15
»Und Sie haben ihn seitdem nicht mehr
gesehen?«
Die Frau schüttelte den Kopf. Sie saß in ihrer
Wohnung im fünften Stock von The Fort, einem Hochhaus am Rand von
Leith. Man hätte von ihrem vollgestopften Wohnzimmer aus einen
wunderbaren Meerblick gehabt, wenn die Fenster nicht so dreckig
gewesen wären. Der Raum roch nach Essensresten und Katzenpisse,
allerdings konnte Rebus keinen Hinweis auf die tatsächliche
Anwesenheit einer Katze entdecken. Die Frau hieß Jenny Bell und war
zum Zeitpunkt von Dickie Diamonds Verschwinden seine Freundin
gewesen.
Als Bell die Tür öffnete, hatte Barclay Rebus einen
Blick zugeworfen, der besagte, dass er jetzt verstand, wieso
Diamond Reißaus genommen hatte. Bell war ungeschminkt und trug
formlose, graue Kleidung. Die Nähte ihrer Hausschuhe hatten sich
aufgelöst, und ihr Mund war zahnlos, verschrumpelt und eingefallen.
Wahrscheinlich trug sie ihr Gebiss nur zu besonderen Gelegenheiten.
Man konnte ihre Worte nur schwer verstehen. Vor allem Allan Ward,
der auf der Sofalehne saß und mit zusammengezogenen Augenbrauen
angestrengt zuhörte, hatte damit Probleme.
»Hab ihn nicht mehr zu Gesicht gekriegt«, meinte
Bell. »Und wenn, dann hätte ich ihn ordentlich vermöbelt.«
»Was haben die Leute gedacht, als er plötzlich
verschwunden ist?«, fragte Rebus.
»Dass er Schulden hatte, nehme ich an.«
»Und hatte er welche?«
»Bei mir auf jeden Fall«, antwortete sie, und
stupste dabei
mit dem Finger gegen ihren üppigen Busen. »Fast zweihundert
Pfund.«
»Hat er sich das Geld auf einmal geliehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Immer mal wieder ein
bisschen.«
»Wie lange sind Sie zusammen gewesen?«, erkundigte
sich Barclay.
»Vier, fünf Monate.«
»Hat er hier gewohnt?«
»Manchmal.«
Irgendwo lief ein Radio, entweder in einem
Nebenzimmer oder einer Nachbarwohnung. Draußen bellten sich zwei
Hunde an. Da Jenny Bell den elektrischen Kamin angestellt hatte,
war es im Zimmer stickig und heiß. Außerdem trugen Ward und er mit
ihrem alkoholisierten Atem dazu bei, den Mief anzureichern. Bobby
Hogan hatte ihnen Bells Adresse genannt, sich dann aber enschuldigt
und war zum Revier zurückgekehrt. Rebus konnte ihm das nicht
verübeln.
»Miss Bell«, sagte er nun, »waren Sie je mit Dickie
auf dem Wohnwagenplatz?«
»Ein paar Mal übers Wochenende«, antwortete sie mit
leicht anzüglicher Miene. Damit war klar, was die beiden an diesen
Wochenenden getrieben hatten. Rebus sah, wie Ward schauderte, als
ihm klar wurde, was sie meinte. Nun kniff Bell die Augen ein wenig
zusammen und fixierte Rebus. »Ich habe Sie schon mal irgendwo
gesehen.«
»Gut möglich«, gab Rebus zu. »Ich geh hier in der
Gegend öfter mal was trinken.«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Es ist schon
lange her. In einem Pub...«
»Wie ich schon sagte...«
»Waren Sie nicht zusammen mit Dickie dort?«
Rebus schüttelte den Kopf. Ward und Barclay
musterten ihn. Hogan hatte gemeint, Bells Gedächtnis sei »völlig im
Eimer«. Er hatte sich geirrt.
»Zurück zu dem Wohnwagenplatz«, hakte Rebus nach.
»Wo genau befand er sich?«
»In der Nähe von Port Seton.«
»Sie kannten Rico Lomax, stimmt’s?«
»Ja, war ein netter Mann, dieser Rico.«
»Waren Sie je zusammen mit Dickie auf einer seiner
Partys?«
Sie nickte. »Wilde Zeiten«, meinte sie grinsend.
»Und keine Nachbarn, die einem Ärger machen konnten.«
»Anders als hier«, vermutete Ward. In diesem Moment
schrie auf der anderen Seite der Wand jemand seinen Nachwuchs an:
»Du räumst jetzt endlich dein Zimmer auf!«
Bell starrte die Wand an. »Ganz anders als hier«,
antwortete sie. »Vor allem hat man in einem Wohnwagen mehr
Platz.«
»Was dachten Sie, als Sie hörten, dass Rico
ermordet worden war?«, fragte Barclay.
Sie zuckte die Achseln. »Was hätte ich denn denken
sollen? Rico war, was er war.«
»Und was war er?«
»Meinen Sie, abgesehen davon, dass er ein verdammt
guter Stecher war?« Sie begann zu kichern, so dass man ihren
blassrosa Gaumen sah.
»Wusste Dickie davon?«, erkundigte sich Ward.
»Dickie war dabei«, erwiderte sie.
»Und er hatte nichts dagegen?«, fragte Ward. Sie
starrte ihn an.
»Ich glaube«, mischte Rebus sich ein, um es Ward zu
erklären, »Miss Bell wollte andeuten, dass Dickie einer der
Beteiligten war.«
Bell grinste über Wards Gesichtsausdruck, als der
das verarbeitete. Dann fing sie wieder an zu kichern.
»Gibt es in St. Leonard’s eine Dusche?«, wollte
Ward auf der Rückfahrt wissen.
»Heißt das, du brauchst eine?«
»Eine halbe Stunde lang abschrubben sollte
reichen.« Er kratzte sich am Bein, worauf es auch Rebus zu jucken
begann.
»Dieses Bild wird mich bis ins Grab verfolgen«,
meinte Barclay.
»Allan unter der Dusche?«, fragte Rebus
spöttisch.
»Verdammt, du weißt genau, was ich meine«,
schimpfte Barclay. Rebus nickte.Während der restlichen Fahrt
schwiegen sie. Auf dem Parkplatz angekommen, wollte Rebus noch eine
Zigarette rauchen. Sobald Ward und Barclay im Gebäude verschwunden
waren, holte er sein Handy heraus, rief die Auskunft an und ließ
sich die Nummer der Calder Pharmacy in Sighthill geben. Er kannte
den Apotheker, einen Typ namens Charles Shanks, der in seiner
Freizeit Kickboxen unterrichtete.
»Charles? Ich bin’s, John Rebus. Eine Frage: Gibt
es bei Apothekern auch so was wie eine Schweigepflicht?«
»Wieso?« Er klang belustigt und etwas
misstrauisch.
»Ich wollte bloß wissen, ob ein gewisser Malky
Taylor von Ihnen Methadon bekommt.«
»John, ich glaube, da kann ich Ihnen nicht
helfen.«
»Mich interessiert nur, ob mit ihm alles in Ordnung
ist, ob er regelmäßig sein Methadon nimmt...«
»Mit ihm ist alles bestens«, entgegnete
Shanks.
»Danke, Charles.« Rebus beendete das Gespräch,
steckte das Handy wieder ein und ging rein. Im Vernehmungsraum
saßen Francis Gray und Stu Sutherland und redeten mit Barclay und
Ward.
»Wo ist Jazz?«, fragte Rebus.
»Er wollte in die Bücherei«, antwortete
Sutherland.
»Weswegen?«
Sutherland zuckte mit den Achseln und überließ die
Erklärung Gray. »Jazz meinte, es könne nützlich sein zu erfahren,
was zu der Zeit, als Rico erschlagen wurde und Mr Diamond von der
Bildfläche verschwand, noch so passiert ist. Wie war’s in
Leith?«
»Mit der Zombie Bar geht’s aufgestylt den Bach
runter«, bemerkte Ward. »Und wir haben mit Dickies ehemaliger
Freundin geredet.« Er zog eine Grimasse, um Gray zu verstehen zu
geben, was er von ihr hielt.
»Die Wohnung war total versifft«, fügte Barclay
hinzu. »Ich werde wohl ein paar Scheine in Desinfektionsmittel
investieren.«
»Übrigens«, sagte Ward in boshaftem Tonfall, »habe
ich den Eindruck, dass sie unserem John in grauer Vorzeit womöglich
mal zu Diensten gewesen ist.«
Gray hob die Augenbrauen. »Stimmt das, John?«
»Sie dachte, sie hätte mich schon mal gesehen«,
stellte Rebus richtig. »Aber das war ein Irrtum.«
»Sie war da anderer Meinung.«
»John«, meinte Gray flehentlich, »sag mir bitte,
dass du Dickie Diamonds Tussi nicht gevögelt hast.«
»Ich habe Dickie Diamonds Tussi nicht gevögelt«,
echote Rebus. In diesem Moment kam Jazz McCullough herein. Er
wirkte müde, rieb sich mit einer Hand die Augen und trug einen
Stapel Papier in der anderen.
»Das freut mich zu hören«, sagte er, da er nur den
letzten Satz verstanden hatte.
»In der Bibliothek fündig geworden?«, fragte Stu
Sutherland in einem Ton, als bezweifle er, dass Jazz überhaupt den
Fuß über deren Schwelle gesetzt hatte.
Jazz ließ den Stapel auf den Tisch fallen. Es waren
Fotokopien von Zeitungsartikeln.
»Schaut’s euch selbst an«, sagte er. Als sie die
Blätter aufteilten, erklärte er, was er sich überlegt hatte. »Wir
haben uns in Tulliallan die Zeitungsausschnitte vorgenommen, aber
es ging hauptsächlich um den Mord an Rico, und das war eine
Glasgower Angelegenheit.«
Was zur Folge hatte, dass die Glasgower Zeitung -
der Herald - ausführlicher über die Geschichte berichtet
hatte als die Konkurrenz von der Ostküste. Jazz hatte nun im
Scotsman
-Archiv ein paar Kurzmeldungen über »das Verschwinden des
Edinburghers Richard Diamond« gefunden. Ein grobkörniges Foto war
dabei: Diamond, wie er beim Verlassen eines Gerichtssaals sein
kariertes Sakko zuknöpfte. Sein Haar war schulterlang und bedeckte
die Ohren. Sein Mund stand offen, er hatte große, vorstehende Zähne
und borstige, schmale Augenbrauen. Er wirkte groß und mager, sein
Hals schien von Pickeln übersät zu sein.
»Attraktiver Bursche, was?«, bemerkte
Barclay.
»Erfährt man aus der Zeitung irgendwas Neues?«,
fragte Gray.
»Hier steht, dass O. J. Simpson vorhat, den Mörder
seiner Frau zu finden«, sagte Tam Barclay. Rebus schaute sich die
Titelseite an. Es war ein Foto zu sehen, das den Sportler nach
seinem Freispruch zeigte. Die Zeitung stammte vom 4. Oktober
1995.
»Neue Hoffnung auf Frieden in Nordirland«, las Ward
eine andere Überschrift vor. Er blickte in die Runde. »Wie
ermutigend.«
Jazz nahm eine der Kopien und las vor: »Keine
Fortschritte bei der Suche nach dem Pfarrhaus-Vergewaltiger.«
»Daran erinnere ich mich noch«, meinte Tam Barclay.
»Man hat damals Kollegen aus Falkirk zur Unterstützung
angefordert.«
»Und aus Livingston«, fügte Stu Sutherland
hinzu.
Jazz hielt Rebus die Kopie hin. »Du erinnerst dich
doch sicher, John?«
Rebus nickte. »Ich hab zum Ermittlungsteam gehört.«
Er nahm Jazz das Blatt Papier ab und las.
Der Artikel handelte davon, dass immer noch kein
Fahndungserfolg in Sicht war und die Bemühungen der Polizei langsam
erlahmten. Kollegen von außerhalb wurden zu ihren Revieren
zurückgeschickt. Eine sechs Mann starke Sonderkommission wird
weiterhin die vorhandenen Informationen auswerten und nach neuen
Spuren suchen. Aus den sechs waren
nach einer Weile drei geworden, zu denen Rebus nicht mehr zählte.
In dem Artikel stand nur wenig über das Verbrechen selbst, das
eines der brutalsten seiner Art gewesen war, mit dem Rebus je zu
tun gehabt hatte. Ein Pfarrhaus im Stadtteil Murrayfield - dem
idyllischen Murrayfield mit seinen Villen und Alleen.
Höchstwahrscheinlich war nur ein Einbruch geplant gewesen.
Silberbesteck und andere Wertsachen waren gestohlen worden. Der
Pfarrer hatte Gemeindemitglieder besucht und seine Frau allein zu
Hause gelassen. Früher Abend, es brannte kein Licht. Das war wohl
der Grund, wieso der Mann - laut Aussagen des Opfers ein
Einzeltäter - sich das Pfarrhaus ausgesucht hatte. Es stand direkt
neben der Kirche, verdeckt von einer hohen Mauer, umgeben von
Bäumen, fast eine Welt für sich. Kein brennendes Licht hieß, dass
niemand zu Hause war.
Da das Opfer jedoch blind war, brauchte es kein
Licht. Die Frau hielt sich im ersten Stock im Badezimmer auf.
Klirrend zerbrach eine Glasscheibe. Die Frau ließ sich gerade ein
Bad ein, dachte, sie habe sich vielleicht verhört. Oder es seien
Kinder, eine zerschmissene Glasflasche. Das Ehepaar besaß einen
Hund, aber der Pfarrer hatte ihn mitgenommen, um ihm Auslauf zu
verschaffen.
Sie spürte oben an der Treppe den Luftzug. Neben
der Haustür in der Diele befand sich ein Telefon. Sie wollte nach
unten gehen, stand mit einem Fuß auf der obersten Stufe, hörte das
Knarren des Holzes. Beschloss, lieber das Telefon im Schlafzimmer
zu benutzen. Sie hatte es schon fast erreicht, als er sich auf sie
stürzte, bei den Handgelenken packte und herumwirbelte, sodass sie
aufs Bett fiel. Später glaubte sie sich zu erinnern, dass sie ihn
die Nachttischlampe anknipsen gehört hatte.
»Ich bin blind«, flehte sie. »Bitte, tun Sie mir
nichts.«
Aber er tat es trotzdem und lachte hinterher, ein
Lachen, das sie in den Monaten der Ermittlungen nicht mehr vergaß.
Er lachte, weil sie ihn nicht identifizieren konnte. Erst
nach der Vergewaltigung riss er ihr die Kleider herunter und
schlug sie, als sie schrie, brutal ins Gesicht. Er hinterließ keine
Fingerabdrücke, nur ein paar Fasern und ein einzelnes Schamhaar. Er
fegte das Telefon vom Nachttisch und zertrat es, nahm Bargeld mit,
ein paar Erbstücke aus dem Schmuckkästchen auf dem Schminktisch.
Keiner der gestohlenen Gegenstände tauchte je wieder auf.
Er sagte kein Wort. Sie konnte nur ungenaue Angaben
über seine Körpergröße und sein Gewicht machen und gar keine über
sein Gesicht.
Die Polizisten hatten von Anfang an vermieden, laut
auszusprechen, was sie dachten, sich jedoch nach Kräften bemüht.
Ortsansässige Geschäftsleute hatten fünftausend Pfund Belohnung
ausgesetzt. Das Schamhaar hatte der Polizei einen genetischen
Fingerabdruck geliefert, aber damals gab es noch keine Datenbank
für solche Informationen. Erst mussten sie den Täter haben,
dann konnten sie die Übereinstimmung feststellen.
»War ein übler Fall«, gab Rebus zu.
»Hat man den Schweinehund je geschnappt?«, fragte
Francis Gray.
Rebus nickte. »Vor etwa einem Jahr. Er hat ein
weiteres Mal bei einem Einbruch eine Frau vergewaltigt. In
Brighton.«
»Derselbe genetische Fingerabdruck?«, wollte Jazz
wissen. Rebus nickte.
»Hoffentlich wird er ewig in der Hölle schmoren«,
murmelte Gray.
»Er ist schon dort«, erwiderte Rebus. »Er hieß
Michael Veitch. Wurde während seiner zweiten Woche im Knast
erstochen.« Er zuckte mit den Achseln. »So kann’s gehen.«
»Allerdings«, sagte Jazz. »Manchmal glaube ich,
dass in Gefängnissen öfter der Gerechtigkeit Genüge getan wird als
vor Gericht.«
Rebus war klar, dass er gerade eine Steilvorlage
bekommen
hatte. Stimmt genau… erinnert ihr euch noch an den Gangster,
der in Bar-L erstochen wurde? Hieß er nicht Bernie Johns? Aber
das wäre zu plump. Wenn er das sagte, würden die drei aufmerken,
wären zukünftig auf der Hut. Also hielt er sich zurück, fragte sich
allerdings, ob er eine solche Gelegenheit je nutzen werde.
»Hat jedenfalls bekommen, was er verdient«, meinte
Sutherland.
»Dem Opfer hat’s leider nichts mehr gebracht«,
fügte Rebus hinzu.
»Was soll das heißen, John?«, fragte Jazz.
Rebus hielt das Blatt Papier in die Höhe.
»Wenn du deine Recherchen zeitlich ein bisschen
ausgedehnt hättest, dann wüsstest du, dass sich die Frau umgebracht
hat. Sie hatte sich schon vorher ganz in sich zurückgezogen. Konnte
den Gedanken nicht ertragen, dass der Kerl frei herumlief -«
Wochenlang hatte Rebus im Pfarrhaus-Fall
ermittelt.War den Hinweisen von Informanten gefolgt, die auf die
Belohnung scharf waren. Hinweisen, die zu nichts geführt
hatten.
»Schweinehund«, zischte Gray halblaut.
»Gibt jede Menge Opfer da draußen«, sagte Ward.
»Und wir müssen uns um so einen Widerling wie Rico Lomax
kümmern....«
»Mit vollem Einsatz bei der Arbeit?« Es war
Tennant, der in der Tür stand. »Machen Sie schöne Fortschritte, von
denen Ihr Teamleiter mir dann berichten kann?«
»Wir haben zumindest damit begonnen, Sir«, sagte
Jazz in zuversichtlichem Tonfall, dem der Ausdruck seiner Augen
jedoch widersprach.
»Anscheinend haben Sie sich mit alten
Zeitungsartikeln eingedeckt«, bemerkte Tennant, den Blick auf die
Fotokopien gerichtet.
»Ich hab nach möglichen Zusammenhängen gesucht,
Sir«, erklärte Jazz. »Vielleicht ist zu der Zeit noch jemand
verschwunden
oder eine nicht identifizierbare Leiche aufgetaucht.«
»Und?«
»Nichts, Sir. Allerdings glaube ich herausgefunden
zu haben, wieso DI Rebus gegenüber den Glasgower Kollegen nicht
übermäßig hilfsbereit war.«
Rebus starrte ihn an. Wusste er tatsächlich
Bescheid? Da mühte Rebus sich nun ab, dem Trio auf die Schliche zu
kommen, aber immer wieder geschah etwas, das darauf abzuzielen
schien, ihm das Wasser abzugraben. Zuerst der Fall Lomax und jetzt
die Murrayfield-Vergewaltigung. Denn es gab eine Verbindung
zwischen beiden - und diese Verbindung war Rebus selbst. Nein,
nicht nur Rebus, sondern Rebus und Cafferty, und wenn die Wahrheit
ans Licht kam, würde Rebus’ Karriere zu trudeln aufhören. Weil sie
am Boden zerschellt war.
»Reden Sie weiter«, verlangte Tennant.
»Er war eigentlich mit einem anderen Fall betraut,
und es ging ihm sehr gegen den Strich, diese Arbeit zu
unterbrechen.« Jazz gab Tennant den Artikel über die
Vergewaltigung.
»Ich erinnere mich daran«, sagte Tennant leise.
»Sie haben in der Sache ermittelt?«
Rebus nickte. »Man hat mich von dem Fall abgezogen,
um nach Dickie Diamond zu suchen.«
»Daher Ihr Widerwille.«
»Daher mein angeblicher Widerwille, Sir. Wie
ich schon sagte, ich habe den Glasgower Kollegen so gut geholfen,
wie ich konnte.«
Tennant machte ein nachdenkliches Gesicht. »Und
bringt uns das bezüglich Mr Diamond irgendwie weiter, DI
McCullough?«
»Wahrscheinlich nicht, Sir«, gab Jazz zu.
»Wir sind zu dritt nach Leith gefahren, Sir«,
verkündete Allan Ward. »Haben zwei Personen aus seiner
Bekanntschaft befragt. Wie es scheint, hat Diamond seine feste
Freundin
zumindest bei einer Gelegenheit gemeinsam mit Rico Lomax
beglückt.«
Tennant schaute ihn an. Ward wurde ein wenig
nervös.
»In einem Wohnwagen«, fuhr er fort, während sein
Blick, um Unterstützung heischend, zwischen Rebus und Barclay hin
und her huschte. »John und Tam waren auch dabei.«
Tennant hob die Augenbrauen. »In dem
Wohnwagen?«
Ward lief rot an, als allgemeines Gelächter
erschallte. »In Leith, Sir.«
Tennant wandte sich an Rebus. »Ein nützlicher
Ausflug, DI Rebus?«
»Ich hab schon Angeltouren mit schlechterer
Ausbeute gemacht.«
Tennant überlegte wieder. »Die Wohnwagen-Spur: Ist
die Erfolg versprechend?«
»Schon möglich, Sir«, sagte Tam Barclay, der sich
offenbar übergangen fühlte. »Ich finde, wir sollten ihr
nachgehen.«
Dann wandte Tennant sich an Gray und Sutherland.
»Und Sie zwei haben währenddessen -?«
»Herumtelefoniert«, erklärte Gray ruhig. »Um noch
weitere Bekannte von Dickie Diamond ausfindig zu machen.«
»Aber Sie hatten trotzdem genug Zeit, ein bisschen
spazieren zu gehen, was, Francis?«
Gray wusste natürlich, worauf er anspielte, hielt
es aber für ratsam zu schweigen.
»DCS Templer hat mir berichtet, dass Sie Ihre Nase
in ihre Ermittlungen gesteckt haben.«
»Ja, Sir.«
»Sie war darüber nicht besonders glücklich.«
»Und hat sich bei Ihnen ausgeheult?«, entgegnete
Ward gehässsig.
»Nein, DC Ward. Sie hat es mir gegenüber in
angemessener Form erwähnt, mehr nicht.«
»Es gibt uns, und es gibt die
anderen«, fuhr Ward fort, und sein Blick wanderte dabei über
The Wild Bunch. Rebus
wusste, was er meinte: Von einem Team konnte bei ihnen kaum die
Rede sein, vielmehr herrschte eine Art Wagenburg-Mentalität.
Es gibt uns, und es gibt die anderen.
Rebus sah das jedoch nicht so. Er fühlte sich
innerlich isoliert; denn er war ein Maulwurf, eingeschleust, um
andere zur Strecke zu bringen. Doch jetzt arbeitete er an einem
Fall, dessen Aufklärung sein persönliches Ende wäre.
»Lassen Sie sich das eine Warnung sein«, sagte
Tennant gerade zu Gray.
»Sie verbieten uns also, mit den Kollegen Kontakt
aufzunehmen?«, fragte Gray. »Sind wir so eine Art
Leprakolonie?«
»Wir sind nur dank DCS Templers Großzügigkeit hier.
Wir befinden uns auf ihrer Wache. Und wenn Sie diesen
Lehrgang erfolgreich absolvieren wollen...«, er legte eine Pause
ein, damit ihm bei seinen nächsten Worten die Aufmerksamkeit gewiss
war, »... dann tun Sie genau das, was man Ihnen befiehlt.
Verstanden?«
Er erntete halblaut gemurmelte, missmutige
Zustimmung.
»Gehen Sie jetzt wieder an die Arbeit«, sagte
Tennant mit einem Blick auf seine Uhr. »Ich fahre zurück nach
Tulliallan, und erwarte, Sie alle dort heute Abend zu sehen.
Vergessen Sie trotz der großstädtischen Verlockungen nicht, dass
Sie lediglich Urlaub auf Ehrenwort haben.«
Als er verschwunden war, starrten sie eine Weile
ins Leere und überlegten, was sie nun tun sollten.Ward ergriff als
Erster das Wort.
»Der Typ hätte echt Stricher werden sollen.«
Barclay runzelte die Stirn. »Wie meinst du das,
Allan?«
Ward sah ihn an. »Sei ehrlich, Tam: Wann hast du
zuletzt ein derart großes Arschloch gesehen?«
Das Gelächter minderte ein wenig die Anspannung.
Rebus war jedoch nicht danach zumute, mit einzustimmen. Er stellte
sich eine blinde Frau vor, die plötzlich von einem Fremden an den
Handgelenken gepackt wurde. Er dachte
an ihr Entsetzen. Eine Frage hatte ihn damals beschäftigt, die er
dann einem Psychologen stellte: »Ist es für eine blinde Frau
schlimmer als für eine, die sehen kann?«
Der Psychologe hatte nur ratlos den Kopf
geschüttelt. Rebus war nach Hause gegangen und hatte sich eine
Augenbinde umgebunden. Ganze zwanzig Minuten hatte er es
ausgehalten, dann hatte er sich mit blauen Flecken an den
Schienbeinen in einen Sessel fallen lassen und sich in den Schlaf
geweint.
Jetzt stand er auf, um auszutreten. Gray schärfte
ihm ein, den echten Polizisten dabei nicht zu nahe zu
kommen. Als Rebus die Toilette betrat, schüttelte Derek Linford
gerade Wasser von seinen Händen.
»Keine Handtücher«, erklärte Linford. Er
betrachtete sich im Spiegel über dem Waschbecken.
»Ich hab gehört, Sie sind der Ersatz für mich«,
sagte Rebus, während er auf das Urinal zuging.
»Ich glaube, wir beide haben nichts miteinander zu
bereden.«
»In Ordnung.« Das Schweigen dauerte nur kurz.
»Ich habe gleich ein Verhör«, konnte Linford sich
nicht verkneifen zu bemerken. Er schob ein loses Haar hinter sein
Ohr.
»Lassen Sie sich von mir nicht aufhalten«, meinte
Rebus. Als er sich ans Urinal stellte, glaubte er, Linfords
bohrende Blicke in seinem Rücken zu spüren. Dann wurde die Tür
erneut aufgestoßen. Es war Jazz. Er wollte sich Linford vorstellen,
wurde aber unterbrochen.
»Tut mir Leid, aber es wartet ein Verdächtiger auf
mich.« Als Rebus seinen Reißverschluss wieder geschlossen hatte,
war Linford schon verschwunden.
»Hab ich was Falsches gesagt?«, erkundigte sich
Jazz.
»Linford widmet sich nur solchen Leuten, bei denen
es lohnt, ihnen in den Arsch zu kriechen.«
»Karriereopportunist«, sagte Jazz mit beifälligem
Nicken. Er ging zum Waschbecken und ließ sich kaltes Wasser über
die Hände laufen. »Wie hieß noch gleich dieser Song von The
Clash?«
»›Career Opportunities‹.«
»Genau. Ich hatte immer das Gefühl, dass es sich
für jemand wie mich nicht gehört, The Clash zu mögen: zu alt und
unpolitisch.«
»Ich weiß, was du meinst.«
»Aber eine gute Band ist eine gute Band.«
Rebus beobachtete, wie Jazz sich nach irgendetwas
zum Abtrocknen umschaute. »Sparmaßnahmen«, erklärte Rebus. Jazz
seufzte und holte sein Taschentuch heraus.
»Neulich, da sind wir doch deiner… deiner Freundin
über den Weg gelaufen.« Er wartete, bis Rebus nickte. »Ist zwischen
euch wieder alles im Lot?«
»Nicht direkt.«
»Das wird einem beim Einstellungsgespräch
verschwiegen. Dass die Arbeit als Bulle das Liebesleben
ruiniert.«
»Du bist immerhin noch verheiratet.«
Jazz nickte. »Aber leicht ist es nicht.« Er schwieg
einen Moment. »Diese Vergewaltigung, die ist dir wohl ziemlich nahe
gegangen, was? Ich hab’s deinem Blick angesehen. Beim Lesen des
Artikels warst du wieder mittendrin in den Ermittlungen.«
»Eine Menge Fälle haben mir im Lauf der Jahre zu
schaffen gemacht, Jazz.«
»Warum lässt du das zu?«
»Keine Ahnung.« Rebus verstummte. »Vielleicht war
ich früher mal ein guter Polizist.«
»Gute Polizisten ziehen Grenzen, John.«
»Tust du das denn?«
Jazz antwortete nicht sofort. »Letzten Endes ist es
bloß meine Arbeit. Lohnt nicht, deswegen nachts wach zu liegen, von
anderem ganz zu schweigen.«
Rebus sah seine Chance. »Ich bin zum selben Schluss
gelangt... vielleicht zu spät; bald werde ich pensioniert.«
»Was meinst du damit?«
»Dass mich nichts weiter erwartet als eine lausige
Rente. Dieser Beruf hat mich meine Frau gekostet, meine Tochter,
die meisten meiner Freunde.«
»Das ist ziemlich bitter.«
Rebus nickte. »Und was hat er mir
eingebracht?«
»Abgesehen von dem Alkoholproblem und dem Ärger mit
Vorgesetzten?«
Rebus lächelte. »Ja, abgesehen davon.«
»Keine Ahnung, John.«
Rebus schwieg eine Weile, dann stellte er die
Frage, die er sich zurechtgelegt hatte.
»Hast du je die Grenze überschritten, Jazz? Ich
meine damit nicht die Kleinigkeiten, die verbotenen Abkürzungen,
die wir manchmal nehmen... ich meine etwas Schwerwiegendes, etwas,
mit dem du erst mal klarkommen musstest?«
Jazz starrte ihn an. »Wieso? Hast du so etwas
getan?«
Rebus wedelte mit dem Zeigefinger. »Ich hab zuerst
gefragt.«
Jazz wurde nachdenklich. »Vielleicht«, sagte er.
»Ein einziges Mal.«
Rebus nickte. »Hast du dir je gewünscht, es
ungeschehen machen zu können?«
»John...«, Jazz unterbrach sich. »Reden wir hier
über mich oder über dich?«
»Über uns beide, glaube ich.«
Jazz trat einen kleinen Schritt näher. »Du weißt
etwas über Dickie Diamond, stimmt’s? Vielleicht sogar über den Mord
an Rico...«
»Vielleicht«, gab Rebus zu. »Und was ist
dein großes Geheimnis, Jazz? Handelt es sich um etwas, das
wir zusammen in Ordnung bringen können?« Rebus flüsterte jetzt
verschwörerisch, um seinem Gegenüber ein Geständnis zu
entlocken.
»Wir kennen uns doch kaum«, meinte Jazz.
»Ich finde, wir kennen uns gut genug.«
»Ich...« Jazz schluckte. »Du bist noch nicht so
weit«, sagte er, begleitet von einer Art Seufzer.
»Ich bin noch nicht so weit? Und was ist mit
dir, Jazz?«
»John... Ich weiß nicht, was du vorhast.«
»Ich habe eine Idee, einen Plan, wie ich mir den
Lebensabend versüßen könnte. Allerdings brauche ich dazu Hilfe -
Hilfe von vertrauenswürdigen Leuten.«
»Reden wir hier von einer illegalen Sache?«
Rebus nickte. »Du müsstest erneut die Grenze
überschreiten.«
»Wie riskant ist es?«
»Nicht besonders.« Rebus überlegte. »Höchstens
mittelriskant.«
Jazz wollte gerade etwas sagen, als die Tür aufflog
und George Silvers hereingeschlendert kam.
»Tag die Herren«, sagte er.
Weder Rebus noch Jazz erwiderten den Gruß, denn
beide starrten sich unverwandt an.
Dann beugte sich Jazz zu Rebus. »Rede mit Francis«,
flüsterte er. Und ging hinaus.
Silvers war in einer der Kabinen verschwunden, kam
jedoch Sekunden später schon wieder heraus. »Kein Klopapier«,
maulte er. Plötzlich blieb er stehen. »Was grinsen Sie so?«
»Ich mache Fortschritte«, erwiderte Rebus.
»Dann scheint’s bei Ihnen ja besser zu laufen als
bei uns«, murmelte Silvers, marschierte in die nächste Kabine und
knallte die Tür zu.