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»Und warum sind Sie dann hier?«
»Kommt drauf an, was Sie damit meinen«, sagte
Rebus.
»Womit?« Die Frau mit der Brille runzelte die
Stirn.
»Was Sie mit ›hier‹ meinen«, erklärte er. »Hier in
diesem Zimmer? An diesem Punkt meiner Laufbahn, auf diesem
Planeten?«
Sie lächelte. Ihr Name war Andrea Thomson. Sie war
keine Ärztin - das hatte sie bei ihrem ersten Treffen klargestellt.
Und auch keine »Therapeutin« oder »Psychotante«. Auf Rebus’
Stundenplan hatte »Karriereberatung« gestanden.
14.30-15.15: Karriereberatung, Zi.
3.16.
Bei Ms Thomson. Die sich ihm gleich als
Andrea vorgestellt hatte. Das war gestern gewesen, Dienstag. Eine
»Kennenlernsitzung« hatte sie es da genannt.
Sie war Ende dreißig, klein, mit breiten Hüften.
Blonder Wuschelkopf mit ein paar dunklen Strähnen. Die Zähne ein
bisschen zu groß. Sie war selbstständig, arbeitete nur stundenweise
für die Polizei.
»Tun wir das nicht auch?«, hatte Rebus gefragt. Sie
sah ihn ein wenig verwirrt an. »Ich meine, arbeiten wir nicht auch
nur stundenweise... darum sind wir doch hier, oder?« Er wies auf
die geschlossene Tür. »Wir legen uns nicht genug ins Zeug. Brauchen
einen Klaps auf die Finger.«
»Ist es tatsächlich das, was Sie brauchen,
Detective Inspector?«
Er drohte ihr mit dem Finger: »Wenn Sie mich weiter
so nennen, sage ich zu Ihnen ›Frau Doktor‹.«
»Ich bin keine Ärztin«, erwiderte sie. »Und auch
keine Therapeutin oder Psychotante oder wie Sie mich insgeheim auch
nennen mögen.«
»Was dann?«
»Ich mache Karriereberatung.«
Rebus schnaubte: »Dann sollten Sie sich lieber
anschnallen.«
Sie sah ihn mit großen Augen an. »Wieso, wird’s
jetzt gefährlich?«
»Könnte man sagen - immerhin ist meine
Karriere, wie Sie das nennen, ziemlich ins Trudeln
geraten.«
So viel zu gestern.
Heute sollte er über seine Gefühle sprechen. Wie
war es für ihn, Polizist zu sein?
»Prima.«
»Inwiefern?«
»Insofern, als ich’s gerne bin«, sagte er
lächelnd.
Sie lächelte zurück. »Ich meinte...«
»Ich weiß, was Sie gemeint haben.« Er sah sich im
Zimmer um. Es war klein und zweckmäßig eingerichtet. Zwei
Stahlrohrstühle mit hellgrün bezogener Sitzfläche standen sich an
einem Tisch mit Teakholzfurnier gegenüber. Auf dem Tisch lag nichts
weiter als ihr linierter DIN-A4-Block und ein Stift. In einer Ecke
stand eine Tasche, die schwer aussah; Rebus fragte sich, ob seine
Akte darin war. An der Wand hing eine Uhr, darunter ein Kalender
von der örtlichen Feuerwehr. Vor dem Fenster eine
Tüllgardine.
Es war nicht ihr Büro, sondern ein Zimmer, das sie
benutzen konnte, wenn ihre Dienste in Anspruch genommen
wurden.
»Mir gefällt mein Beruf«, sagte er schließlich und
verschränkte die Arme. Dann fiel ihm ein, dass sie diese Geste
irgendwie interpretieren könnte - beispielsweise als Abwehrhaltung
- und löste sie wieder voneinander. Ihm fiel nichts Besseres ein,
als die Hände zu Fäusten geballt in seine
Jackentaschen zu schieben. »Mir gefällt alles daran, bis hin zu
dem Ärger, wenn wieder mal keine Klammern im Hefter sind.«
»Warum sind Sie dann gegenüber Detective Chief
Superintendent Templer ausgerastet?«
»Keine Ahnung.«
»Sie glaubt, dass womöglich beruflicher Neid eine
Rolle gespielt hat.«
Er lachte. »Hat sie das gesagt?«
»Sind Sie anderer Meinung?«
»Natürlich.«
»Sie kennen sie schon ein paar Jahre,
stimmt’s?«
»Seit einer halben Ewigkeit.«
»Und sie hatte immer einen höheren Rang
inne?«
»Das hat mich nie gestört, falls Sie darauf
hinauswollen.«
»Ihre direkte Vorgesetzte ist sie aber erst seit
kurzem.«
»Und?«
»Sie sind schon eine Weile DI. Hatten Sie nicht
vor, sich zu verbessern?« Sie bemerkte seinen Blick. »›Verbessern‹
ist vielleicht der falsche Ausdruck. Wollen Sie denn nicht
befördert werden?«
»Nein.«
»Wieso nicht?«
»Vielleicht habe ich Angst vor der
Verantwortung.«
Sie schaute ihm direkt in die Augen. »Das kam mir
etwas zu prompt.«
»›Allzeit bereit‹ lautet mein Motto.«
»Oh, Sie waren bei den Pfadfindern?«
»Nein«, antwortete er. Sie schwieg, nahm ihren
Stift in die Hand und betrachtete ihn. Es war ein billiger, gelber
Kugelschreiber. »Hören Sie«, sagte er, um das Schweigen zu brechen,
»ich habe keinen Streit mit Gill Templer. Ich wünsche ihr viel
Glück als DCS. Das wäre kein Job für mich. Ich bin mit meiner
Situation ganz zufrieden.« Er schaute hoch. »Im Moment zwar nicht
so, aber immer dann, wenn ich draußen
unterwegs bin und Verbrechen aufkläre. Der Grund, warum ich die
Kontrolle verloren habe, war... nun ja, die Art und Weise, wie die
Ermittlungen geführt wurden.«
»Das ist Ihnen doch bestimmt auch früher schon so
gegangen, oder?« Sie hatte ihre Brille abgenommen und rieb sich die
roten Flecken auf ihrem Nasenrücken.
»Häufig«, gab er zu.
Sie setzte die Brille wieder auf. »Aber es war das
erste Mal, dass Sie mit einem Becher geworfen haben?«
»Ich hab nicht auf Gill Templer gezielt.«
»Sie musste sich ducken. Und der Becher war
voll.«
»Schon mal den Tee bei der Polizei probiert?«
Sie lächelte wieder. »Sie haben also keinerlei
Probleme?«
»So ist es.« Er verschränkte die Arme in der
Hoffnung, dadurch selbstsicher zu wirken.
»Und warum sind Sie dann hier?«
Nach Ende der Sitzung ging Rebus schnurstracks in
die Männertoilette, wo er sich Wasser ins Gesicht spritzte und es
anschließend mit einem Papierhandtuch abtrocknete. Er betrachtete
sich im Spiegel, wie er eine Zigarette aus der Schachtel nahm, sie
anzündete und den Rauch an die Decke blies.
In einer der Kabinen wurde die Spülung betätigt und
dann die Tür entriegelt. Jazz McCullough kam heraus.
»Hab mir schon gedacht, dass du das bist«, sagte
er, als er den Wasserhahn aufdrehte.
»Wieso?«
»Tiefes Seufzen und dann eine Zigarette anzünden.
Typisch für jemand, der gerade bei der Psychotante war.«
»Sie ist keine Psychotante.«
»Wenn man bedenkt, wie klein sie ist, trifft
Psychozwerg wohl eher zu.« McCullough nahm sich ein Handtuch, warf
es nach Benutzung in den Mülleimer. Rückte seinen Schlips zurecht.
Eigentlich hieß er James, aber niemand nannte ihn
so. Entweder Jamesy oder, noch häufiger, Jazz. Groß gewachsen,
Mitte vierzig, kurzes schwarzes Haar mit leicht angegrauten
Schläfen. Er war sehr schlank. Klopfte sich jetzt gegen den Bauch,
wie um das Fehlen einer Wampe zu betonen. Rebus hatte Mühe, seinen
eigenen Gürtel zu sehen, selbst im Spiegel.
Jazz war Nichtraucher. Familienvater aus Broughty
Ferry. Kannte kaum ein anderes Gesprächsthema als seine Frau und
die beiden Söhne. Er musterte sich im Spiegel und schob ein
abstehendes Haar hinters Ohr.
»Was zum Teufel tun wir hier eigentlich?«
»Andrea hat mich eben genau dasselbe
gefragt.«
»Weil sie genau weiß, dass sie mit uns nur ihre
Zeit verschwendet. Aber immerhin verdient sie mit uns Geld.«
»Dann sind wir ja wenigstens zu irgendetwas
nütze.«
Jazz sah ihn an. »Alter Schwerenöter! Du bist in
sie verknallt!«
Rebus zuckte zusammen. »Red keinen Unsinn. Ich hab
bloß gemeint…« Aber es war zwecklos. Jazz lachte und schlug Rebus
auf die Schulter.
»Auf ins Kampfgetümmel«, sagte er und öffnete die
Tür. »Fünfzehn Uhr dreißig, ›Verhalten gegenüber der
Öffentlichkeit‹.«
Es war ihr dritter Tag in Tulliallan, dem Scottish
Police College. Es diente vor allem dazu, Berufsanfänger
auszubilden, ehe man sie auf die Leute losließ. Aber es gab auch
andere Polizisten dort, ältere, weisere. Sie belegten Kurse, um
ihre Kenntnisse aufzufrischen oder sich fortzubilden.
Und dann gab es noch den »Errettungstrupp«.
Das College befand sich in unmittelbarer
Nachbarschaft von Tulliallan Castle und setzte sich aus einem im
neunzehnten Jahrhundert errichteten Herrenhaus und mehreren
modernen Anbauten zusammen. Dieser Gebäudekomplex stand inmitten
eines baumreichen Parks am Rande des Ortes
Kinkardine, der an der nördlichen Küste des Firth of Forth gelegen
war, etwa gleich weit von Glasgow und Edinburgh entfernt. Äußerlich
glich das Ganze einem Universitätscampus, und in gewisser Hinsicht
war das auch seine Funktion. Man wurde hergeschickt, um etwas zu
lernen.
Oder, im Falle von Rebus, als Bestrafung.
Es hielten sich bereits vier Männer im Seminarraum
auf, als Rebus und McCullough ihn betraten. »The Wild Bunch«, hatte
DI Francis Gray sie bei ihrem ersten Zusammentreffen genannt. Ein
paar Gesichter waren Rebus bekannt - DS Stu Sutherland aus
Livingston; DI Tam Barclay aus Falkirk. Gray selbst stammte aus
Glasgow, Jazz arbeitete in Dundee, und das letzte Mitglied der
Gruppe, DC Allan Ward, gehörte der Polizei von Dumfries an. »Eine
Völkerversammlung«, um Grays Worte zu benutzen. Aber in Rebus’
Augen benahmen sie sich eher wie Sprecher ihres jeweiligen Stammes,
die zwar dieselbe Sprache benutzten, aber einen unterschiedlichen
Hintergrund hatten. Sie misstrauten einander. Vor allem, wenn einer
aus derselben Region stammte. Rebus und Sutherland gehörten beide
zur Lothian and Borders Police, aber die Livingstoner waren Teil
der F-Division, die man in Edinburgh nur »F Troop« nannte.
Sutherland, der immer gehetzt wirkte, schien geradezu darauf zu
warten, dass Rebus eine Bemerkung zu den anderen machen würde, und
zwar eine abfällige.
Die sechs Männer hatten nur eines gemeinsam: Sie
waren in Tulliallan, weil sie alle in irgendeiner Weise gegen ihre
Pflicht verstoßen hatten. Meist handelte es sich um ihr Verhalten
gegenüber Vorgesetzten. Während der letzten beiden Tage hatten sie
den größten Teil ihrer Freizeit damit verbracht, Kriegserlebnisse
auszutauschen. Rebus’ Geschichte war harmloser als die meisten.
Hätte ein junger Kriminalpolizist, der bis vor kurzem bei den
Uniformierten gewesen war, sich das geleistet, was sie sich
geleistet hatten, hätte man ihm wahrscheinlich nicht den
Tulliallan-Rettungsring
zugeworfen. Aber diese Männer waren alte Kämpen - im Schnitt schon
zwanzig Jahre bei der Polizei - und näherten sich langsam dem
Zeitpunkt, zu dem sie mit vollen Bezügen in Pension gehen konnten.
Tulliallan, der Ort der Buße und Errettung.
Kaum saßen Rebus und McCullough, trat ein
uniformierter Kriminalpolizist herein und marschierte schnurstracks
zu seinem Stuhl am Kopfende des ovalen Tischs. Er war Mitte fünfzig
und hatte die Aufgabe, sie an ihre Verpflichtungen gegenüber der
Öffentlichkeit im Allgemeinen zu erinnern - die Aufgabe also, ihnen
gutes Benehmen beizubringen.
Fünf Minuten nach Beginn des Vortrags verschwamm
Rebus’ Blick, und seine Gedanken schweiften ab. Er war wieder beim
Fall Marber.
Edward Marber war ein Edinburgher Kunst- und
Antiquitätenhändler gewesen. Vergangenheitsform, denn Marber war
tot, vor seinem Haus von einem oder mehreren unbekannten Tätern
erschlagen worden. Die Waffe hatte man noch nicht gefunden. Ein
Ziegel oder ein schwerer Stein vermutete Professor Gates, der
städtische Pathologe, der zum Tatort gerufen worden war, um den
Totenschein auszustellen. Gehirnblutung, ausgelöst durch den
Schlag. Marber war auf den Stufen vor seinem Haus in Duddingston
Village gestorben, die Hausschlüssel in der Hand. Er war mit dem
Taxi von der abendlichen Vernissage seiner jüngsten Ausstellung
gekommen: Neue Schottische Koloristen. Marber besaß zwei kleine,
exklusive Galerien in der New Town und zusätzlich Antiquitätenläden
in der Dundas Street, in Glasgow und in Perth. Wieso Perth, hatte
Rebus jemanden gefragt, statt im ölreichen Aberdeen.
»Weil die reichen Leute zum Ausspannen nach
Perthshire fahren.«
Man hatte den Taxifahrer befragt. Marber selbst
besaß kein Auto. Sein Haus befand sich am Ende einer achtzig
Meter langen Auffahrt, und das Eingangstor war offen gewesen. Kurz
bevor das Taxi vor der Tür angehalten hatte, war eine Halogenlampe
neben der Treppe angegangen. Marber hatte bezahlt,Trinkgeld gegeben
und sich eine Quittung aushändigen lassen. Anschließend war der
Taxifahrer weggefahren, ohne noch einmal in den Rückspiegel zu
schauen.
»Ich hab nichts gesehen«, sagte er später der
Polizei.
Die Taxiquittung hatte in Marbers Tasche gesteckt,
zusammen mit einer Liste der Vernissageverkäufe, die sich insgesamt
auf etwas über sechzehntausend Pfund summierten. Sein Anteil wäre,
wie Rebus erfahren hatte, zwanzig Prozent gewesen, also rund
dreitausendzweihundert Pfund. Keine schlechte Tageseinnahme.
Die Leiche war erst am nächsten Morgen vom
Briefträger gefunden worden. Professor Gates hatte gemeint, der Tod
sei zwischen neun und elf am Abend zuvor eingetreten. Der
Taxifahrer hatte Marber um halb neun in dessen Galerie abgeholt. Er
musste ihn also gegen Viertel vor neun zu Hause abgesetzt haben,
eine Zeitangabe, die der Fahrer achselzuckend bestätigte.
Es sah alles nach einem Raubüberfall aus, aber
schon bald tauchten Fragen und lästige Ungereimtheiten auf. Würde
man jemand erschlagen, wenn ein Taxi in Sichtweite und der Ort des
Geschehens hell erleuchtet ist? Das erschien unwahrscheinlich.
Allerdings hätte sich Marber zu dem Zeitpunkt, als das Taxi von der
Auffahrt auf die Straße einbog, längst im Haus befinden müssen.
Marbers Taschen waren zwar nach außen gekehrt und sein Bargeld
sowie die Kreditkarten verschwunden, der Täter hatte die Schlüssel
jedoch gelassen, wo sie waren, statt mit ihnen die Tür
aufzuschließen und im Haus auf Beutezug zu gehen. Vielleicht war er
durch etwas vertrieben worden, trotzdem ergab es keinen Sinn.
Raubüberfälle ereigneten sich in der Regel spontan.
Man wurde auf der Straße angegriffen, beispielsweise wenn man
gerade am Geldautomaten gewesen war. Die Leute, die so
etwas taten, warteten nicht, bis man heimkam. Marbers Haus stand
relativ abgeschieden: Duddingston Village war eine reiche Enklave
am Stadtrand von Edinburgh, schon ein wenig ländlich, in
Nachbarschaft zum massigen Umriss von Arthur’s Seat. Die Häuser in
diesem Viertel waren hinter Mauern verborgen, die Straßen ruhig und
sicher. Hätte sich jemand Marbers Haus zu Fuß genähert, würde er
den Bewegungsmelder der Halogenlampe ausgelöst haben. Er hätte sich
daraufhin verstecken müssen - vielleicht in den Büschen oder hinter
einem der Bäume. Nach ein paar Minuten hätte die Zeitschaltuhr der
Lampe das Licht verlöschen lassen. Aber jede weitere Bewegung wäre
vom Sensor registriert worden.
Die Spurensicherung hatte nach möglichen Verstecken
gesucht und auch mehrere gefunden. Aber es gab keine Hinweise auf
einen möglichen Täter, keine Fußabdrücke oder Textilfasern.
Ein anderes Szenario, das von DCS Gill Templer ins
Spiel gebracht wurde:
»Nehmen wir mal an, der Angreifer war bereits im
Haus. Er hörte, wie die Tür aufgeschlossen wurde, und rannte hin.
Schlug dem Opfer auf den Kopf und floh.«
Aber das Haus war Hightech-gesichert: eine
Alarmanlage und überall Sensoren. Es gab keine Spuren eines
Einbruchs, keinen Hinweis darauf, dass etwas fehlte. Marbers beste
Freundin, eine Kunsthändlerin namens Cynthia Bessant, inspizierte
das Haus und erklärte danach, ihr sei nicht aufgefallen, dass etwas
fehle. Allerdings seien die meisten Gemälde der privaten Sammlung
des Verstorbenen abgehängt worden und lehnten, sorgfältig in
Polsterfolie verpackt, an der Esszimmerwand. Eine Erklärung dafür
hatte Bessant nicht.
»Vielleicht wollte er sie neu rahmen lassen oder
sie woanders aufhängen. Man ist es irgendwann leid, immer dieselben
Bilder an der Wand zu sehen...«
Sie inspizierte jeden Raum, wobei sie Marbers
Schlafzimmer
besondere Aufmerksamkeit schenkte, da sie es noch nie betreten
hatte. Sie nannte es sein »Allerheiligstes«.
Das Opfer war nie verheiratet gewesen, und die
ermittelnden Beamten vermuteten, dass er schwul gewesen sei.
»Eddies Sexualität«, sagte Cynthia Bessant, »kann
in diesem Zusammenhang unmöglich von Bedeutung sein.«
Aber das würden die Ermittlungen ergeben.
Rebus hatte das Gefühl, von den eigentlichen
Nachforschungen ausgeschlossen zu sein, denn er telefonierte
hauptsächlich herum. Anrufe bei Freunden und Geschäftspartnern.
Jedes Mal dieselben Fragen, auf die zumeist identische Antworten
folgten. Die in Polsterfolie eingewickelten Bilder wurden auf
Fingerabdrücke untersucht, und es stellte sich heraus, dass Marber
sie persönlich verpackt hatte. Nach wie vor wusste jedoch niemand -
weder seine Sekretärin noch seine Freunde - eine Erklärung
dafür.
Dann, am Ende eines Briefings, nahm Rebus einen
Becher Tee - milchig-grauer Tee, der jemand anderem gehörte - und
warf ihn ungefähr in Richtung Gill Templer.
Der Beginn des Briefings war eigentlich wie immer.
Rebus hatte mit seinem morgendlichen Milchkaffee drei Aspirin
hinuntergespült. Der Kaffee befand sich in einem Pappbecher, der
aus einem Laden am Rand des Meadows-Parks stammte. Normalerweise
der erste und letzte anständige Kaffee eines Arbeitstages.
»Bisschen viel getrunken gestern Abend?«, hatte DS
Siobhan Clarke gesagt und ihn gemustert: derselbe Anzug, dasselbe
Hemd und dieselbe Krawatte wie am Tag zuvor.Wahrscheinlich fragte
sie sich, ob er sich die Mühe gemacht hatte, in der Zwischenzeit
eines seiner Kleidungsstücke auszuziehen. Die morgendliche Rasur
hatte sich auf ein nachlässiges Geschabe mit dem Elektrorasierer
beschränkt. Das Haar musste gewaschen und geschnitten werden.
Sie hatte genau das gesehen, was Rebus sie sehen
lassen wollte.
»Auch Ihnen einen schönen guten Morgen, Siobhan«,
murmelte er wie zu sich selbst und zerknüllte den leeren
Becher.
Meistens stand er bei den Briefings ziemlich weit
hinten im Raum, aber heute befand er sich weiter vorn. Saß an einem
Tisch, rieb sich über die Stirn und lockerte die Schultern, während
Gill Templer die aktuellen Einsatzbefehle verkündete.
Noch mehr Haustürbefragungen, noch mehr
Telefonate.
Er hielt inzwischen den Becher in der Hand, von dem
er nicht wusste, wem er gehörte. Die Glasur fühlte sich kalt an -
gut möglich, dass er seit gestern dort gestanden hatte. Im Raum war
es stickig und roch nach Schweiß.
»Noch mehr dämliche Telefonate«, hörte er sich
sagen, laut genug, dass es verstanden wurde. Templer sah
hoch.
»Möchten Sie etwas sagen, John?«
»Nein, nein... nichts.«
Sie richtete sich kerzengerade auf. »Also, wenn Sie
etwas beitragen wollen - vielleicht eine Ihrer berühmten
Schlussfolgerungen -, dann bin ich ganz Ohr.«
»Bei allem Respekt, Madam, Sie sind nicht ganz Ohr
- Sie reden bloß.« Atemlose Stille und Blicke, die auf ihn
gerichtet waren. Rebus erhob sich langsam.
»Wir kommen kein Stück voran.« Er sprach mit lauter
Stimme. »Es gibt niemanden, mit dem wir noch sprechen könnten oder
der uns was Lohnendes zu erzählen hätte!«
Gill Templers Wangen färbten sich rot. Das Stück
Papier, das sie in Händen hielt - die Aufgabenverteilung für diesen
Tag -, hatte sie zu einer Röhre zusammengerollt, die ihre Finger
jeden Moment zu zerknüllen drohten.
»Ich bin mir sicher, dass wir von Ihnen alle
noch etwas lernen können, DI Rebus.« Keine Rede mehr von »John«.
Sie hob die Stimme. Ihr Blick wanderte durch den Raum: dreizehn
Polizisten, nicht ganz die volle Mannschaftsstärke.Templer stand
unter Druck, hauptsächlich finanzieller Natur. Jeder Ermittlung war
ein Etikett mit einer Summe angeheftet, die
nicht überschritten werden durfte. Und dann waren da die
Untergebenen, die krank waren, Ferien hatten oder zu spät kamen.
»Möchten Sie vielleicht hier heraufkommen?«, fragte sie. »Damit wir
alle das Vergnügen haben, von Ihnen zu erfahren, wie wir im
Einzelnen vorgehen sollten.« Sie streckte den Arm aus, so als
wollte sie ihn einem Publikum vorstellen. »Meine Damen und
Herren...«
Das war der Augenblick, in dem er den Becher warf.
Er segelte träge in einem Bogen durch die Luft, drehte sich dabei
mehrmals und verteilte kalten Tee. Templer duckte sich instinktiv,
obwohl der Becher sowieso über ihren Kopf hinweggeflogen wäre. Er
knallte dicht über dem Boden gegen die Wand, prallte ab, ohne
jedoch zu zerbrechen. Schweigend standen alle auf, um ihre Kleidung
auf Spritzer zu überprüfen.
Rebus setzte sich hin und drückte mit einem Finger
mehrmals gegen die Tischplatte, so als suche er nach der
Rückspultaste seines Lebens.
»DI Rebus?« Der Uniformierte sprach mit ihm.
»Ja, Sir?«
»Freut mich, dass Sie sich dazu durchgerungen
haben, bei uns mitzumachen.« Rings um den Tisch lächelnde
Gesichter. Wie viel hatte er verpasst? Er wagte es nicht, auf die
Uhr zu schauen.
»Tut mir wirklich Leid, Sir.«
»Ich hatte Sie gefragt, ob Sie unsere Person aus
der Bevölkerung sein wollen.« Er nickte dem am entgegengesetzten
Ende des Tisches sitzenden Rebus zu. »DI Gray wird den Polizisten
spielen. Und Sie, DI Rebus, kommen auf die Wache, um etwas zu
melden, das sich als der entscheidende Hinweis in einem
Kriminalfall erweisen könnte.« Der Dozent legte eine Pause ein.
»Oder Sie könnten ein Spinner sein.« Einige Männer lachten. Francis
Gray grinste Rebus an und nickte ihm aufmunternd zu.
»Von mir aus kann’s losgehen, DI Gray.«
Gray beugte sich über den Tisch nach vorn. »Also,
Frau Bohnenstroh, Sie sagen, Sie haben in jener Nacht etwas
gesehen?«
Diesmal war das Lachen lauter. Der Dozent brachte
die Männer mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Wir wollen doch
bitte ernst bleiben.«
Gray nickte und schaute wieder zu Rebus. »Sie haben
wirklich etwas gesehen?«
»Ja«, verkündete Rebus in bewusst rauem Tonfall.
»Hab alles gesehen, Herr Wachtmeister.«
»Obwohl Sie bekanntermaßen seit elf Jahren blind
sind?«
Lachsalven hallten durch den Raum. Der Dozent
klopfte auf den Tisch, um die Männer zur Ordnung zu rufen. Gray
lehnte sich zurück, stimmte in das Lachen mit ein und zwinkerte
Rebus zu, dessen Schultern zuckten.
Francis Gray wehrte sich standhaft gegen seine
Errettung.
»Ich hätte mich fast bepisst«, sagte Tam Barclay,
als er das Tablett mit den Gläsern auf den Tisch stellte. Sie
befanden sich in dem größeren der beiden Pubs in Kincardine. Der
Lehrgang war für heute beendet. Die sechs bildeten einen engen
Kreis. Rebus, Francis Gray, Jazz McCullough sowie Tam Barclay, Stu
Sutherland und Allan Ward. Der vierunddreißigjährige Ward war der
Jüngste der Gruppe und hatte den niedrigsten Dienstgrad. Er wirkte
taff und verwöhnt. Vielleicht lag es daran, dass er im Südwesten
arbeitete.
Fünf Biere, ein Cola: McCullough würde anschließend
nach Hause fahren, denn er wollte Frau und Kinder besuchen.
»Ich tu, was ich kann, um meinen aus dem Weg
zu gehen«, hatte Gray gesagt.
»Kein Scherz«, fuhr Barclay fort, und quetschte
sich auf seinen Platz. »Ich hätte mich fast bepisst.« Er grinste
Gray an. »›Seit elf Jahren blind.‹«
Gray hob sein Bierglas: »Auf uns. Wer kann
uns schon das Wasser reichen?«
»Niemand«, antwortete Rebus. »Und wenn, dann würde
er auch in diesem verdammten Laden die Schulbank drücken.«
»Das müssen wir jetzt durchstehen, da beißt die
Maus keinen Faden ab«, sagte Barclay. Er war Ende dreißig und etwas
dicklich um die Hüften. Grau meliertes, nach hinten gekämmtes Haar.
Rebus kannte ihn von einigen Ermittlungen: Falkirk und Edinburgh
waren nur eine halbe Autostunde entfernt.
»Ich frag mich, wie das Mäuschen Andrea wohl ohne
einen Faden am Leib aussieht«, warf Stu Sutherland ein.
»Bitte keine frauenfeindlichen Sprüche.« Francis
Gray drohte mit dem Finger.
»Außerdem«, fügte McCullough hinzu, »wollen wir
doch Johns Fantasie nicht noch mehr anregen.«
Gray hob eine Augenbraue. »Stimmt das, John? Bist
du scharf auf deine Karriereberaterin? Pass lieber auf, sonst wird
Allan noch eifersüchtig.« Allan Ward, der sich gerade eine
Zigarette anzündete, schaute ihn nur finster an.
»Ist das der Blick, mit dem du die Schafe
einschüchterst, Allan?«, fragte Gray. »Da unten in Dumfries hat man
sicher nicht viel zu tun, außer ab und zu einem Streithammel die
Hörner langzuziehen.«
Erneutes Gelächter. Es war nicht etwa so, dass
Francis Gray sich absichtlich in den Vordergrund geschoben hatte -
es schien einfach so passiert zu sein. Er hatte als Erster Platz
genommen, während die anderen sich um ihn gruppierten. Rebus saß
ihm direkt gegenüber. Gray war ein ziemlicher Hüne, und man sah ihm
sein Alter an. Und weil er jede seiner Bemerkungen mit einem
Lächeln, einem Zwinkern oder einem Funkeln in den Augen begleitete,
ließen die anderen sie ihm durchgehen. Rebus hatte noch niemanden
einen Witz über Gray machen hören, obwohl schon jeder
von ihnen Zielscheibe seines Spotts gewesen war. Er schien sie
provozieren, testen zu wollen. Ihre Reaktionen auf seine Sprüche
verrieten ihm alles, was es über sie zu wissen gab. Rebus fragte
sich, wie der Hüne reagieren würde, wenn jemand einen Witz über ihn
riss.
Vielleicht würde er es herausfinden müssen.
McCulloughs Handy klingelte, und er stand auf und
ging weg.
»Seine Frau - wetten?«, erklärte Gray. Sein
Bierglas war halb leer. Er rauchte nicht, hatte, wie er Rebus
erklärte, vor zehn Jahren damit aufgehört. Rebus hatte ihm, als sie
in einer Pause zusammen draußen standen, die Schachtel hingehalten.
Ward und Barclay rauchten ebenfalls. Drei von sechs. Das bedeutete,
Rebus konnte sich bedenkenlos jederzeit eine anzünden.
»Spioniert sie ihm nach?«, fragte Stu
Sutherland.
»Beweis einer innigen, liebevollen Beziehung«,
meinte Gray und nahm einen Schluck Bier. Er gehörte zu den Leuten,
die tranken, ohne dass man sie schlucken sah; er schien einfach die
Kehle offenhalten und das Zeug runterschütten zu können.
»Kennt ihr beide euch?«, wollte Sutherland wissen.
Gray schaute über die Schulter zu McCullough hinüber, der mit
gesenktem Kopf telefonierte.
»Ich weiß, was das für einer ist«, war alles, was
Gray zur Antwort gab.
Rebus wusste es besser. Er erhob sich. »Noch mal
dasselbe?«
Zwei Lagerbier, drei India Pale Ale. Auf dem Weg
zur Theke zeigte Rebus auf McCullough, der daraufhin den Kopf
schüttelte. Er hatte kaum etwas von seinem Cola getrunken, und
wollte kein weiteres. Rebus hörte die Worte: »In zehn Minuten
breche ich auf...« Ja, er sprach mit seiner Frau. Auch Rebus wollte
mit jemand telefonieren. Jean machte meistens um diese Zeit
Feierabend. Rushhour, die
Fahrt vom Museum zu ihrem Haus in Portobello würde etwa eine halbe
Stunde dauern.
Der Barkeeper hatte keine Mühe, sich die Bestellung
zu merken: es war die dritte Runde dieses Abends. An den beiden
Tagen zuvor waren sie auf dem Collegegelände geblieben. Am ersten
Abend hatte Gray, während sie sich im Aufenthaltsraum gegenseitig
beschnupperten, eine mitgebrachte Flasche guten Whisky spendiert.
Am Dienstag waren sie nach dem Abendessen zusammen in die Bar des
Colleges gegangen, und McCullough hatte sich nach ein paar
Softdrinks zu seinem Auto begeben.
Doch heute Mittag hatte Tam Barclay einen Pub im
Ort erwähnt. Offenbar empfehlenswert.
»Mit den Einheimischen gibt’s keinen Ärger«, waren
seine Worte gewesen. Der Barkeeper wirkte locker, woraus Rebus
schloss, dass sie nicht die ersten Gäste des Colleges waren. Er
benahm sich routiniert, nicht anbiedernd. Mitte der Woche, nur ein
halbes Dutzend Stammgäste im Lokal. Drei saßen an einem der Tische,
zwei am Ende der Theke, einer stand allein neben Rebus. Der Mann
sprach ihn an.
»Sie sind von der Polizeiakademie, stimmt’s?«
Rebus nickte.
»Bisschen alt für Berufsanfänger?«
Rebus musterte den Mann. Er war groß, völlig kahl,
mit glänzendem Schädel. Grauer Schnurrbart. Augen, die in den
Höhlen zu verschwinden schienen. Vor ihm stand eine Flasche Bier
und daneben ein Glas, in dem sich vermutlich dunkler Rum
befand.
»Die Polizei sucht verzweifelt Nachwuchs«, erklärte
Rebus. »Demnächst wird man Leute zwangsrekrutieren müssen.«
Der Mann lächelte. »Ich glaube, Sie wollen mich
veralbern.«
Rebus zuckte die Achseln. »Wir machen hier eine
Fortbildung.«
»Um alten Zirkusgäulen neue Tricks beizubringen,
was?« Der Mann hob sein Bier.
»Wollen Sie noch eins?«, bot Rebus an. Der Mann
schüttelte den Kopf. Also bezahlte Rebus die Getränke und trug drei
der Gläser, gegeneinander gedrückt, zum Tisch. Ging zurück, um die
beiden anderen zu holen. Dachte: Besser, ich rufe Jean nicht allzu
spät an. Er wollte nicht betrunken sein, wenn er mit ihr sprach. Er
hatte zwar nicht vor, sich zu betrinken, aber man konnte ja nie
wissen...
»Feiern Sie das Ende von Ihrem Lehrgang?«, fragte
der Mann.
»Nein, den Beginn«, erwiderte Rebus.
Im Polizeirevier von St. Leonard’s herrschte
vorabendliche Ruhe. In den Arrestzellen warteten Gefangene darauf,
am Vormittag des nächsten Tages dem Richter vorgeführt zu werden.
Von zwei Teenagern, die man beim Ladendiebstahl erwischt hatte,
wurden die Personalien aufgenommen. Die Büros des örtlichen
Criminal Investigation Department im ersten Stock waren fast leer.
Die kriminalpolizeilichen Ermittlungen im Fall Marber würden bis
zum nächsten Morgen ruhen, und nur Siobhan Clarke war noch nicht
gegangen, sondern saß vor einem Computer und starrte auf einen
Bildschirmschoner in Form eines Spruchbandes: WAS WIRD SIOBHAN OHNE
IHREN SUGARDADDY TUN? Sie wusste nicht, wer das geschrieben hatte.
Einer ihrer Kollegen hatte sich anscheinend einen Scherz erlaubt.
Sie vermutete, dass es eine Anspielung auf John Rebus war, aber sie
begriff nicht ganz, was sie bedeuten sollte. Wusste der Schreiber,
was ein Sugardaddy war? Oder hatte er nur gemeint, dass Rebus sich
um sie kümmerte, auf sie aufpasste? Es nervte sie, dass sie sich
über den Text so ärgerte.
Sie ging in der Systemsteuerung ins Untermenü
»Bildschirmschoner«, klickte »Markieren« an, löschte den Text und
ersetzte ihn durch einen neuen: ICH WEISS, WER DU
BIST, DU WITZBOLD. Dann überprüfte sie ein paar der anderen
Computer, aber sie hatten alle Asteroide oder Wellenlinien als
Bildschirmschoner. Als das Telefon auf ihrem Schreibtisch
klingelte, wollte sie zuerst gar nicht rangehen. Wahrscheinlich
wieder so ein Spinner, der ein Geständnis ablegen wollte oder mit
dubiosen Informationen aufwartete. Gestern hatte ein biederer Typ
mittleren Alters angerufen und die Leute in der Wohnung über ihm
der Tat bezichtigt. Wie sich herausstellte, waren es Studenten, die
ziemlich oft ziemlich laut Musik spielten. Der Mann wurde darauf
hingewiesen, dass es ein ernstes Vergehen sei, die Dienste der
Polizei missbräuchlich in Anspruch zu nehmen.
»Also, ich weiß nicht«, hatte einer der
Uniformierten später gemeint, »wenn ich mir den ganzen Tag Slipknot
anhören müsste, würde ich wahrscheinlich noch ganz andere Dinge
anstellen.«
Siobhan setzte sich an ihren Schreibtisch und nahm
den Hörer ab.
»CID, DS Clarke am Apparat.«
»In Tulliallan«, sagte eine Stimme, »wird einem
unter anderem beigebracht, wie wichtig die rasche Entgegennahme von
Anrufen ist.«
Sie lächelte. »Ich lasse andere Leute gerne ein
bisschen zappeln.«
»Rasche Entgegennahme«, erläuterte Rebus,
»bedeutet, den Hörer vor dem sechsten Klingeln abzuheben.«
»Woher wussten Sie, dass ich noch hier bin?«
»Ich wusste es nicht. Hab’s zuerst in Ihrer Wohnung
versucht, aber da lief der Anrufbeantworter.«
»Und Sie haben irgendwie geahnt, dass ich nicht
ausgegangen bin?« Sie lehnte sich zurück. »Klingt, als wären Sie in
einem Pub.«
»In der wunderschönen Innenstadt von
Kincardine.«
»Und dennoch haben Sie sich von Ihrem Bier
losgerissen, um mich anzurufen?«
»Zuerst habe ich Jean angerufen. Und ich hatte noch
ein Zwanzig-Pence-Stück übrig.«
»Ich fühle mich geschmeichelt. Ganze zwanzig
Pence?« Sie hörte ihn schnauben.
»Also... wie läuft’s?«, fragte er.
»Lassen wir das. Wie ist es in Tulliallan?«
»Einige der Dozenten hier würden sagen, dass wir es
mit einer Schnittstelle neue Tricks/alte Zirkusgäule zu tun
haben.«
Sie lachte. »Die reden doch nicht wirklich so,
oder?«
»Doch, ein paar von denen schon. Man bringt uns
Ermittlungsmanagement und empathische Opferbefragung
bei.«
»Aber trotzdem haben Sie Zeit für ein paar
Biere.«
Schweigen in der Leitung. Sie fragte sich, ob sie
einen wunden Punkt berührt hatte.
»Woher wollen Sie wissen, dass ich mich nicht mit
frisch gepresstem O-Saft begnüge?«
»Ich weiß es einfach.«
»Na los, beeindrucken Sie mich mit Ihren
detektivischen Fähigkeiten.«
»Ab einem bestimmten Punkt bekommt Ihre Stimme
immer einen leicht nasalen Unterton.«
»Nach wie vielen Gläsern?«
»Vier, würde ich sagen.«
»Alle Achtung!« Das Gepiepe setzte ein.
»Dranbleiben«, sagte er und warf Geld nach.
»Haben Sie noch einen Zwanziger übrig?«
»Sogar fünfzig, um genau zu sein. Sie haben also
genug Zeit, mich über alle Neuigkeiten in Sachen Marber zu
informieren.«
»Seit dem Kaffeevorfall herrscht hier ziemliche
Ruhe.«
»Ich glaube, es war Tee.«
»Was auch immer, der Fleck will nicht verschwinden.
Übrigens finde ich, dass es übertrieben war, Sie deswegen in die
Wüste zu schicken.«
»Hören Sie, Sie vergeuden mein Geld.«
Seufzend beugte sie sich vor. Gerade hatte sich der
Bildschirmschoner eingeschaltet. ICH WEISS, WER DU BIST, DU
WITZBOLD glitt von rechts nach links über den Bildschirm. »Wir sind
immer noch an den Freunden und Geschäftspartnern dran. Zwei
interessante Geschichten: Marber hatte mit einem Maler Streit. Das
ist in den Kreisen offenbar nichts Ungewöhnliches, aber in diesem
Fall ist es zu Handgreiflichkeiten gekommen. Der Künstler gehört
nämlich zu diesen Neuen Schottischen Koloristen, und ihn nicht in
die Ausstellung mit aufzunehmen, war ein eindeutiger
Affront.«
»Vielleicht hat er Marber mit seiner Staffelei eins
übergebraten.«
»Möglich.«
»Und die andere Geschichte?«
»Die wollte ich mir möglichst lange aufsparen.
Haben Sie sich die Gästeliste der Vernissage angesehen?«
»Ja.«
»Wie sich herausgestellt hat, stehen nicht alle
Anwesenden auf der Liste, sondern nur diejenigen, die sich in
Marbers Gästebuch eingetragen haben. Inzwischen haben wir jedoch
eine Liste mit den Namen der Leute ausgedruckt, die eine Einladung
erhalten haben. Einige von denen waren an dem Abend in der Galerie,
obwohl sie sich weder ans U. A. w. g. gehalten noch in das Buch
eingetragen haben.«
»Und der besagte Maler war einer davon?«, riet
Rebus.
»Nein. Aber ein gewisser M. G. Cafferty.«
Sie hörte Rebus durch die Zähne pfeifen. Morris
Gerald Cafferty - Big Ger für die Eingeweihten - war der größte
Gangster der Ostküste, oder jedenfalls der größte, von dem die
Polizei wusste. Cafferty und Rebus verband eine lange
Geschichte.
»Big Ger ein Förderer der schönen Künste?«,
sinnierte Rebus.
»Er sammelt anscheinend Bilder.«
»Auf jeden Fall schlägt er keine Leute vor deren
Haustür nieder.«
»Ich beuge mich Ihrem reichen
Erfahrungsschatz.«
Es entstand eine Pause. »Wie geht’s Gill?«
»Viel besser, seit Sie weg sind. Wird Sie den
Vorfall nach oben melden?«
»Nicht wenn ich diesen Lehrgang absolviere - das
war die Abmachung. Was ist mit unserem ABC-Schützen?«
Siobhan lächelte. Mit ABC-Schütze meinte Rebus den
neuesten Zugang beim CID, einen Detective Constable namens Davie
Hynds. »Er ist still, ernsthaft, fleißig«, erklärte sie. »Also
überhaupt nicht Ihr Typ.«
»Aber taugt er was?«
»Keine Sorge. Ich werde ihn mir schon
erziehen.«
»Eins der Privilegien, die mit Ihrer Beförderung
verbunden sind.«
Das Gepiepe begann wieder. »Darf ich mich jetzt
verabschieden?«
»Ein präziser, informativer Bericht, DS Clarke.
Sieben Punkte von zehn möglichen.«
»Nur sieben.«
»Die fehlenden drei habe ich wegen Sarkasmus
abgezogen. Ich empfehle Ihnen dringend, Ihre innere Einstellung zu
über...«
Das abrupt einsetzende Summen verriet, dass das
Gespräch zu Ende war. Es würde noch eine Weile dauern, bis sie sich
daran gewöhnt hatte, mit »DS« angesprochen zu werden. Manchmal
stellte sie sich immer noch als Detective Constable vor statt als
Detective Sergeant, weil sie vorübergehend vergessen hatte, dass
sie befördert worden war. Könnte Neid der Grund für den Text auf
ihrem Bildschirm gewesen sein? Silvers und Hood hatten noch
denselben Dienstrang wie zuvor - genau wie die meisten anderen beim
CID.
»Den Täterkreis prima eingegrenzt, meine Liebe«,
sagte sie zu sich selbst, als sie nach ihrem Mantel griff.
Als Rebus an den Tisch zurückkehrte, hob Barclay
sein Handy und sagte ihm, er hätte es sich ausleihen können.
»Danke, Tam. Aber ich hab selbst eins.«
»Ist der Akku leer?«
Rebus nahm sein Glas und schüttelte bedächtig den
Kopf.
»Ich glaube«, sagte Francis Gray, »John hat’s gern
auf die altmodische Art. Stimmt’s, John?«
Rebus zuckte mit den Achseln und führte das Glas an
die Lippen. Über den Rand hinweg sah er den glatzköpfigen Mann, der
quer zur Theke stand und die Gruppe Männer aufmerksam
betrachtete.