren, daß ich mich pudelwohl fühle, so behaglich ist es bei Ihnen.»
Sie trank den Whisky, der ihr nicht schmeckte, weil er viel zu scharf war. Aber sie wußte, wenn sie das Glas leergetrunken hatte, würde er sich einen neuen eingießen, dann vielleicht noch einen, und dann mußte sich die Wirkung ja einstellen. Was mußte sie dann zuerst tun? Den Schlüssel aus seiner Tasche nehmen und das Mädchen befreien? Oder die Polizei anrufen? Oder mußte sie ihn erst fesseln?
Als sie ausgetrunken hatte, goß sie die Gläser wieder voll. Er hob sein Glas.
«Sie sind wundervoll, Amelia, ich trinke auf Ihr Wohl.»
Sie starrte ihn an.
«Bitte, verbieten Sie mir nicht, auf Ihr Wohl zu trinken. Sie sind ein Mensch, den man einfach bewundern muß. Wenn ich Sie schon vor ein paar Jahren getroffen hätte, wäre alles ganz anders geworden; ganz anders.»
Sie trank, und bald merkte sie, wie der Alkohol zu wirken begann. Sie versuchte sich zu zwingen, logisch und klar zu denken, aber ihre Gedanken machten sich selbständig. In ihrem Kopf tauchten Bilder auf, die sie nicht sehen wollte. Einmal ertappte sie sich bei der verrückten Vorstellung, ihr verstorbener Mann sitze ihr gegenüber in dem Anzug, den sie so gut kannte.
Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie viele Gläser sie getrunken hatte. Sie wußte auch nicht, wieviel Zeit inzwischen vergangen war, aber dann wurde ihr Kopf wieder klar genug, um sie zu warnen, sie müsse jetzt zu Bett gehen. Als sie aufstand, erhob er sich mit der höflichen Aufmerksamkeit eines Gastes, der weiß, was sich schickt.
«Ich bringe Sie hinauf. Ich muß ja noch Ihre Tür abschließen», sagte er. Seine Worte wurden immer undeutlicher. «Verstehen Sie, warum ich das tun muß? Ja?»
Sie gab keine Antwort.
Ganz langsam stieg sie die Treppe hinauf. Auf halber Treppe, auf dem kleinen Zwischenabsatz, verfing sich ihr rechter Schuh in einem Loch des Läufers, und sie fiel gegen das Geländer. Sofort stützte er sie und half ihr wieder auf die Füße. Doch seine Hände ließen sie nicht los. Sie begann zu zittern, und das Zittern wurde stärker, bis sie wie im Schüttelfrost bebte. Mit wilder Verzweiflung versuchte sie, sich zu befreien, doch gegen seine Bärenkräfte war sie ohnmächtig. Sie stöhnte, mit einem tiefen, zitternden Ton, den sie vergeblich zu unterdrücken suchte.
Plötzlich ließ er sie los, so daß sie beinahe wieder gefallen wäre. Sie eilte die letzten Stufen so schnell hinauf, wie sie es wagen konnte, und in dem entsetzlichen Bewußtsein, daß er unmittelbar hinter ihr war. Sie bog rechts in den Gang ein und ging an Sarahs Zimmer vorbei in das Badezimmer. Als sie zurückkam, stand er mit verschränkten Armen mitten im Gang.
Sie drückte sich rasch an ihm vorbei.
«Gute Nacht, Amelia», sagte er.
Sie ging in ihr Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Sie hörte, wie von außen der Schlüssel eingesteckt wurde und das Schloß mit einem Klicken zuschnappte. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie trat vor den Spiegel über dem Ankleidetischchen und betrachtete ihr Gesicht.
Es war ein viereckiges, häßliches, faltiges Gesicht, Kummer und Einsamkeit hatten es gezeichnet, aber diejenigen, die lesen konnten, entdeckten auch die Spuren einer tiefen Leidenschaft darin. Es war das häßliche Gesicht einer Frau, die im Liebesakt die Flammen der Unsterblichkeit spürt. Helenas Charakter mußte ihrem verwandt gewesen sein. Vielleicht war auch ihr Gesicht dem Helenas ähnlich. Die Sage erzählt, Helena sei wunderschön gewesen, aber makellose körperliche Schönheit birgt nur selten die reine Flamme der Leidenschaft. Paris mochte im häßlichen Gesicht von Menelaos’ Frau die gleiche reine, schöne Leidenschaft entdeckt haben, die ihr verstorbener Mann in ihrem Gesicht gefunden hatte.
Sie zog sich aus und stand nackt vor dem Spiegel. Ihr Körper war verfallen, ihre Brüste hingen schlaff herab, doch das Verlangen brannte trotzdem weiter in ihr wie Feuer.
Sie begann zu weinen.
Die Polizei hatte einen guten Fund gemacht, als sie die Strickrolle entdeckte, aber bis jetzt wußte sie das noch gar nicht.
Zwei Chemiker verbrachten den ganzen Sonntagnachmittag und -abend bei sengender Hitze im kriminaltechnischen Labor damit, den Strick genau zu analysieren, indem sie seine sämtlichen Bestandteile untersuchten um bei den einschlägigen Firmen festzustellen, um wessen Fabrikat es sich handelte. Die Bewältigung dieser Aufgabe würde allerdings Tage ins Anspruch nehmen. Das war sehr entmutigend, denn jede Minute war kostbar. Fast vierundzwanzig Stunden waren vergangen, seit das Mädchen vermißt wurde.
In zweiundsiebzig Stunden würde sie wahrscheinlich einen qualvollen Tod sterben.
Um zwanzig Uhr zwölf, kurz bevor die beiden Chemiker von zwei Kollegen abgelöst wurden, die dann die ganze Nacht hindurch an der Analyse weiterarbeiten sollten, schlug der jüngere vor, sie sollten doch einmal die ganze Rolle abspulen, um die Länge des Stricks zu messen. Das hätten sie schon früher tun können, aber sie waren allzu eifrig an die Arbeit gegangen, um vielleicht auf Anhieb eine wichtige Entdeckung zu machen.
Die Rolle wollte kein Ende nehmen. Zu spät sahen sie ein, daß das Laboratorium für diese Aufgabe zu klein war, obwohl es immerhin eine Länge von zwölf Metern besaß. Die Ablösung kam und machte einige sarkastische Bemerkungen. Als der Strick fast abgespult war, fanden sie einen Plastikring, durch den der Strick gezogen war, mit einem aufgeprägten Warenzeichen.
«Gebe Gott, daß das weiterhilft», sagte einer von ihnen leise.
Agar kam am frühen Montagmorgen, eine Stunde nach Mitternacht zu Hause an. Er zog im Hausflur die Schuhe aus. Als er leise die Treppe hinaufschlich, rief seine Frau aus dem Schlafzimmer: «Bill, das Essen steht in der Bratröhre.»
Er ging ins Schlafzimmer und stellte die Schuhe unter das Bett. «Ich weiß nicht, ob ich jetzt noch etwas essen soll», murmelte er.
«Du mußt etwas Warmes essen. Von Butterbroten allein kann man nicht leben.» Sie schob eine lose Haarsträhne aus der Stirn. «Geht es voran, Bill?»
Er hob die Schultern. «Wir haben ein paar Sachen gefunden, wissen aber noch nicht, was sie bedeuten.»
«Aber warum dann die Anfrage im Radio, ob jemand vermißt wird?»
Er erklärte ihr den Zusammenhang.
«Wenn ihr den Fahrer findet – könnte das euch wirklich weiterhelfen?»
«Wenn dieser Fahrer überhaupt existiert, Carry.»
«Aber du glaubst doch nicht, daß noch ein anderer Sexualverbrecher die Umgebung von Stoneyacre unsicher macht!»
Er zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und zündete eine an. «Wenn ein Fahrer vermißt wird, warum, zum Teufel, erfahren wir das nicht? Warum hat uns seine Frau nicht mitgeteilt, ihr Mann sei verschwunden?»
«Der Fahrer muß alleinstehend gewesen sein.»
«Vielleicht. Aber wo steckt er jetzt? Krammer kann ihn doch nicht so einfach entführt haben wie das Mädchen!»
Sie wechselte das Thema, als sie seine wachsende Erregung bemerkte. «Geh und iß etwas, Bill. Und dann komm schnell ins Bett. Mußt du wieder so früh aufstehen?»
Er gähnte. «Um sechs Uhr muß ich wieder aus den Federn. Ich möchte nichts mehr essen …»
«Du kommst nicht ins Bett, ehe du etwas gegessen hast. Im Backofen steht der Braten, und im Kühlschrank ist noch Ziegenkäse.»
Er gähnte wieder und ging dann barfuß hinunter in die Küche. Er schnitt sich zwei Scheiben von dem Braten ab und begann zu essen. Er wußte, daß der Gedanke lächerlich war –, aber er fühlte sich schuldig bei der Vorstellung, er dürfte sich ausruhen, während das Mädchen gequält wurde.
Um sieben Uhr morgens hatte sich die Sonne noch nicht sehen lassen. Einer jener dumpfen, trüben Tage kündigte sich an, die den Engländern so oft den Glauben an die Existenz des Sommers zerstören.
Mrs. Pretty wartete im Wohnzimmer in einem Baumwollkleid, das ihr weder paßte noch stand. Bald würde der Briefträger kommen, um ihr einen Brief zuzustellen. Sie mußte den Plan, den sie sich gestern morgen ausgedacht hatte, heute ausführen.
Sie blickte auf die Uhr; es war sieben Uhr sechzehn. Jeden Augenblick mußte der Postwagen auftauchen. Ihre Handflächen wurden feucht. Sie hatte sich genau überlegt, was sie dem Postboten sagen mußte. Aber wie sollte sie sich verhalten, wenn der Mann begriffsstutzig war und nicht verstand, was sie von ihm erwartete?
Der rote Wagen bog in die Einfahrt, machte einen Bogen um das Rosenbeet und kam vor der Haustür zum Stehen. Der Briefträger kletterte vom Fahrersitz. Sie sah, daß er zwei Briefe in der Hand hielt. Sie war so aufgeregt, daß sie einen Augenblick lang fürchtete, sie müsse sich übergeben.
Auf Zehenspitzen durchquerte sie die Halle und blickte sich vorsichtig um. Flur, Treppe und Treppenabsatz waren leer. Krammer war nirgends zu sehen.
Wenn jetzt nicht die Haustür knarrte, würde alles gut gehen. Sie durfte die Tür nicht zu rasch öffnen, aber sie durfte auch nicht zu lange warten, da sonst der Briefträger die Briefe in den Briefkasten warf und wieder zu seinem Wagen zurückging.
Sie schob vorsichtig die beiden Riegel zurück, löste die Kette, drückte die Klinke hinunter und zog die Tür auf. Sie stand dem Briefträger gegenüber, der gerade den Arm ausstreckte, um die Briefe in den Kasten zu werfen. Er machte ein verdutztes Gesicht und ließ den Arm sinken.
Sie öffnete den Mund zum Sprechen, wollte alles heraussprudeln, was sich in ihr aufgestaut hatte, als sie hinter sich ein leises Hüsteln hörte. Es war das unterdrückte leise Räuspern eines Mannes, der wünscht, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, ohne sich aufdrängen zu wollen.
Sie senkte den Kopf. Grenzenlose Angst und bittere Enttäuschung malten sich auf ihrem Gesicht.
Der Briefträger starrte sie an. «Fehlt Ihnen etwas?» fragte er besorgt.
«Nein», murmelte sie, «nichts.»
«Ganz bestimmt nicht?»
«Nein.»
«Nun, ich dachte nur … Zwei Briefe für Sie heute.»
Sie streckte ganz mechanisch die Hand aus, und er gab sie ihr. Sie blickte nur ganz flüchtig auf den Umschlag des obenaufliegenden Briefes. Er kam aus den Vereinigten Staaten. Wahrscheinlich ein Bettelbrief von dem Vetter ihres verstorbenen Mannes.
«Ein scheußliches Wetter haben wir heute wieder», sagte der Briefträger.
«Ja.»
«Schrecklich, diese Sache mit dem jungen Mädchen, nicht?»
«Ja.»
«Gut. Wenn ich mich aber jetzt nicht verabschiede, schaffe ich meine Tour nicht mehr. Guten Morgen.»
Sie beobachtete, wie er zu seinem Wagen zurückging, einstieg und die Tür zuschlug. Sie blieb ganz still stehen, als er um das Rosenbeet herumfuhr und in die Straße einbog. Langsam schloß sie die Tür.
«Danke, daß Sie so lieb waren und nichts gesagt haben», murmelte Krammer.
Im ganzen Land war die Polizei unterwegs, um herauszufinden, wer die Seilrolle hergestellt hatte. Um zehn Uhr vierundfünfzig sprach ein Polizeisergeant mit dem Geschäftsführer einer kleinen Firma in Lippenshaw, das zum Stadtgebiet von Birmingham gehörte.
Der Sergeant legte Mr. Webster, dem Geschäftsführer, zwei Fotografien vor. «Diese hier ist eine Vergrößerung eines Plastikringes, Sir, der sich an dem Seil befand.»
Webster betrachtete die Fotografien. «Gar kein Zweifel», sagte er sofort, «das ist unser Firmenzeichen – zwei gekreuzte Anker und ein Spill darüber. Unsere Firma produzierte nämlich früher Taue für Segelschiffe.»
«Gut, Sir, dann habe ich ein paar Fragen an Sie.»
«Was möchten Sie denn wissen?»
«Es dreht sich um den Fall Krammer.»
«Guter Gott!» Der Geschäftsführer war schockiert, daß seine Firma etwas mit dem schrecklichen Verbrechen zu tun haben sollte.
«Diese Seilrolle wurde an der Stelle gefunden, wo Krammer wahrscheinlich das Mädchen überfallen hat. Wir müssen herausfinden, wie diese Rolle dorthin gekommen ist.»
«Wo haben Sie die Rolle gefunden?»
«In Stoneyacre.»
«Da bin ich überfragt. Wir produzieren eine Menge von dieser Seilart für die Landwirtschaft. Wie aber diese Rolle dorthin gekommen ist … Ich habe wirklich keine Ahnung!»
«Die Rolle war funkelnagelneu. Sie sah nicht danach aus, als ob sie bereits gebraucht worden wäre. Wir müßten erfahren, ob bei Ihrer Firma Vertreter angestellt sind, die diesen Artikel verkaufen.»
«Ja. Zwei arbeiten im Norden und zwei im Süden des Landes. Sie verkaufen natürlich auch unsere anderen Produkte.»
«Wird einer Ihrer Vertreter im Süden vermißt? Oder hat einer von ihnen vielleicht einen Autounfall gehabt und liegt im Krankenhaus?»
Webster sah verwirrt aus. Er nahm rasch einen der beiden Telefonhörer auf und sprach mit jemand. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und trommelte nervös mit den Fingern auf der Schreibtischplatte. Schließlich trat ein großer schlanker, kahlköpfiger Mann ins Zimmer.
«Wie heißen unsere Reisevertreter im Süden, Tom?» fragte Webster.
«Avanti und Chalmers. Avanti hat das Gebiet von Cornwall bis Dorset, Wiltshire und Gloucestershire, und Chalmers bearbeitet den Raum Hampshire, Berkshire und Oxford bis nach Kent und Essex.»
«Wo hat Chalmers jetzt gerade zu tun?» fragte der Sergeant.
Der Mann blickte auf einen Zettel, den er in der Hand hielt.
«Heute und morgen sollte er in Raleton sein.»
«Können Sie erfahren, ob er jetzt dort ist?»
Der Geschäftsführer erklärte dem Mann, warum der Sergeant diese Frage stellte. «Es ist wegen des Falles Krammer, Tom. Die Polizei vermutet, daß vielleicht einer unserer Reisenden vermißt werden könnte oder einen Unfall erlitt.»
«Davon haben wir nichts gehört.»
«Aber müßten Sie in einem solchen Falle unbedingt davon gehört haben?» fragte der Sergeant. «Heute ist Montag, er hat also gestern nicht gearbeitet. Ist er verheiratet?»
«Nein. Nicht daß wir das wüßten.»
«Haben Sie eine Ahnung, wo er in Raleton absteigen könnte?»
«In einem kleinen Hotel in der Nähe des Bahnhofs, aber – verflucht – den Namen könnte ich Ihnen nicht sagen.»
Der Sergeant bat, telefonieren zu dürfen. Er rief seine Polizeistation an, sprach mit dem Inspektor vom Dienst und meldete, was er erfahren hatte. Nachdem das Telefonat beendet war und er den Hörer aufgelegt hatte, fragte er den Geschäftsführer: «Fährt Chalmers einen Wagen?»
«Ja. Die Firma hat ihm einen zur Verfügung gestellt.»
«Was hat er für eine Automarke? Und mit welcher Nummer ist der Wagen zugelassen?»
Der große schlanke Mann antwortete: «Tony hat einen Ford Capri – ein Modell, das heute nicht mehr hergestellt wird. Wenn Sie die Zulassungsnummer wissen wollen, muß ich in der Registratur nachfragen, damit sie sie mir dort heraussuchen.»
Es entstand eine verlegene Pause. «Glauben Sie wirklich, daß er in den Krammer-Fall verwickelt worden ist?» fragte Webster schließlich.