12

Agar stieg aus dem Einsatzwagen, der noch immer am Gemeindepark von Stoneyacre parkte. Er ging einen kleinen Abhang hinunter, setzte sich ins Gras und zündete sich eine Zigarette an. Die starke Hitze zwang ihn, den Rock auszuziehen.

Es war Mittwoch, der 21. Juli, acht Uhr siebenunddreißig. Sarah wurde jetzt einundachtzig Stunden vermißt. Doch sechsundneunzig Stunden war keine konstante Zahl, die über jeden Zweifel erhaben gewesen wäre. Sarah würde nicht Punkt elf Uhr fünfzehn sterben. Aber sechsundneunzig Stunden hatten alle anderen Opfer noch gelebt, und jetzt blieben nur noch fünfzehn Stunden. Angenommen, sie fanden jetzt Sarah, würden sie noch rechtzeitig kommen? Würde er ihren Körper und ihren Geist nicht bereits so verstümmelt haben, daß es schon zu spät war? Er fluchte leise in sich hinein, ohne sich dessen bewußt zu werden. Sie mußten Sarah finden, und es durfte dann noch nicht zu spät sein.

Was, in Gottes Namen, konnten sie denn noch tun? Den Umkreis von fünfundzwanzig Kilometern vornehmen. Angenommen, man hätte am Anfang, gleich nach der ersten polizeilichen Warnung am Sonntag, jeden Keller, jeden Speicher, jede Garage, wo sich Krammer versteckt halten konnte, durchsucht – wo hätte man dann Krammer, Sarah und das Auto gefunden? Die einleuchtendste Antwort war: in einem Haus mit einer Garage. Denn nur in einem Haus mit Garage konnten sie die Zuflucht finden, die sie brauchten. Alle leerstehenden Gebäude – und im Südosten Englands gab es davon nur wenige – waren durchsucht worden – alle ohne Erfolg. War dann Krammer in einem bewohnten Haus und terrorisierte die Bewohner? Das hatte man von Anfang an vermutet, und jedes Haus war von einem Polizisten besucht worden, aber das hatte zu nichts geführt. Seit Sonntag war nicht eine einzige Meldung eingegangen, daß jemand sich verdächtig benommen hatte. Aber jetzt war man doch fest davon überzeugt, daß sich Krammer unbedingt in diesem Umkreis von fünfundzwanzig Kilometern befinden mußte.

Irgendwo in diesem Umkreis mußte also ein Haus existieren, in dem die Bewohner versucht hatten, ein Zeichen zu geben, das nicht beachtet worden war. Und dieses Haus mußte ganz in ihrer Nähe sein.

Irgend jemand mußte in diesem Umkreis von fünfundzwanzig Kilometern irgend etwas übersehen haben. Vielleicht die Polizei, die unter allzu großem Zeitdruck handeln mußte. Vielleicht jemand aus der Bevölkerung, der den leisen Wink, mit dem man Krammers Gegenwart verraten wollte, nicht verstand.

Wo steckte Krammer? Bis vor kurzer Zeit lautete die Antwort: Überall, nur nicht in Stoneyacre. Krammer war mit einem gestohlenen Wagen weggefahren, und man wußte, daß er eine Tankstelle aufgesucht hatte. Aber jetzt «wußten» sie, daß er Raleton nie erreicht hatte, also war er womöglich umgekehrt. Er mußte in Stoneyacre sein, ausgerechnet in dem Ort, von dem die Leute annahmen, daß er dort bestimmt nicht sein könnte.

Agar stand auf und kletterte zurück auf die Straße, den Rock über dem Arm. Er ging zum Einsatzwagen und fragte den diensthabenden Sergeanten: «Wie viele Leute sind noch frei?»

«Keiner, Sir.»

«Dann stellen Sie sofort sechs Mann für mich ab!»

«Das geht nicht, Sir.»

«Verdammt, widersprechen Sie nicht! Tun Sie, was ich sage!»

«Aber …»

Agar kehrte ihm brüsk den Rücken.

Eine halbe Stunde später versammelten sich sechs uniformierte Polizisten um den Funkwagen. «Sie durchkämmen jetzt alle Dörfer bis nach Torreton und Palmersh hinunter. Und zwar vernehmen Sie alle Verkäufer in den Geschäften, jeden Gastwirt, den Vikar, den Briefträger, jeden, der vielleicht Auskunft geben kann. Sie stellen den Leuten nur die einfache Frage, ob sie etwas gehört oder gesehen haben, was ihnen merkwürdig vorgekommen ist.»

Einer der Beamten räusperte sich: «Das ist, glaube ich, schon geschehen, Sir.»

«Dann wird es jetzt noch einmal geschehen!»

Sie schwiegen. Agar hatte den Ruf, außerordentlich unangenehm zu werden, wenn er etwas durchsetzen wollte und auf Widerstand stieß. Obgleich er sich seine Karriere verpatzt hatte, war er doch immer noch ein leitender Beamter, der einem einfachen Polizisten das Leben sehr sauer machen konnte.

«Noch etwas», sagte Agar. «Wir suchen nach einem Hinweis, der wahrscheinlich so trivial ist, daß derjenige, der ihn gibt, selbst nicht weiß, wie wichtig er ist. Lassen Sie also die Leute reden und reden, und sei es noch so dummes Zeug. Vielleicht hatten sie am Sonntagabend nicht genügend Zeit dazu.»

 

Polizeiwachtmeister Jewett meldete Agar um elf Uhr neunundzwanzig: «Sir», sagte er in seiner gewöhnlichen schwerfälligen Art, «ich habe soeben meinen Auftrag erledigt, in West Stoneyacre. Ich habe alle Geschäftsleute ausgefragt, mich mit dem Pfarrer unterhalten …»

«Nun reden Sie schon!» fuhr ihn Agar an.

«Sehr wohl, Sir. Der Lumpensammler, der immer dienstags seine Runde macht, ist diesmal nicht gekommen.»

«Sorgen Sie dafür, daß der uns nicht weiter belästigt.»

Jewett sah von seinem Notizbuch auf: «Sie sagten doch, Sir, es ist gleichgültig, wie trivial es ist.»

«Schon gut. Weiter.»

«Ein Mann namens Faveur, Sir, hat sich am Sonntagabend nicht besoffen, und das ist bei ihm ungewöhnlich. Dann wollte eine gewisse Mrs. Harmer ihren Vetter am Sonntagmorgen anrufen. Aus Versehen kam sie in eine falsche Leitung und hörte ein Gespräch zwischen zwei Männern an, die sich darüber unterhielten, daß sie in Folkstone jemand an einem Laternenpfahl aufhängen wollen, weil er vergessen hat, ihren gemeinsamen Totozettel abzugeben.»

«Das kann ich mir vorstellen.»

«Und der Metzger sagt, daß eine Mrs. Pretty, die im alten Pfarrhaus lebt, eine ganze Hammelkeule bestellt hat und drei Pfund Schweinswürste, und in den vergangenen fünfzehn Jahren hat sie niemals auch nur eine einzige Scheibe Wurst gekauft.»

Agar fühlte, wie ein elektrischer Schlag ihn durchzuckte. «So, das hat sie also noch nie getan.»

Der Beamte hüstelte: «Sie ist nicht ganz richtig da oben im Kopf, Sir.»

«Wer sagt das?»

«Jeder, Sir. Als sie hierher zog, sagte sie, ihr Mann sei gerade gestorben, und seitdem hat sie fast nie das Haus verlassen. Man sagt, sie sähe aus wie ein Omnibus von hinten. Ihr Gärtner ist auch so verdreht.»

Agar zündete sich wieder eine Zigarette an, obwohl er vom vielen Rauchen schon einen üblen Geschmack im Mund hatte. «Aber immerhin ist sie nicht so verdreht, daß sie keine Wurst bestellen könnte, oder?»

«Nein, Sir. Und dann: Zwiebeln hat sie auch bestellt.»

«Was für Zwiebeln?»

«Vorher hat sie Zwiebeln auf den Tod nicht ausstehen können und hat auch nie etwas gekauft, was Zwiebeln enthielt. Aber am Montag hat sie plötzlich zwei Pfund Zwiebeln bestellt.»

«Warum wurde mir das nicht vorher gemeldet?»

«Man hatte angenommen, sie sei jetzt nach dieser Geschichte mit Krammer nur noch ein bißchen verdrehter als sonst, Sir.»

Agar ging nervös vor dem Einsatzwagen auf und ab. «Wer hat Mrs. Pretty verhört, als wir am Sonntag alle Häuser durchsuchen ließen?»

«Ich weiß nicht, Sir. Ich war in Palmersh.»

Agar rief durch das Fenster des Einsatzwagens: «Stellen Sie fest, wer am Sonntag in Stoneyacre Mrs. Pretty vernommen hat», befahl er.

«Ja, Sir», sagte der Sergeant vom Dienst müde.

«Man soll mich dann sofort in Kenntnis setzen.»

«Sehr wohl, Sir.»

Agar ging zu seinem Wagen hinüber und beachtete den wartenden Polizisten gar nicht mehr. Hatte Mrs. Pretty etwa verzweifelt versucht, den Leuten die Wahrheit zu verstehen zu geben? Und hatte man sie gar nicht beachtet, weil die Leute sie für verdreht hielten? Oder war sie nun tatsächlich verrückt geworden, und dieser Zustand wurde jetzt offenkundig? In einem Fall wie dem Krammers spielten sich oft seelisch labile Menschen in den Vordergrund, da sie endlich eine Möglichkeit sahen, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Waren eine Hammelkeule, ein paar Zwiebeln und drei Pfund Wurst wirklich Hinweise?

Der Beamte hüstelte. «Was gibt’s?» fau chte Agar.

«Da ist noch etwas, Sir.»

«Ja, was denn?»

«Die Frau des Vikars, Sir, erwähnte, daß Mrs. Pretty sie am Sonntag angerufen hätte, um zu sagen, sie könnte heute den Altar nicht mit Blumen schmücken. Aber Mrs. Pretty hat seit Jahren keinen Fuß mehr in die Kirche gesetzt. Die Frau des Vikars wußte gar nicht, wovon sie redete.»

«Das muß es sein!» rief Agar. «Warum hat denn das keiner früher gemerkt? Mein Gott, warum hat denn das keiner gemerkt?»

Im Einsatzwagen läutete das Telefon, und der Sergeant winkte Agar zu.

Agar rannte zu dem Wagen und riß den Hörer an sich. «Hier spricht Agar.»

«Sergeant Armstrong, Sir. Sie sagten, Sie wollten mit dem Beamten sprechen, der bei Mrs. Pretty gewesen ist, Sir.»

«Ja. Und?»

«Tut mir leid, Sir, ich weiß nicht genau, was Sie von mir wissen wollen.»

«Mann, was ist dort passiert?»

«Sie war reichlich grob, Sir, und sagte mir, ich solle sie nicht belästigen.»

«So grob, daß Sie sich darüber wunderten?»

«Eigentlich nicht, Sir. Als ich früher einmal bei ihr war, da war sie ebenso barsch.»

«Haben Sie sie gesehen?»

«Nein, Sir. Die Tür war von innen mit einer Sperrkette gesichert. So konnte ich nur ein bißchen von ihr sehen.»

«Wäre es möglich, daß jemand hinter ihr stand und sie bedrohte?»

«Nun … ich, ja, das wäre schon möglich. Wenn Sie das so ausdrücken, dann muß ich wohl ja sagen. Aber mir persönlich kam da nichts verdächtig vor. Ich hatte …»

«Ich weiß. Wohnt sie ganz allein im Haus?»

«Ja, Sir.»

«Hat sie Telefon?»

«Ich glaube, ja.»

«Gut. Danke.» Agar legte den Hörer auf. Wenn Krammer in diesem Haus steckte, mußte die Polizei sehr vorsichtig vorgehen. Wenn Mrs. Pretty nicht deutlicher Alarm schlagen konnte als auf die Weise, in der sie es versuchte, bedeutete das, daß man sie mit einer Waffe bedrohte, so daß sie nicht mehr wagen konnte. Als nächsten Schritt mußte man also versuchen, sie anzurufen und das Gespräch so zu führen, daß sie dabei nur mit «ja» zu antworten brauchte. Aber einen Punkt mußte er vorher noch klären, bevor er sie anrief: Gab es im Haus einen zweiten Anschluß, daß Krammer das Telefonat mithören konnte? Er rief die Telefonzentrale an und fragte, ob diese Möglichkeit bestand. Nach zehn Minuten kam die Antwort, es gäbe in dem Haus weder einen Zweitapparat noch einen anderen Anschluß.

Er legte seine Hand auf das Telefon, zögerte jedoch einige Sekunden lang, ehe er den Hörer aufnahm. Er betete, daß es diesmal nicht wieder ein falscher Alarm wäre und sich ein Mensch, der seelisch und geistig labil war, nur wichtig machen wollte.

Er nahm den Hörer auf und wählte. Er hörte das Freizeichen. Keine Antwort. Durfte sie etwa nicht abheben? Dann hätte er sofort gewußt, was gespielt wurde.

Dann, nach einer endlos langen Zeit, wurde abgehoben. Eine Frauenstimme sagte: «Ja?»

«Hier spricht Kriminalinspektor Agar von der Grafschaftspolizei. Ich habe Gründe dafür, anzunehmen, daß Krammer Sie bedroht. Wenn das so ist, sagen Sie nur ja und sprechen Sie dann über die Kirchweih oder das Wetter.»

«Nein», antwortete sie. «Hier im Haus ist niemand außer mir.»

Er starrte aus dem Fenster des Einsatzwagens. «Es ist wirklich niemand außer Ihnen im Haus?»

«Das habe ich ja schon gesagt.»

Niemals vorher hatte er eine so tiefe Niedergeschlagenheit empfunden als in diesem Augenblick. Er mußte sich dazu zwingen, weiterzusprechen. «Haben Sie nicht eine Hammelkeule, Wurst und Zwiebeln bestellt, obwohl Sie diese Sachen gar nicht mögen?»

«Das ist meine Angelegenheit. Mit welchem Recht mischen Sie sich in meine Angelegenheiten?»

«Und am Sonntag haben Sie der Frau des Vikars bestellt, Sie könnten diesmal den Altar nicht schmücken, obwohl Sie nie in die Kirche gehen?»

«Ja, das habe ich.»

«Was sollte das bedeuten?»

«Das war nur so ein Einfall.»

«Warum geben Sie sich die Mühe, die Frau des Vikars anzurufen, um ihr zu sagen, daß Sie etwas nicht täten, was Sie sowieso nie getan hätten?»

«Warum sollte ich das nicht?»

«Sie werden doch zugeben müssen …»

«Ich gebe gar nichts zu.»

Sie legte auf.

Agar legte ebenfalls den Hörer auf die Gabel. Er fühlte sich vollkommen ausgehöhlt und haßte sich selbst. War er nicht schon lange genug bei der Polizei, um zu wissen, daß, wenn zwei und zwei gleich vier ist, noch lange nicht feststeht, was zwei bedeutet?

Der Beamte starrte in Agars Gesicht. «Wieder nichts, Sir?»

«Nein. Wieder nichts.»

Der Beamte räusperte sich und sagte traurig: «Jetzt bleibt nicht mehr viel Zeit, Sir, wenn er es so macht wie bei den anderen Mädchen.»

Agar antwortete nicht, sondern stieg aus dem Fahrzeug. Er sah auf die Uhr. Es war Zeit zum Mittagessen.

 

Mrs. Pretty reichte Krammer die Schüssel mit den Kartoffeln.

Er nahm sie bei einer Hand und legte dann die andere Hand kurze Zeit auf die ihre. «Danke», sagte er. «Danke, daß Sie der Polizei nichts gesagt haben.» Er lächelte.

Sie antwortete fast schüchtern. «Ich wußte, was es für Sie bedeutet, wenn sie hierher gekommen wären, bevor die vier Tage vergangen sind. Sie sind nicht die Menschen, die das verstehen.»

«Ich glaube, Sie sind der wundervollste Mensch, den ich jemals getroffen habe.»

Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

Er setzte die Kartoffelschüssel hin. Er sprach langsam und wandte den Blick nicht von ihr. «Amelia, wenn alles vorbei ist, komme ich zu Ihnen, ja?»

«Nein», sagte sie.

«Bitte.»

Die blaßblauen Augen schienen sie zu hypnotisieren. Verzweifelt wandte sie den Blick ab. In ihr Bewußtsein drängte sich die Erinnerung daran, an sie selbst, wie sie zitterte, wenn er sie berührte, wie er in ihr Schlafzimmer gekommen war, wie sie seine Hand auf ihre Brust gelegt hatte. Sie versuchte, sich ihren verstorbenen Mann vorzustellen, um aus dieser Erinnerung Kraft zu schöpfen, aber ihr Gedächtnis ließ sie im Stich; das einzige Bild, das sie heraufbeschwören konnte, war Krammer, wie er in ihr Schlafzimmer gekommen war.

«Werden Sie mich dann hereinlassen, Amelia?»

«Ja», murmelte sie schließlich mit zitternder Stimme.

 

Agar war zum Essen nach Hause gefahren. Er hatte wenig Appetit.

«Du ißt so viel wie ein Spatz», sagte Caroline.

«Ich habe einfach keinen Hunger.»

Nach einer Weile räumte sie die Teller vom Tisch.

«Wann werden sie die Suche abblasen?»

«Wir werden immer weiter machen, immer weiter. Aber ich fürchte, morgen brauchen wir uns nicht mehr so entsetzlich zu beeilen. Dann werden wir nur noch die Leiche suchen müssen und Krammer wieder einsperren, bis er das nächstemal ausbricht.»

Sie blieb in der Tür stehen. «Du möchtest doch sicher Kaffee. Soll ich rasch welchen für dich machen?»

Er sah auf die Uhr.

«Wie du auch darüber denkst», sagte sie, «du mußt dir jetzt etwas Zeit lassen. Wenn du dich nicht zwischendurch etwas entspannst, brichst du mir ja zusammen.»

«Morgen wird dazu Zeit genug sein.» Er hatte mit scharfer Stimme gesprochen und wurde sich dessen sofort bewußt. «Tut mir leid, Carry, ich wollte gerade dir nicht weh tun. Aber, weißt du, ich war so sicher, daß ich diesmal recht hatte, und jetzt habe ich das Gefühl, alles sei mir weggeschwommen. Weißt du, diese alte Hexe hat mit mir gesprochen, als ob ich kein Recht hätte, sie zu fragen! Macht sie sich denn nicht auch Sorgen um das Kind?»

«Vielleicht ist sie viel verrückter, als man allgemein glaubt. Sarah scheint ihr vollkommen gleichgültig zu sein.»

«Ich war so fest davon überzeugt, daß ich recht hätte.»

«Du hast dein Bestes getan, Bill.» Sie wußte, daß das abgedroschene Worte waren, aber sie waren in diesem Fall auch wahr. Sie ging hinaus in die Küche und kochte den Kaffee. Als sie zurückkam, bemerkte sie, daß ihr Mann sich nicht bewegt hatte, sondern in derselben Haltung dasaß und auf den Tisch starrte mit einem bitteren Ausdruck im Gesicht.

Sobald der Kaffee etwas abgekühlt war, trank er ihn aus, stand auf und küßte sie flüchtig.

Er fuhr durch Carriford zu der Straße nach London, südlich von Stoneyacre. Er parkte hinter den Streifenwagen. In einem dieser Wagen sah er Raydon.

«Irgend etwas Neues?» fragte er hoffnungslos.

«Nichts. Gar nichts.»

Da er nichts anderes zu tun hatte, half Agar Raydon dabei, die Durchsuchungen zu prüfen, um sicher zu sein, daß man auch nicht ein kleines Stück Land dabei ausgelassen hatte.

Die Hitze im Wagen war bedrückend, und sie wurden so schläfrig, daß sie des öfteren aufstehen mußten und eine Zeitlang auf der Straße auf und ab gehen, um ihre Müdigkeit zu überwinden.

Um sechzehn Uhr acht läutete das Telefon. Agar hob ab.

«Hier ist Agar.»

«Hier ist Vernon, Sir.»

«Wer?»

«Vernon, Sir. Ich bin einer der sechs Männer, die Sie heute morgen losgeschickt haben.»

Guter Gott! dachte Agar, die sechs Polizisten waren noch mit ihren Befragungen unterwegs. In seiner bitteren Enttäuschung und Übermüdung hatte er sie vollständig vergessen.

Vernon macht seine Meldung. «Ich habe gerade mit dem Briefträger aus dem Ort gesprochen, Sir. Das einzige, was er berichten konnte, hat sich am Montag zugetragen und ist wohl belanglos. Aber weil Sie sagten, wir sollten alles …»

«Was sagt der Mann?»

«Nun, er ging zu diesem Haus, um Briefe auszutragen, als die Tür von innen geöffnet wurde und eine Frau dastand. Er sagte, er habe einen Schreck gekriegt, sie hätte einen komischen Ausdruck im Gesicht gehabt. Dann hätte sie den Mund aufgemacht, wohl um was zu sagen, als er ein Husten hörte, und sie daraufhin dann doch nichts sagte. Er hätte sie gefragt, ob ihr etwas fehle, aber sie hätte es verneint. Er hätte ein paar Bemerkungen über das Wetter gemacht, um sie zum Sprechen zu bringen, aber sie sagte nichts, und dann hätte er ihr die Briefe ausgehändigt. Er sagte, er trage in diesem Bezirk schon vier Jahre lang die Post aus, und das sei das erstemal gewesen, daß er sie überhaupt zu Gesicht bekommen hätte, und sie sei wirklich verrückt.»

«Welches Haus war das?» fragte Agar aufgeregt.

«Das alte Pfarrhaus, Sir. Die Frau heißt Mrs. Pretty.»

«Vernon, das ist sehr wichtig. Können Sie den Briefträger zu mir schicken?»

«Ich dachte schon, daß Sie ihn vielleicht sprechen möchten, Sir, ich habe ihn darum mitgebracht. Er wartet draußen vor der Telefonzelle. Ich hole ihn herein.»

Es entstand eine Pause. Dann hörte Agar die Stimme: «Sie wollten mich sprechen, Sir?»

«Ja, das möchte ich, und ich danke Ihnen für die Hilfe. Bitte beschreiben Sie mir alles ganz genau, so wie Sie es im Gedächtnis haben.»

«Ja, das war so. Ich fahre die Einfahrt hinauf und parke den Wagen und gehe zur Haustür. Ich will gerade die Briefe in den Briefkasten werfen, der in der Haustür ist, als die Tür sich öffnet, und ich stehe da und halte die Briefe ausgestreckt wie ein Heini. Es ist eine Frau, und sie sieht aus, als ob sie gerade auf eine Schlange getreten wäre. Sie öffnet den Mund, um etwas zu sagen, dann höre ich ein Hüsteln, und sie klappt den Mund wieder ganz fix zu. Ich frage, ob irgend etwas nicht in Ordnung ist, aber sie sagt nichts. Sie hat nicht den Eindruck gemacht, als ob sie sich gern unterhalten wolle, und dann bin ich wieder gegangen.

Mister, wenn ich gewußt hätte, daß das für Sie wichtig ist, hätte ich es jemand erzählt, aber die Leute sagen ja immer schon, die Frau wäre verrückt.»

Die Tragödie des Rufes, dachte Agar.

«War sie es, die gehustet hat?» fragte er.

«Nein, sie war es nicht. Das ist sicher.»

«Was war das für ein Husten?»

«Ach, nur so ein Hüsteln, leise und unaufdringlich, wie um sich höflich bemerkbar zu machen.»

«War es eine Frau oder ein Mann?»

«Ja, das kann ich nicht so genau sagen.»

«Versuchen Sie es doch.»

«Dann möchte ich eher meinen, es war ein Mann.»

«Danke. Vielen Dank.»

«Mister», sagte der Briefträger hastig. «Sie müssen wissen, daß ich das für unwichtig gehalten habe, bis der Polizist mit mir sprach …»

Agar schnitt ihm das Wort ab. «Das weiß ich. Danke.» Er legte auf.

«Ist etwas?» fragte Raydon.

«Wahrscheinlich, höchstwahrscheinlich.» Doch er erinnerte sich daran, wie Mrs. Pretty abgeleugnet hatte, daß Krammer bei ihr sei, und das zu einer Zeit, da sie es hätte gefahrlos zugeben können.

«Was ist denn?» fragte Raydon, der Agar beobachtet hatte.

«Ich weiß nicht. Warum? Warum leugnet sie am Telefon seine Anwesenheit ab? Wenn sie wirklich so verrückt ist, wer hustete dann? Sehen Sie, Don, das war so.» Und er teilte Raydon der Reihe nach alles mit.

Zum Schluß sah Raydon verwirrt aus. «Aber wenn Krammer da wäre, dann hätte sie es doch am Telefon sagen können.»

«Und doch bin ich sicher.»

«Was werden Sie jetzt tun?»

«Das Haus durchsuchen lassen.»

«Aber nach dem, was Sie mir erzählt haben, bringt sie es fertig, Ihnen das zu verweigern.»

«Ich werde mir die Erlaubnis dazu besorgen.»

«Und wenn sie Ihnen verweigert wird?»

Agar schüttelte den Kopf, ohne zu antworten.