34
»Und warum sind Sie dann hier?« Andrea Thomson
drückte die Handflächen aneinander und legte ihr Kinn auf die
Fingerspitzen. Die Sitzung fand in dem Raum im Polizeipräsidium
statt, den sie immer benutzte, wenn einer der Beamten in Edinburgh
ihre Hilfe benötigte. »Fühlen Sie sich um Ihren Erfolg
betrogen?«
»Hab ich das gesagt?«
»Ich hatte den Eindruck, dass Sie das zum Ausdruck
bringen wollten. Vielleicht habe ich Sie missverstanden.«
»Ich weiß nicht. Ich hab immer gedacht, als
Polizist sei man dazu da, für die Einhaltung der Gesetze zu
sorgen... na ja, das Zeug eben, das man in Tulliallan beigebracht
bekommt.«
»Und jetzt?« Thomson nahm pro forma ihren Stift in
die Hand. Sie machte sich immer erst im Anschluss an eine Sitzung
Notizen.
»Jetzt?« Achselzucken. »Jetzt frage ich mich, ob
diese Gesetze wirklich ihren Sinn erfüllen.«
»Obwohl Sie ein positives Ergebnis erzielt
haben?«
»Hab ich das?«
»Sie haben den Fall aufgeklärt, oder nicht? Ein
Unschuldiger ist aus dem Gefängnis entlassen worden. Für mich hört
sich das nicht nach einem Misserfolg an.«
»Vielleicht nicht.«
»Oder sind es die Methoden, mit denen das Ziel
erreicht wurde? Liegt Ihrer Meinung nach an dieser Stelle der
Fehler im System?«
»Vielleicht liegt der Fehler eher bei mir.
Vielleicht bin ich einfach …«
»Ja?«
»… dem Job nicht gewachsen«, fuhr sie fort und
zuckte erneut mit den Achseln.
Thomson betrachtete den Stift in ihrer Hand. »Sie
haben jemanden sterben sehen. Das musste Sie zwangsläufig tief
berühren.«
»Aber nur, weil ich es zugelassen habe.«
»Nein, weil Sie ein Mensch sind.«
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen«, meinte
Siobhan kopfschüttelnd.
»Niemand macht Ihnen einen Vorwurf, DS Clarke. Ganz
im Gegenteil.«
»Ohne dass ich es verdient hätte.«
»Wir alle bekommen Dinge, von denen wir glauben,
dass wir sie nicht verdient hätten«, sagte Thomson lächelnd. »Die
meisten von uns betrachten so etwas als glückliche Fügung. Sie
hatten beruflich bislang Erfolg. Liegt da vielleicht das Problem?
Dass Ihnen der Erfolg zu leicht gefallen ist? Dass Sie lieber eine
Außenseiterin wären, jemand, der die Regeln verletzt und damit
öfter durchkommt?« Sie hielt inne. »Wären Sie vielleicht gern wie
DI Rebus?«
»Ich bin mir durchaus im Klaren, dass für zwei von
seiner Sorte bei uns kein Platz ist.«
»Aber trotzdem...?«
Siobhan dachte darüber nach, zuckte dann aber
wieder nur die Achseln.
»Dann erzählen Sie mir doch mal, was Ihnen an Ihrem
Beruf gefällt!« Andrea Thomson beugte sich auf ihrem Stuhl
vor und versuchte, ernsthaft interessiert zu wirken.
Siobhan zuckte erneut mit den Achseln. Thomson
machte ein enttäuschtes Gesicht. »Und Ihre Freizeit? Haben Sie
irgendwelche besonderen Interessen?«
Siobhan überlegte lange. »Musik, Schokolade,
Fußball, Alkohol.« Sie sah auf ihre Uhr. »Mit ein bisschen Glück
hab ich nachher noch Zeit für mindestens drei davon.«
Thomsons professionelles Lächeln wurde
schwächer.
»Außerdem mag ich auch noch lange Autofahrten und
Pizza vom Pizzaservice«, fügte Siobhan hinzu, die sich für das
Thema zu erwärmen begann.
»Und was ist mit Beziehungen?«, erkundigte sich
Thomson.
»Was soll damit sein?«
»Haben Sie im Moment eine feste Beziehung?«
»Nur zu meinem Beruf, Ms Thomson. Und bei dem bin
ich mir auch nicht mehr sicher, ob er mich noch liebt.«
»Und wie gedenken Sie das zu ändern, DS
Clarke?«
»Keine Ahnung. Vielleicht sollte ich ihn mit ins
Bett nehmen und ihn mit Nussschokolade füttern. Das hat bei mir
bisher immer geholfen.«
Thomson blickte von ihrem Kugelschreiber auf und
sah Siobhan grinsen.
»Ich schlage vor, wir machen Schluss für heute«,
sagte sie.
»Ist mir recht«, erwiderte Siobhan und stand auf.
»Vielen Dank jedenfalls. Ich fühle mich schon viel besser.«
»Und ich für meinen Teil würde mich viel besser
fühlen, wenn ich eine Tafel Schokolade hätte«, meinte Andrea
Thomson.
»Die Kantine ist bestimmt noch offen.«
Thomson steckte ihren unbenutzten DIN-A4-Block in
die Tasche. »Worauf warten wir dann noch«, sagte sie.