15
»Und Sie haben ihn seitdem nicht mehr gesehen?«
Die Frau schüttelte den Kopf. Sie saß in ihrer Wohnung im fünften Stock von The Fort, einem Hochhaus am Rand von Leith. Man hätte von ihrem vollgestopften Wohnzimmer aus einen wunderbaren Meerblick gehabt, wenn die Fenster nicht so dreckig gewesen wären. Der Raum roch nach Essensresten und Katzenpisse, allerdings konnte Rebus keinen Hinweis auf die tatsächliche Anwesenheit einer Katze entdecken. Die Frau hieß Jenny Bell und war zum Zeitpunkt von Dickie Diamonds Verschwinden seine Freundin gewesen.
Als Bell die Tür öffnete, hatte Barclay Rebus einen Blick zugeworfen, der besagte, dass er jetzt verstand, wieso Diamond Reißaus genommen hatte. Bell war ungeschminkt und trug formlose, graue Kleidung. Die Nähte ihrer Hausschuhe hatten sich aufgelöst, und ihr Mund war zahnlos, verschrumpelt und eingefallen. Wahrscheinlich trug sie ihr Gebiss nur zu besonderen Gelegenheiten. Man konnte ihre Worte nur schwer verstehen. Vor allem Allan Ward, der auf der Sofalehne saß und mit zusammengezogenen Augenbrauen angestrengt zuhörte, hatte damit Probleme.
»Hab ihn nicht mehr zu Gesicht gekriegt«, meinte Bell. »Und wenn, dann hätte ich ihn ordentlich vermöbelt.«
»Was haben die Leute gedacht, als er plötzlich verschwunden ist?«, fragte Rebus.
»Dass er Schulden hatte, nehme ich an.«
»Und hatte er welche?«
»Bei mir auf jeden Fall«, antwortete sie, und stupste dabei mit dem Finger gegen ihren üppigen Busen. »Fast zweihundert Pfund.«
»Hat er sich das Geld auf einmal geliehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Immer mal wieder ein bisschen.«
»Wie lange sind Sie zusammen gewesen?«, erkundigte sich Barclay.
»Vier, fünf Monate.«
»Hat er hier gewohnt?«
»Manchmal.«
Irgendwo lief ein Radio, entweder in einem Nebenzimmer oder einer Nachbarwohnung. Draußen bellten sich zwei Hunde an. Da Jenny Bell den elektrischen Kamin angestellt hatte, war es im Zimmer stickig und heiß. Außerdem trugen Ward und er mit ihrem alkoholisierten Atem dazu bei, den Mief anzureichern. Bobby Hogan hatte ihnen Bells Adresse genannt, sich dann aber enschuldigt und war zum Revier zurückgekehrt. Rebus konnte ihm das nicht verübeln.
»Miss Bell«, sagte er nun, »waren Sie je mit Dickie auf dem Wohnwagenplatz?«
»Ein paar Mal übers Wochenende«, antwortete sie mit leicht anzüglicher Miene. Damit war klar, was die beiden an diesen Wochenenden getrieben hatten. Rebus sah, wie Ward schauderte, als ihm klar wurde, was sie meinte. Nun kniff Bell die Augen ein wenig zusammen und fixierte Rebus. »Ich habe Sie schon mal irgendwo gesehen.«
»Gut möglich«, gab Rebus zu. »Ich geh hier in der Gegend öfter mal was trinken.«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Es ist schon lange her. In einem Pub...«
»Wie ich schon sagte...«
»Waren Sie nicht zusammen mit Dickie dort?«
Rebus schüttelte den Kopf. Ward und Barclay musterten ihn. Hogan hatte gemeint, Bells Gedächtnis sei »völlig im Eimer«. Er hatte sich geirrt.
»Zurück zu dem Wohnwagenplatz«, hakte Rebus nach. »Wo genau befand er sich?«
»In der Nähe von Port Seton.«
»Sie kannten Rico Lomax, stimmt’s?«
»Ja, war ein netter Mann, dieser Rico.«
»Waren Sie je zusammen mit Dickie auf einer seiner Partys?«
Sie nickte. »Wilde Zeiten«, meinte sie grinsend. »Und keine Nachbarn, die einem Ärger machen konnten.«
»Anders als hier«, vermutete Ward. In diesem Moment schrie auf der anderen Seite der Wand jemand seinen Nachwuchs an: »Du räumst jetzt endlich dein Zimmer auf!«
Bell starrte die Wand an. »Ganz anders als hier«, antwortete sie. »Vor allem hat man in einem Wohnwagen mehr Platz.«
»Was dachten Sie, als Sie hörten, dass Rico ermordet worden war?«, fragte Barclay.
Sie zuckte die Achseln. »Was hätte ich denn denken sollen? Rico war, was er war.«
»Und was war er?«
»Meinen Sie, abgesehen davon, dass er ein verdammt guter Stecher war?« Sie begann zu kichern, so dass man ihren blassrosa Gaumen sah.
»Wusste Dickie davon?«, erkundigte sich Ward.
»Dickie war dabei«, erwiderte sie.
»Und er hatte nichts dagegen?«, fragte Ward. Sie starrte ihn an.
»Ich glaube«, mischte Rebus sich ein, um es Ward zu erklären, »Miss Bell wollte andeuten, dass Dickie einer der Beteiligten war.«
Bell grinste über Wards Gesichtsausdruck, als der das verarbeitete. Dann fing sie wieder an zu kichern.
 
»Gibt es in St. Leonard’s eine Dusche?«, wollte Ward auf der Rückfahrt wissen.
»Heißt das, du brauchst eine?«
»Eine halbe Stunde lang abschrubben sollte reichen.« Er kratzte sich am Bein, worauf es auch Rebus zu jucken begann.
»Dieses Bild wird mich bis ins Grab verfolgen«, meinte Barclay.
»Allan unter der Dusche?«, fragte Rebus spöttisch.
»Verdammt, du weißt genau, was ich meine«, schimpfte Barclay. Rebus nickte.Während der restlichen Fahrt schwiegen sie. Auf dem Parkplatz angekommen, wollte Rebus noch eine Zigarette rauchen. Sobald Ward und Barclay im Gebäude verschwunden waren, holte er sein Handy heraus, rief die Auskunft an und ließ sich die Nummer der Calder Pharmacy in Sighthill geben. Er kannte den Apotheker, einen Typ namens Charles Shanks, der in seiner Freizeit Kickboxen unterrichtete.
»Charles? Ich bin’s, John Rebus. Eine Frage: Gibt es bei Apothekern auch so was wie eine Schweigepflicht?«
»Wieso?« Er klang belustigt und etwas misstrauisch.
»Ich wollte bloß wissen, ob ein gewisser Malky Taylor von Ihnen Methadon bekommt.«
»John, ich glaube, da kann ich Ihnen nicht helfen.«
»Mich interessiert nur, ob mit ihm alles in Ordnung ist, ob er regelmäßig sein Methadon nimmt...«
»Mit ihm ist alles bestens«, entgegnete Shanks.
»Danke, Charles.« Rebus beendete das Gespräch, steckte das Handy wieder ein und ging rein. Im Vernehmungsraum saßen Francis Gray und Stu Sutherland und redeten mit Barclay und Ward.
»Wo ist Jazz?«, fragte Rebus.
»Er wollte in die Bücherei«, antwortete Sutherland.
»Weswegen?«
Sutherland zuckte mit den Achseln und überließ die Erklärung Gray. »Jazz meinte, es könne nützlich sein zu erfahren, was zu der Zeit, als Rico erschlagen wurde und Mr Diamond von der Bildfläche verschwand, noch so passiert ist. Wie war’s in Leith?«
»Mit der Zombie Bar geht’s aufgestylt den Bach runter«, bemerkte Ward. »Und wir haben mit Dickies ehemaliger Freundin geredet.« Er zog eine Grimasse, um Gray zu verstehen zu geben, was er von ihr hielt.
»Die Wohnung war total versifft«, fügte Barclay hinzu. »Ich werde wohl ein paar Scheine in Desinfektionsmittel investieren.«
»Übrigens«, sagte Ward in boshaftem Tonfall, »habe ich den Eindruck, dass sie unserem John in grauer Vorzeit womöglich mal zu Diensten gewesen ist.«
Gray hob die Augenbrauen. »Stimmt das, John?«
»Sie dachte, sie hätte mich schon mal gesehen«, stellte Rebus richtig. »Aber das war ein Irrtum.«
»Sie war da anderer Meinung.«
»John«, meinte Gray flehentlich, »sag mir bitte, dass du Dickie Diamonds Tussi nicht gevögelt hast.«
»Ich habe Dickie Diamonds Tussi nicht gevögelt«, echote Rebus. In diesem Moment kam Jazz McCullough herein. Er wirkte müde, rieb sich mit einer Hand die Augen und trug einen Stapel Papier in der anderen.
»Das freut mich zu hören«, sagte er, da er nur den letzten Satz verstanden hatte.
»In der Bibliothek fündig geworden?«, fragte Stu Sutherland in einem Ton, als bezweifle er, dass Jazz überhaupt den Fuß über deren Schwelle gesetzt hatte.
Jazz ließ den Stapel auf den Tisch fallen. Es waren Fotokopien von Zeitungsartikeln.
»Schaut’s euch selbst an«, sagte er. Als sie die Blätter aufteilten, erklärte er, was er sich überlegt hatte. »Wir haben uns in Tulliallan die Zeitungsausschnitte vorgenommen, aber es ging hauptsächlich um den Mord an Rico, und das war eine Glasgower Angelegenheit.«
Was zur Folge hatte, dass die Glasgower Zeitung - der Herald - ausführlicher über die Geschichte berichtet hatte als die Konkurrenz von der Ostküste. Jazz hatte nun im Scotsman -Archiv ein paar Kurzmeldungen über »das Verschwinden des Edinburghers Richard Diamond« gefunden. Ein grobkörniges Foto war dabei: Diamond, wie er beim Verlassen eines Gerichtssaals sein kariertes Sakko zuknöpfte. Sein Haar war schulterlang und bedeckte die Ohren. Sein Mund stand offen, er hatte große, vorstehende Zähne und borstige, schmale Augenbrauen. Er wirkte groß und mager, sein Hals schien von Pickeln übersät zu sein.
»Attraktiver Bursche, was?«, bemerkte Barclay.
»Erfährt man aus der Zeitung irgendwas Neues?«, fragte Gray.
»Hier steht, dass O. J. Simpson vorhat, den Mörder seiner Frau zu finden«, sagte Tam Barclay. Rebus schaute sich die Titelseite an. Es war ein Foto zu sehen, das den Sportler nach seinem Freispruch zeigte. Die Zeitung stammte vom 4. Oktober 1995.
»Neue Hoffnung auf Frieden in Nordirland«, las Ward eine andere Überschrift vor. Er blickte in die Runde. »Wie ermutigend.«
Jazz nahm eine der Kopien und las vor: »Keine Fortschritte bei der Suche nach dem Pfarrhaus-Vergewaltiger.«
»Daran erinnere ich mich noch«, meinte Tam Barclay. »Man hat damals Kollegen aus Falkirk zur Unterstützung angefordert.«
»Und aus Livingston«, fügte Stu Sutherland hinzu.
Jazz hielt Rebus die Kopie hin. »Du erinnerst dich doch sicher, John?«
Rebus nickte. »Ich hab zum Ermittlungsteam gehört.« Er nahm Jazz das Blatt Papier ab und las.
Der Artikel handelte davon, dass immer noch kein Fahndungserfolg in Sicht war und die Bemühungen der Polizei langsam erlahmten. Kollegen von außerhalb wurden zu ihren Revieren zurückgeschickt. Eine sechs Mann starke Sonderkommission wird weiterhin die vorhandenen Informationen auswerten und nach neuen Spuren suchen. Aus den sechs waren nach einer Weile drei geworden, zu denen Rebus nicht mehr zählte. In dem Artikel stand nur wenig über das Verbrechen selbst, das eines der brutalsten seiner Art gewesen war, mit dem Rebus je zu tun gehabt hatte. Ein Pfarrhaus im Stadtteil Murrayfield - dem idyllischen Murrayfield mit seinen Villen und Alleen. Höchstwahrscheinlich war nur ein Einbruch geplant gewesen. Silberbesteck und andere Wertsachen waren gestohlen worden. Der Pfarrer hatte Gemeindemitglieder besucht und seine Frau allein zu Hause gelassen. Früher Abend, es brannte kein Licht. Das war wohl der Grund, wieso der Mann - laut Aussagen des Opfers ein Einzeltäter - sich das Pfarrhaus ausgesucht hatte. Es stand direkt neben der Kirche, verdeckt von einer hohen Mauer, umgeben von Bäumen, fast eine Welt für sich. Kein brennendes Licht hieß, dass niemand zu Hause war.
Da das Opfer jedoch blind war, brauchte es kein Licht. Die Frau hielt sich im ersten Stock im Badezimmer auf. Klirrend zerbrach eine Glasscheibe. Die Frau ließ sich gerade ein Bad ein, dachte, sie habe sich vielleicht verhört. Oder es seien Kinder, eine zerschmissene Glasflasche. Das Ehepaar besaß einen Hund, aber der Pfarrer hatte ihn mitgenommen, um ihm Auslauf zu verschaffen.
Sie spürte oben an der Treppe den Luftzug. Neben der Haustür in der Diele befand sich ein Telefon. Sie wollte nach unten gehen, stand mit einem Fuß auf der obersten Stufe, hörte das Knarren des Holzes. Beschloss, lieber das Telefon im Schlafzimmer zu benutzen. Sie hatte es schon fast erreicht, als er sich auf sie stürzte, bei den Handgelenken packte und herumwirbelte, sodass sie aufs Bett fiel. Später glaubte sie sich zu erinnern, dass sie ihn die Nachttischlampe anknipsen gehört hatte.
»Ich bin blind«, flehte sie. »Bitte, tun Sie mir nichts.«
Aber er tat es trotzdem und lachte hinterher, ein Lachen, das sie in den Monaten der Ermittlungen nicht mehr vergaß. Er lachte, weil sie ihn nicht identifizieren konnte. Erst nach der Vergewaltigung riss er ihr die Kleider herunter und schlug sie, als sie schrie, brutal ins Gesicht. Er hinterließ keine Fingerabdrücke, nur ein paar Fasern und ein einzelnes Schamhaar. Er fegte das Telefon vom Nachttisch und zertrat es, nahm Bargeld mit, ein paar Erbstücke aus dem Schmuckkästchen auf dem Schminktisch. Keiner der gestohlenen Gegenstände tauchte je wieder auf.
Er sagte kein Wort. Sie konnte nur ungenaue Angaben über seine Körpergröße und sein Gewicht machen und gar keine über sein Gesicht.
Die Polizisten hatten von Anfang an vermieden, laut auszusprechen, was sie dachten, sich jedoch nach Kräften bemüht. Ortsansässige Geschäftsleute hatten fünftausend Pfund Belohnung ausgesetzt. Das Schamhaar hatte der Polizei einen genetischen Fingerabdruck geliefert, aber damals gab es noch keine Datenbank für solche Informationen. Erst mussten sie den Täter haben, dann konnten sie die Übereinstimmung feststellen.
»War ein übler Fall«, gab Rebus zu.
»Hat man den Schweinehund je geschnappt?«, fragte Francis Gray.
Rebus nickte. »Vor etwa einem Jahr. Er hat ein weiteres Mal bei einem Einbruch eine Frau vergewaltigt. In Brighton.«
»Derselbe genetische Fingerabdruck?«, wollte Jazz wissen. Rebus nickte.
»Hoffentlich wird er ewig in der Hölle schmoren«, murmelte Gray.
»Er ist schon dort«, erwiderte Rebus. »Er hieß Michael Veitch. Wurde während seiner zweiten Woche im Knast erstochen.« Er zuckte mit den Achseln. »So kann’s gehen.«
»Allerdings«, sagte Jazz. »Manchmal glaube ich, dass in Gefängnissen öfter der Gerechtigkeit Genüge getan wird als vor Gericht.«
Rebus war klar, dass er gerade eine Steilvorlage bekommen hatte. Stimmt genau… erinnert ihr euch noch an den Gangster, der in Bar-L erstochen wurde? Hieß er nicht Bernie Johns? Aber das wäre zu plump. Wenn er das sagte, würden die drei aufmerken, wären zukünftig auf der Hut. Also hielt er sich zurück, fragte sich allerdings, ob er eine solche Gelegenheit je nutzen werde.
»Hat jedenfalls bekommen, was er verdient«, meinte Sutherland.
»Dem Opfer hat’s leider nichts mehr gebracht«, fügte Rebus hinzu.
»Was soll das heißen, John?«, fragte Jazz.
Rebus hielt das Blatt Papier in die Höhe.
»Wenn du deine Recherchen zeitlich ein bisschen ausgedehnt hättest, dann wüsstest du, dass sich die Frau umgebracht hat. Sie hatte sich schon vorher ganz in sich zurückgezogen. Konnte den Gedanken nicht ertragen, dass der Kerl frei herumlief -«
Wochenlang hatte Rebus im Pfarrhaus-Fall ermittelt.War den Hinweisen von Informanten gefolgt, die auf die Belohnung scharf waren. Hinweisen, die zu nichts geführt hatten.
»Schweinehund«, zischte Gray halblaut.
»Gibt jede Menge Opfer da draußen«, sagte Ward. »Und wir müssen uns um so einen Widerling wie Rico Lomax kümmern....«
»Mit vollem Einsatz bei der Arbeit?« Es war Tennant, der in der Tür stand. »Machen Sie schöne Fortschritte, von denen Ihr Teamleiter mir dann berichten kann?«
»Wir haben zumindest damit begonnen, Sir«, sagte Jazz in zuversichtlichem Tonfall, dem der Ausdruck seiner Augen jedoch widersprach.
»Anscheinend haben Sie sich mit alten Zeitungsartikeln eingedeckt«, bemerkte Tennant, den Blick auf die Fotokopien gerichtet.
»Ich hab nach möglichen Zusammenhängen gesucht, Sir«, erklärte Jazz. »Vielleicht ist zu der Zeit noch jemand verschwunden oder eine nicht identifizierbare Leiche aufgetaucht.«
»Und?«
»Nichts, Sir. Allerdings glaube ich herausgefunden zu haben, wieso DI Rebus gegenüber den Glasgower Kollegen nicht übermäßig hilfsbereit war.«
Rebus starrte ihn an. Wusste er tatsächlich Bescheid? Da mühte Rebus sich nun ab, dem Trio auf die Schliche zu kommen, aber immer wieder geschah etwas, das darauf abzuzielen schien, ihm das Wasser abzugraben. Zuerst der Fall Lomax und jetzt die Murrayfield-Vergewaltigung. Denn es gab eine Verbindung zwischen beiden - und diese Verbindung war Rebus selbst. Nein, nicht nur Rebus, sondern Rebus und Cafferty, und wenn die Wahrheit ans Licht kam, würde Rebus’ Karriere zu trudeln aufhören. Weil sie am Boden zerschellt war.
»Reden Sie weiter«, verlangte Tennant.
»Er war eigentlich mit einem anderen Fall betraut, und es ging ihm sehr gegen den Strich, diese Arbeit zu unterbrechen.« Jazz gab Tennant den Artikel über die Vergewaltigung.
»Ich erinnere mich daran«, sagte Tennant leise. »Sie haben in der Sache ermittelt?«
Rebus nickte. »Man hat mich von dem Fall abgezogen, um nach Dickie Diamond zu suchen.«
»Daher Ihr Widerwille.«
»Daher mein angeblicher Widerwille, Sir. Wie ich schon sagte, ich habe den Glasgower Kollegen so gut geholfen, wie ich konnte.«
Tennant machte ein nachdenkliches Gesicht. »Und bringt uns das bezüglich Mr Diamond irgendwie weiter, DI McCullough?«
»Wahrscheinlich nicht, Sir«, gab Jazz zu.
»Wir sind zu dritt nach Leith gefahren, Sir«, verkündete Allan Ward. »Haben zwei Personen aus seiner Bekanntschaft befragt. Wie es scheint, hat Diamond seine feste Freundin zumindest bei einer Gelegenheit gemeinsam mit Rico Lomax beglückt.«
Tennant schaute ihn an. Ward wurde ein wenig nervös.
»In einem Wohnwagen«, fuhr er fort, während sein Blick, um Unterstützung heischend, zwischen Rebus und Barclay hin und her huschte. »John und Tam waren auch dabei.«
Tennant hob die Augenbrauen. »In dem Wohnwagen?«
Ward lief rot an, als allgemeines Gelächter erschallte. »In Leith, Sir.«
Tennant wandte sich an Rebus. »Ein nützlicher Ausflug, DI Rebus?«
»Ich hab schon Angeltouren mit schlechterer Ausbeute gemacht.«
Tennant überlegte wieder. »Die Wohnwagen-Spur: Ist die Erfolg versprechend?«
»Schon möglich, Sir«, sagte Tam Barclay, der sich offenbar übergangen fühlte. »Ich finde, wir sollten ihr nachgehen.«
Dann wandte Tennant sich an Gray und Sutherland. »Und Sie zwei haben währenddessen -?«
»Herumtelefoniert«, erklärte Gray ruhig. »Um noch weitere Bekannte von Dickie Diamond ausfindig zu machen.«
»Aber Sie hatten trotzdem genug Zeit, ein bisschen spazieren zu gehen, was, Francis?«
Gray wusste natürlich, worauf er anspielte, hielt es aber für ratsam zu schweigen.
»DCS Templer hat mir berichtet, dass Sie Ihre Nase in ihre Ermittlungen gesteckt haben.«
»Ja, Sir.«
»Sie war darüber nicht besonders glücklich.«
»Und hat sich bei Ihnen ausgeheult?«, entgegnete Ward gehässsig.
»Nein, DC Ward. Sie hat es mir gegenüber in angemessener Form erwähnt, mehr nicht.«
»Es gibt uns, und es gibt die anderen«, fuhr Ward fort, und sein Blick wanderte dabei über The Wild Bunch. Rebus wusste, was er meinte: Von einem Team konnte bei ihnen kaum die Rede sein, vielmehr herrschte eine Art Wagenburg-Mentalität.
Es gibt uns, und es gibt die anderen.
Rebus sah das jedoch nicht so. Er fühlte sich innerlich isoliert; denn er war ein Maulwurf, eingeschleust, um andere zur Strecke zu bringen. Doch jetzt arbeitete er an einem Fall, dessen Aufklärung sein persönliches Ende wäre.
»Lassen Sie sich das eine Warnung sein«, sagte Tennant gerade zu Gray.
»Sie verbieten uns also, mit den Kollegen Kontakt aufzunehmen?«, fragte Gray. »Sind wir so eine Art Leprakolonie?«
»Wir sind nur dank DCS Templers Großzügigkeit hier. Wir befinden uns auf ihrer Wache. Und wenn Sie diesen Lehrgang erfolgreich absolvieren wollen...«, er legte eine Pause ein, damit ihm bei seinen nächsten Worten die Aufmerksamkeit gewiss war, »... dann tun Sie genau das, was man Ihnen befiehlt. Verstanden?«
Er erntete halblaut gemurmelte, missmutige Zustimmung.
»Gehen Sie jetzt wieder an die Arbeit«, sagte Tennant mit einem Blick auf seine Uhr. »Ich fahre zurück nach Tulliallan, und erwarte, Sie alle dort heute Abend zu sehen. Vergessen Sie trotz der großstädtischen Verlockungen nicht, dass Sie lediglich Urlaub auf Ehrenwort haben.«
Als er verschwunden war, starrten sie eine Weile ins Leere und überlegten, was sie nun tun sollten.Ward ergriff als Erster das Wort.
»Der Typ hätte echt Stricher werden sollen.«
Barclay runzelte die Stirn. »Wie meinst du das, Allan?«
Ward sah ihn an. »Sei ehrlich, Tam: Wann hast du zuletzt ein derart großes Arschloch gesehen?«
Das Gelächter minderte ein wenig die Anspannung. Rebus war jedoch nicht danach zumute, mit einzustimmen. Er stellte sich eine blinde Frau vor, die plötzlich von einem Fremden an den Handgelenken gepackt wurde. Er dachte an ihr Entsetzen. Eine Frage hatte ihn damals beschäftigt, die er dann einem Psychologen stellte: »Ist es für eine blinde Frau schlimmer als für eine, die sehen kann?«
Der Psychologe hatte nur ratlos den Kopf geschüttelt. Rebus war nach Hause gegangen und hatte sich eine Augenbinde umgebunden. Ganze zwanzig Minuten hatte er es ausgehalten, dann hatte er sich mit blauen Flecken an den Schienbeinen in einen Sessel fallen lassen und sich in den Schlaf geweint.
Jetzt stand er auf, um auszutreten. Gray schärfte ihm ein, den echten Polizisten dabei nicht zu nahe zu kommen. Als Rebus die Toilette betrat, schüttelte Derek Linford gerade Wasser von seinen Händen.
»Keine Handtücher«, erklärte Linford. Er betrachtete sich im Spiegel über dem Waschbecken.
»Ich hab gehört, Sie sind der Ersatz für mich«, sagte Rebus, während er auf das Urinal zuging.
»Ich glaube, wir beide haben nichts miteinander zu bereden.«
»In Ordnung.« Das Schweigen dauerte nur kurz.
»Ich habe gleich ein Verhör«, konnte Linford sich nicht verkneifen zu bemerken. Er schob ein loses Haar hinter sein Ohr.
»Lassen Sie sich von mir nicht aufhalten«, meinte Rebus. Als er sich ans Urinal stellte, glaubte er, Linfords bohrende Blicke in seinem Rücken zu spüren. Dann wurde die Tür erneut aufgestoßen. Es war Jazz. Er wollte sich Linford vorstellen, wurde aber unterbrochen.
»Tut mir Leid, aber es wartet ein Verdächtiger auf mich.« Als Rebus seinen Reißverschluss wieder geschlossen hatte, war Linford schon verschwunden.
»Hab ich was Falsches gesagt?«, erkundigte sich Jazz.
»Linford widmet sich nur solchen Leuten, bei denen es lohnt, ihnen in den Arsch zu kriechen.«
»Karriereopportunist«, sagte Jazz mit beifälligem Nicken. Er ging zum Waschbecken und ließ sich kaltes Wasser über die Hände laufen. »Wie hieß noch gleich dieser Song von The Clash?«
»›Career Opportunities‹.«
»Genau. Ich hatte immer das Gefühl, dass es sich für jemand wie mich nicht gehört, The Clash zu mögen: zu alt und unpolitisch.«
»Ich weiß, was du meinst.«
»Aber eine gute Band ist eine gute Band.«
Rebus beobachtete, wie Jazz sich nach irgendetwas zum Abtrocknen umschaute. »Sparmaßnahmen«, erklärte Rebus. Jazz seufzte und holte sein Taschentuch heraus.
»Neulich, da sind wir doch deiner… deiner Freundin über den Weg gelaufen.« Er wartete, bis Rebus nickte. »Ist zwischen euch wieder alles im Lot?«
»Nicht direkt.«
»Das wird einem beim Einstellungsgespräch verschwiegen. Dass die Arbeit als Bulle das Liebesleben ruiniert.«
»Du bist immerhin noch verheiratet.«
Jazz nickte. »Aber leicht ist es nicht.« Er schwieg einen Moment. »Diese Vergewaltigung, die ist dir wohl ziemlich nahe gegangen, was? Ich hab’s deinem Blick angesehen. Beim Lesen des Artikels warst du wieder mittendrin in den Ermittlungen.«
»Eine Menge Fälle haben mir im Lauf der Jahre zu schaffen gemacht, Jazz.«
»Warum lässt du das zu?«
»Keine Ahnung.« Rebus verstummte. »Vielleicht war ich früher mal ein guter Polizist.«
»Gute Polizisten ziehen Grenzen, John.«
»Tust du das denn?«
Jazz antwortete nicht sofort. »Letzten Endes ist es bloß meine Arbeit. Lohnt nicht, deswegen nachts wach zu liegen, von anderem ganz zu schweigen.«
Rebus sah seine Chance. »Ich bin zum selben Schluss gelangt... vielleicht zu spät; bald werde ich pensioniert.«
»Was meinst du damit?«
»Dass mich nichts weiter erwartet als eine lausige Rente. Dieser Beruf hat mich meine Frau gekostet, meine Tochter, die meisten meiner Freunde.«
»Das ist ziemlich bitter.«
Rebus nickte. »Und was hat er mir eingebracht?«
»Abgesehen von dem Alkoholproblem und dem Ärger mit Vorgesetzten?«
Rebus lächelte. »Ja, abgesehen davon.«
»Keine Ahnung, John.«
Rebus schwieg eine Weile, dann stellte er die Frage, die er sich zurechtgelegt hatte.
»Hast du je die Grenze überschritten, Jazz? Ich meine damit nicht die Kleinigkeiten, die verbotenen Abkürzungen, die wir manchmal nehmen... ich meine etwas Schwerwiegendes, etwas, mit dem du erst mal klarkommen musstest?«
Jazz starrte ihn an. »Wieso? Hast du so etwas getan?«
Rebus wedelte mit dem Zeigefinger. »Ich hab zuerst gefragt.«
Jazz wurde nachdenklich. »Vielleicht«, sagte er. »Ein einziges Mal.«
Rebus nickte. »Hast du dir je gewünscht, es ungeschehen machen zu können?«
»John...«, Jazz unterbrach sich. »Reden wir hier über mich oder über dich?«
»Über uns beide, glaube ich.«
Jazz trat einen kleinen Schritt näher. »Du weißt etwas über Dickie Diamond, stimmt’s? Vielleicht sogar über den Mord an Rico...«
»Vielleicht«, gab Rebus zu. »Und was ist dein großes Geheimnis, Jazz? Handelt es sich um etwas, das wir zusammen in Ordnung bringen können?« Rebus flüsterte jetzt verschwörerisch, um seinem Gegenüber ein Geständnis zu entlocken.
»Wir kennen uns doch kaum«, meinte Jazz.
»Ich finde, wir kennen uns gut genug.«
»Ich...« Jazz schluckte. »Du bist noch nicht so weit«, sagte er, begleitet von einer Art Seufzer.
»Ich bin noch nicht so weit? Und was ist mit dir, Jazz?«
»John... Ich weiß nicht, was du vorhast.«
»Ich habe eine Idee, einen Plan, wie ich mir den Lebensabend versüßen könnte. Allerdings brauche ich dazu Hilfe - Hilfe von vertrauenswürdigen Leuten.«
»Reden wir hier von einer illegalen Sache?«
Rebus nickte. »Du müsstest erneut die Grenze überschreiten.«
»Wie riskant ist es?«
»Nicht besonders.« Rebus überlegte. »Höchstens mittelriskant.«
Jazz wollte gerade etwas sagen, als die Tür aufflog und George Silvers hereingeschlendert kam.
»Tag die Herren«, sagte er.
Weder Rebus noch Jazz erwiderten den Gruß, denn beide starrten sich unverwandt an.
Dann beugte sich Jazz zu Rebus. »Rede mit Francis«, flüsterte er. Und ging hinaus.
Silvers war in einer der Kabinen verschwunden, kam jedoch Sekunden später schon wieder heraus. »Kein Klopapier«, maulte er. Plötzlich blieb er stehen. »Was grinsen Sie so?«
»Ich mache Fortschritte«, erwiderte Rebus.
»Dann scheint’s bei Ihnen ja besser zu laufen als bei uns«, murmelte Silvers, marschierte in die nächste Kabine und knallte die Tür zu.