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Stoneyacre, was eigentlich «zum steinigen Acker» bedeutet, lag zweiundfünfzig Kilometer von der Küstenstadt Raleton entfernt. Der Name stammt aus dem Mittelalter, als die Bauern die Erde so hinnehmen mußten, wie sie sie vorfanden. Sogar in der heutigen Zeit braucht der Boden eine ungewöhnlich große Menge Dünger, um überhaupt etwas hervorzubringen. Wie an vielen Orten in der Umgebung Londons, hatten die Stadtplaner nicht gezögert, die Landschaft zu vergewaltigen, und der Charme, den das Dorf einst besaß, war durch die modernen Würfel aus Beton für immer zerstört worden. Doch nur wenige Leute schienen sich darüber zu ärgern.
Charles Bramswell war vierundvierzig Jahre alt und haderte mit seinem Schicksal. Er wußte, daß er ein Versager war, und versuchte diese Tatsache zu vertuschen, indem er sich so radikal gebärdete, als sei er viel zu fortschrittlich für die Welt, in der zu leben er gezwungen war. Er hatte 1944 geheiratet, als er noch Uniform trug und Geld wie Heu hatte. Betty Bramswell, seine Frau, hatte zu lange gebraucht, um zu erkennen, daß ihr Mann als Bürger ohne Uniform auch ohne Mittel dastand. Sie warf ihm vor, daß er an ihrer «Armut» nicht schuldlos sei. Wenn sie ihre Nachbarn, die Schrotthändler, in einem neuen Rover 2000 vorbeifahren sah und dabei an ihren eigenen winzigen Gebrauchtwagen dachte, litt sie unter einem Gefühl, das körperlichem Schmerz nicht unähnlich war. Obwohl sie nicht so radikal eingestellt war wie ihr Mann, hatte sie trotzdem nichts für eine Welt übrig, die Schrotthändler unendlich reicher belohnte als Schullehrer. Da sie aber viel praktischer dachte als ihr Mann, hatte sie sich manchmal gefragt, warum er selbst nie versucht hatte, mit Schrott zu handeln. Ihre Tochter Sahra war trotz der häufigen Auseinandersetzungen, die sie daheim anhören mußte, überraschend heiter und fröhlich. Mit ihren zwölf Jahren hatte sie es fertiggebracht, ihre Eltern mit all ihren Fehler zu akzeptieren und sogar zu lieben. Sie hatte auch gelernt, über sie zu lachen. Als ihr Vater sich für die Bewegung gegen den Atomtod einsetzte und eine Ortsgruppe gründete, dabei aber fast auf absolute Apathie gestoßen war, am Jahrestag von Hiroshima für den Protestmarsch zum Kriegerdenkmal gerade vier Mitglieder zusammentrommeln konnte, johlte sie von allen Schulkindern am lautesten. Da sie aber intelligent war, hatte sie ganz hinten in der Gruppe gestanden. Sie versprach, schön zu werden, eine eigenwillige Schönheit, denn ihr Gesicht war nicht ganz ebenmäßig. Charakterstärke lag darin, ein Erbteil von ihren Eltern. Allerdings hatten diese nicht viel Kapital daraus schlagen können.
Bramswell lehrte moderne Sprachen an der Carriford-Oberschule, die von Heinrich VIII. gestiftet und unter das Motto: «Ehre deine Herrin, die Gelehrsamkeit» gestellt worden war, ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als Heinrich VIII. seine ehemalige Herrin und spätere Königin Anna Boleyn durch Enthauptung geehrt hatte. Hätte Bramswell einen akademischen Grad erworben, hätte er ein Gehalt bezogen, das seinen Erwartungen entsprach. Vor Kriegsausbruch, als er ein Stipendium für die Universität Cambridge erhielt, hatten seine Eltern nicht genügend Geld, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, und nach Kriegsende, als er die Universität als ehemaliger Kriegsteilnehmer hätte besuchen können, war er zu sehr mit Betty beschäftigt gewesen. Er blickte von seinem Stoß Hefte auf und betrachtete die Wand und die Risse im Verputz. Das erinnerte ihn an die fehlenden Schieferplatten auf dem Dach und den schadhaften Schornstein, der neu gesetzt werden mußte. Alles was er brauchte, war nur ein bißchen mehr Geld, dachte er bitter.
Betty kam ins Zimmer und setzte sich auf einen der abgenutzten Sessel. Sie fächelte sich mit dem Saum ihres Kleides Kühlung zu. «Es ist so verdammt heiß; ich löse mich im eigenen Saft auf. Wir müssen einen Eisschrank haben.»
«Wieso genügen dir plötzlich die irdenen Töpfe nicht mehr? Wenn du sie feuchthältst …»
«Bei der Hitze? Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Jedenfalls mag ich mich damit nicht mehr abschinden.»
«Wir können uns keinen Eisschrank leisten.»
«Doch. Wenn wir nur einen von den ganz billigen nehmen?»
Er schüttelte den Kopf.
«Und wenn du nun deinen Rektor, oder wer immer dafür zuständig ist, um eine Gehaltserhöhung bittest? Sag ihm, wir wohnen in einer Bruchbude, und ob er uns nicht helfen könnte, etwas standesgemäßer zu leben. In der Zeitung steht, die Arbeiter an der neuen Autobahn verdienen über vierzig Pfund in der Woche.»
«Man hat mir eine Gehaltserhöhung versprochen.»
«Von Versprechungen wird man nicht satt.»
«Ich kann nicht mehr tun. Ich gehöre nicht zu den Wohlstandsschweinen, die ein neues Vermögen dazuverdienen, indem sie nur einen Vertrag unterzeichnen.»
«Es wäre mir ziemlich egal, wenn ich ein Schwein wäre, wenn es nur ein Wohlstandsschwein ist», sagte sie und lächelte plötzlich. «Ich würde dir sogar den ganzen Buckingham Palast überschreiben, wenn du mir dafür genug Geld anbietest.»
Er lächelte zurück. Oft hinderten ihre bedrückenden Verhältnisse sie daran, Abstand zu gewinnen und über sich selbst zu lachen, doch manchmal glückte es.
Er öffnete eine Zigarettenpackung und warf ihr eine Zigarette zu. «Ich habe heute mit George gesprochen. Er sagt, die Vermögenssteuer soll ab sofort so lange erhöht werden, bis sie wirklich weh tut.»
Sie zuckte mit den Achseln. Ihr Wunsch nach einem Eisschrank war viel größer als ihr Interesse an Vermögenssteuern. Sie stimmte in vielem mit der politischen Philosophie ihres Mannes überein, doch sie konnte sich dabei nie so engagieren wie er. Sie war erstaunt gewesen, als er den Atomwaffenprotestmarsch organisierte, denn es war ihr von Anfang an klar, daß er damit nur Spott ernten würde. Und er war eigentlich nicht der Mann, der den Gedanken, sich zum Gespött der Leute zu machen, ertragen konnte. Sie ärgerte sich oft darüber, daß er die Welt verbessern wollte, aber sich um sein eigenes Fortkommen im Leben so wenig kümmerte.
«Wieviel Uhr ist es?» fragte er und unterbrach ihre Gedanken.
«Gleich fünf vor sechs.»
«Dann werde ich mir jetzt die Nachrichtenschau ansehen.»
Er stand auf und drehte den Fernsehapparat an. Er schaltete nur selten B.B. C. ein, weil der Sender ja doch nur ein Propagandainstrument der Regierung war. Die Werbesendungen endeten soeben, und nach der Zeitangabe begannen die Nachrichten. Der Sprecher meldete, am Nachmittag sei Krammer aus dem Zuchthaus Lettworth entflohen. Er trage den Uniformrock eines Gefängniswärters, dazu die dunkelblaue Hose seiner Zuchthauskleidung. Es bestehe zwar kein Anlaß zu ernsthaften Befürchtungen, doch jeder werde gebeten, nach ihm Ausschau zu halten, und wenn er irgendwo auftauche, solle man sofort die nächste Polizeistation benachrichtigen. Ein Foto Krammers wurde gezeigt. Der Sprecher gab noch einmal bekannt, warum Krammer zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurteilt worden war, als ob es auch nur einen Zuschauer gäbe, der das schon vergessen hatte.
«Das ist ja furchtbar!» sagte Betty laut.
«Den werden sie bald wieder eingefangen haben», antwortete er unbeteiligt. «Hör lieber zu, wie sie ihre neuen Steuern wieder begründen wollen.»
«Aber angenommen, sie fangen ihn nicht. Denk bloß, was er den armen Kindern angetan hat …»
Das Bild von Krammer erlosch. Es folgten Nachrichten aus Politik und Wirtschaft. Zu Bramswells unverhohlenem Ärgernis wurde nichts von der Erhöhung der Vermögenssteuer berichtet.
«Es ist schrecklich», sagte Betty, als die Nachrichten vorbei waren.
«Du hast recht. Wie konnte George denn …»
«Ich spreche von Krammer», zischte sie.
«Die Polizei wird ihn bald haben. Ich muß mich jetzt mit diesen blöden Heften beschäftigen. Von den neununddreißig Schülern hat auch nicht einer die Grundbegriffe der französischen Grammatik kapiert.»
Sie drehte den Fernsehapparat ab. «Es ist komisch, Charles, daß du so für Sprachen begabt bist.»
Er nahm einen Rotstift in die Hand und strich einen Fehler an. «Manche Leute können schreiben, manche malen. Ich spreche Sprachen, und ich profitiere am wenigsten davon.»
«Ich weiß. Aber warum profitierst du nichts davon?»
«Das weißt du genauso gut wie ich. Meine Eltern konnten mir den Lebensunterhalt nicht bezahlen, als ich einen Freiplatz auf der Universität bekam. Vielleicht hatten sie auch Angst, ich könnte überheblich werden, und würde ihr Milieu hinterher verachten. Jedenfalls habe ich deswegen keine akademischen Würden erlangt, und jetzt bezahlt mich niemand dafür, daß ich erstklassig bin.»
Die Tür ging auf, und ihr Töchterchen Sarah kam herein. Sie sah aus, als ob ihr ein Wirbelwind das Haar zerzaust hätte. Sie war sehr groß für ihr Alter, und ihr Körper entwickelte sich rasch. Sie hatte lustige Augen, eine Stupsnase, einen Mund, der fast immer lächelte, und blonde Haare, die ihr meistens über das Gesicht hingen. «Gwen hat mich zu ihrer Party eingeladen», sagte sie aufgeregt.
«Wer ist Gwen?» fragte ihre Mutter.
«Gwen Bailey. Du weißt doch, das Mädchen mit den vorstehenden Zähnen, die so aussieht wie ein Esel. Ihr Vater repariert Autos und ist stinkreich. Sie hat mehr Schallplatten daheim als Jacko in seinem Laden.» Sie ging um den Tisch herum und versuchte, an ihrem Vater vorbeizukommen. «Rutsch doch mal zur Seite, Papa. Ich möchte ein Stück Kuchen.» Sie hatte sofort erfaßt, daß ihre Eltern gerade in versöhnlicher Stimmung waren.
«Warum denkst du nur immer ans Essen», sagte er, als er etwas weiterrückte, um sie vorbeizulassen.
«Gerty meint, ich hätte Würmer.»
«Sag nicht so etwas Ekelhaftes», sagte ihre Mutter.
«Sind sie ekelhaft?» Sarah schnitt sich ein dickes Stück von dem hausgemachten Marmorkuchen ab. «Das mit der Party geht doch in Ordnung, nicht, Mammi?»
«Wann steigt sie denn?»
«Morgen abend. Gwen sagt, das Trio aus dem Farm House wird auch da sein. Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Wenn es stimmt, hüpfe ich bis an die Decke. Gwen sagt, daß ihr Vater bei diesen neuen Handelsbeschränkungen, oder wie man das nennt, noch steinreich wird. Sie sagt, er hätte nach dem Krieg nur so viel Geld verdient, weil er Sachen verkaufte, die eigentlich nicht im Handel sein durften. Stimmt das?»
«Ich nehme es an», brummte ihr Vater.
«Um wieviel Uhr beginnt die Party?» fragte Betty, zog noch einmal an der Zigarette und warf die Kippe dann in den Kamin.
«Um sieben, aber dann sollen alle schon da sein.»
«Und wann ist Schluß? Um neun?»
«Du stammst wohl noch aus der Zeit der Dinosaurier, Mammi. Vor elf Uhr ist eine Party nie zu Ende. Das ist nämlich eine richtige Party, mit Tanz und …»
«Dann erlaube ich es nicht.»
Sarah wollte gerade ein Stück Kuchen in den Mund schieben. Jetzt hielt sie es vor dem Mund, der vor Enttäuschung offenstand. «Geht nicht?»
«Du kannst nach Einbruch der Dunkelheit nicht allein nach Hause gehen.»
«Aber es sind doch nur zehn Minuten Weg!»
«Du darfst um diese Zeit nicht mehr allein auf die Straße gehen, und damit basta!»
Sarah hörte aus dem Tonfall ihrer Mutter heraus, daß die Entscheidung endgültig war. Langsam kaute sie auf dem Kuchen herum. Sie dachte darüber nach, daß ihre Eltern oft dumme Einwände machten, aber das hier war einfach grausam. «Warum denn nicht? Ich bin doch vorher auch schon allein spazierengegangen.»
«Ich habe meine Gründe.» Betty zögerte, entschied sich aber dann, die Wahrheit zu sagen. «Da gibt es einen entsetzlichen Mann, Krammer. Der ist aus dem Zuchthaus ausgebrochen.»
«Was hat denn das mit Gwens Party zu tun?»
«Bevor er nicht wieder hinter Schloß und Riegel ist, gehst du nachts nicht allein auf die Straße.»
«Papa kann mich doch mit dem Auto abholen, oder nicht?»
«Er geht zu einer Versammlung.»
«Wieder so eine blöde, langweilige Versammlung!»
«Schluß jetzt, jetzt reicht’s!»
«Aber Mammi, Allyson darf auch hingehen, und ihr Vater holt sie hinterher mit dem Auto ab. Die könnten mich doch mitnehmen, ja?»
Betty seufzte, weil sie wußte, was diese Party für Sarah bedeutete.
«Bitte, Mammi, bitte!»
«Na schön, aber nur, wenn Allysons Vater verspricht, dich bis vors Haus zu fahren.»
Sarah aß rasch den Rest Kuchen auf. Nach einem Bissen fragte sie: «Was macht der Mann mit den Mädchen, Mammi? Das hast du mir nie richtig erklärt.»
«Etwas ganz Fürchterliches, und mehr brauchst du darüber nicht zu wissen.» Betty Bramswell weigerte sich, nähere Auskünfte zu erteilen. Sie war zwar stolz darauf, keine Vorurteile zu haben, doch alles hatte seine Grenzen. In Wirklichkeit hatte sie sich einen merkwürdigen Puritanismus und eine gewisse Scheu bewahrt, und das machte es ihr unmöglich, mit ihrer Tochter so ekelhafte Dinge zu besprechen, wie sie im Fall Krammer vorkamen.
«Aber Mammi …»
«Wie wär’s, wenn du jetzt mal deinen Schnabel hieltest, damit ich mit meiner Arbeit weiterkomme?» sagte Bramswell mürrisch.
«Parlez-vous français?» zwitscherte Sarah schnippisch.