16
Derek Linford war wenig begeistert. Rebus und
dessen Kumpane belegten Vernehmungsraum 1, der größer war als VR 2,
in dem Linford nun saß. Außerdem ließen sich in VR 2 die Fenster
nicht öffnen. Es war eine stickige Kammer. Der schmale Schreibtisch
war am Boden festgeschraubt. Hier wurden Leute verhört, die als
gewalttätig galten. An der Wand war ein Doppelkassettenrekorder
montiert und über der Tür eine Videokamera. Außerdem gab es einen
als Lichtschalter getarnten Alarmknopf.
Linford hatte neben George Silvers Platz genommen.
Ihnen gegenüber saß Donny Dow. Dow war klein und mager, aber seine
straffen Schultern verrieten, dass er über einiges an Kraft
verfügte. Sein Haar war glatt und blond - offenkundig gefärbt -,
und er trug einen dunklen Dreitagebart. Goldene Stecker und Ringe
zierten beide Ohren und ein weiterer Stecker die Nase. Eine kleine
goldene Kugel glitzerte an der Stelle, wo seine Zunge gepierct war.
Er hatte den Mund geöffnet und fuhr sich mit der Zunge über die
Zähne.
»Was arbeitest du zurzeit, Donny?«, fragte Linford.
»Immer noch Türsteher?«
»Ich sag kein Wort, bis ihr mir erzählt, was hier
los ist. Eigentlich müsste doch ein Anwalt dabei sein, oder?«
»Weshalb möchtest du denn angeklagt werden?«,
fragte Silvers.
»Mit Drogen hab ich nichts zu tun.«
»Braver Junge.«
Dow verzog das Gesicht und zeigte Silvers den
Stinkefinger.
»Wir interessieren uns für deine Ex«, erklärte
Linford.
Dow zuckte nicht mit der Wimper. »Welche?«
»Alexanders Mutter.«
»Laura ist’ne Nutte«, erklärte Dow.
»Und das ließ sich nicht mit deinem strengen
Moralkodex vereinbaren?«, fragte Silvers lächelnd. Aber Dow sah ihn
nur verständnislos an - Fremdwörter schienen nicht seine Stärke zu
sein.
»Was hat sie denn ausgefressen?«, fragte Dow an
Linford gewandt.
»Uns interessiert ein Mann, mit dem sie zusammen
war.«
»Zusammen war?«
Linford nickte. »Ein reicher Typ. Hat ihr eine
schicke kleine Wohnung bezahlt. Na ja, so klein auch wieder
nicht.«
Dow bleckte die Zähne und hieb mit den Fäusten auf
den Tisch. »Diese elende Schlampe! Und so eine kriegt das
Sorgerecht!«
»Hast du denn darum gekämpft?«
»Gekämpft?«
Kämpfen hatte für jemand wie Dow nur eine
Bedeutung. »Ich meinte«, erklärte Linford, »ob du das Sorgerecht
für Alexander haben wolltest?«
»Er ist mein Sohn.«
Linford nickte erneut, denn er wusste, die Antwort
lautete nein.
»Wer ist dieses Arschloch? Dieser reiche
Typ?«
»Ein Kunsthändler aus Duddingston Village.«
»Und die beiden sind in seiner Wohnung, sie und
Alex? Vögelt da mit dem Dreckskerl! Und Alex ist gleich
nebenan.« Dows Gesicht lief vor Wut dunkelrot an. Einen Moment lang
war es still, und Linford hörte Stimmen - vielleicht ein Lachen -
aus VR 1. Wahrscheinlich amüsierten sich diese Mistkerle gerade
darüber, dass er in VR 2 verbannt worden war.
»Was hat das alles eigentlich mit mir zu tun?«,
fragte Dow. »Wollt ihr mich auf die Palme bringen oder was?«
»Sie haben ein ziemlich umfangreiches
Vorstrafenregister, Mr Dow«, sagte Silvers. Dows Akte lag auf dem
Tisch, und Silvers tätschelte den braunen Pappdeckel.
»Was denn? Die paar Körperverletzungen? Ich bin
schon so oft vermöbelt worden, das kann man gar nicht mehr zählen.
Als ich noch Rausschmeißer war, da gab’s keine Woche, wo sich nicht
irgendein Scheißkerl mit mir anlegen wollte. Aber so was steht da
natürlich nicht drin.« Er wies auf die Akte. »Ihr Bullen, ihr seht
nur die Sachen, die euch in den Kram passen.«
»Da könnte was dran sein, Donny«, meinte Silvers,
während er sich zurücklehnte und die Arme verschränkte.
»Was wir sehen, Donny«, sagte Linford ruhig, »ist
ein Mann mit einem Vorstrafenregister, der sich ziemlich aufregt,
weil seine Ex ein Verhältnis mit einem anderen hat.«
»Scheiß auf die Alte! Die kann mich mal!« Dow schob
seinen Stuhl zurück, stopfte die Hände in die Taschen und wippte
mit den Beinen.
Linford tat so, als blätterte er noch einmal die
Akte durch. »Mr Dow«, sagte er dann, »haben Sie zufällig etwas über
einen Mord in dieser Stadt gelesen?«
»Nur, wenn’s im Sportteil stand.«
»Ein Kunsthändler, der vor seinem Haus in
Duddingston Village mit mehreren Schlägen auf den Kopf umgebracht
wurde.«
Dow hörte auf zu wippen. »Also, Moment mal...«,
sagte er und hob abwehrend die Hände.
»Was sagtest du, womit du dein Geld verdienst?«,
fragte George Silvers.
»He, was soll der Scheiß?«
»Lauras Kavalier ist tot, Donny«, sagte
Linford.
»Und Sie haben als Rausschmeißer für Big Ger
Cafferty gearbeitet, stimmt’s?«, fragte Silvers. Das war für Dow zu
viel auf einmal. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Er konnte
nicht klar denken und wusste, wenn er jetzt etwas sagte -
irgendetwas - dann würde er vielleicht...
Es klopfte an der Tür, und Siobhan Clarke streckte
ihren Kopf ins Zimmer.
»Ist noch ein Platz für mich frei?«, fragte sie.
Als sie die finsteren Blicke ihrer beiden Kollegen sah, wollte sie
wieder kehrtmachen. Aber in dem Moment sprang Dow auf und rannte
zur Tür. Silvers versuchte ihn festzuhalten, aber Dow versetzte ihm
einen Handkantenschlag gegen den Hals. Silvers röchelte und griff
sich an den Kragen. Linford konnte nicht eingreifen, weil er
zwischen Silvers, dem Tisch und der Wand eingeklemmt war. Dow stieß
Silvers mit einem Fußtritt gegen Linford, der gerade die Hand nach
dem Alarmknopf ausstreckte. Siobhan versuchte, die Tür von außen zu
schließen, aber Dow war stärker als sie. Er riss die Tür auf,
packte Siobhan an den Haaren und schleuderte sie ins Zimmer. Auf
dem Flur ertönte der Alarm, trotzdem rannte er los. Im Raum nebenan
saßen ein paar Männer; sie blickten auf, als er vorbeirannte. Nur
noch um eine Ecke und durch ein paar Türen, dann hätte er es
geschafft.
In VR 2 war Silvers auf seinem Stuhl
zusammengesackt und rang immer noch nach Luft. Linford schob sich
an ihm vorbei. Siobhan stand vom Boden auf und befühlte ihren Kopf;
Dow hatte ihr anscheinend ein ganzes Büschel Haare
ausgerissen.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, schrie sie. Linford
beachtete sie nicht und lief auf den Flur hinaus. Sein linkes Bein
tat weh, weil Silvers dagegengeknallt war. Am schlimmsten aber
hatte es seinen Stolz getroffen. »Wo ist er hin?«, brüllte
er.
Tam Barclay und Allan Ward sahen sich an und
deuteten dann beide Richtung Ausgang.
»Er ist da entlang, Sheriff«, sagte Ward mit einem
Grinsen. Dummerweise hatte niemand Dow beim Verlassen des Gebäudes
gesehen. Der Haupteingang wurde von Kameras überwacht, und Linford
bat die Einsatzzentrale, das Band abzuspielen. In der Zwischenzeit
lief er von Büro zu Büro, schaute unter die Tische und durchsuchte
die wenigen begehbaren Schränke der Wache. Als er in die
Einsatzzentrale zurückkam, lief dort gerade das Band mit der
Aufzeichnung:
Donny Dow, in Farbe und Zeitraffer, wie er durch den Haupteingang
nach draußen stürmte.
»Alle verfügbaren Kräfte müssen die Umgebung
durchkämmen!«, rief Linford. »Im Wagen oder zu Fuß. Gebt allen die
Beschreibung durch!« Die uniformierten Beamten sahen sich an.
»Na los, worauf wartet ihr noch?«, schnauzte
Linford sie an.
»Ich glaube, sie warten auf mein Okay, Derek«,
hörte er eine Stimme hinter sich.
DCS Gill Templer.
»Aua!«, rief Siobhan. Sie saß an ihrem
Schreibtisch, und Phyllida Hawes besah sich die
Kopfverletzung.
»Da fehlt ein Stückchen Haut«, stellte Hawes fest.
»Aber die Haare wachsen wieder nach.«
»Fühlt sich wahrscheinlich schlimmer an, als es
ist«, meinte Allan Ward. Der Vorfall in VR 2 schien Schranken
eingerissen zu haben:Ward war in Begleitung von Gray, McCullough
und Rebus aufgetaucht, während Gill Templer sich von Linford und
Silvers in ihrem Büro Bericht erstatten ließ.
»Ich heiße übrigens Allan«, sagte Ward zu Phyllida
Hawes. Sie nannte ihm ihren Vornamen, und er meinte, dass es ein
ungewöhnlicher Name sei. Er lauschte aufmerksam ihrer Erklärung,
als Siobhan aufstand und wegging. Keiner der beiden schien es zu
bemerken.
Rebus stand an der Rückwand des Raums und
betrachtete mit verschränkten Armen das dort aufgehängte Material
zum Fall Marber.
»Der geht aber ganz schön ran«, sagte Siobhan.
Rebus wandte den Kopf und beobachtete die Unterhaltung zwischen
Ward und Hawes.
»Sie sollten sie warnen«, erklärte er. »Ich weiß
nicht genau, ob Allan koscher ist.«
»Vielleicht gefällt ihr das ja.« Siobhan betupfte
die kahle Stelle auf ihrem Scheitel. Sie brannte höllisch.
»Das ist ein Grund, sich krankzumelden«, erklärte
Rebus. »Ein paar Kollegen von uns sind wegen so was in Frührente
gegangen. Die psychischen Nachwirkungen sind nicht zu
unterschätzen.«
»So leicht wird man mich nicht los«, erwiderte sie.
»Wieso sind Sie eigentlich nicht bei der Jagd auf Donny Dow
dabei?«
»Sie wissen doch: Das hier ist nicht unsere Party.«
Rebus ließ den Blick durch den Raum schweifen. Hawes lauschte Wards
Gesülze; Jazz McCullough hatte mit Bill Pryde und Davie Hynds ein
Gespräch angefangen; Francis Gray saß auf einem Tisch und ließ ein
Bein baumeln, während er eine Akte durchblätterte. Er bemerkte
Rebus’ Blick und zwinkerte ihm zu, rutschte dann vom Tisch und kam
zu ihnen herüber.
»So einen Fall hätten sie uns geben sollen, was,
John?«
Rebus nickte, schwieg aber. Gray schien den Wink zu
verstehen, denn er trollte sich nach ein paar mitfühlenden Worten
für Siobhan, ging zu einem der anderen Tische und griff erneut nach
einer Akte.
»Ich muss mit Gill sprechen«, sagte Siobhan leise,
den Blick auf die geschlossene Tür zu Templers Büro
gerichtet.
»Wollen Sie sich also doch krankmelden?«
Siobhan schüttelte den Kopf. »Es geht um Donny Dow.
Als ich neulich bei Cafferty war, stand ein Wagen vor der Tür.
Hinten drin saß das Wiesel und am Steuer Donny.«
Rebus starrte sie an. »Sind Sie sicher, dass er es
war?«
»Zu neunzig Prozent. Ich hab ihn allerdings nur ein
paar Sekunden lang gesehen.«
»Dann sollten wir mal mit dem Wiesel reden.«
Sie nickte. »Aber erst, wenn die Chefin es
abgesegnet hat.«
»Wenn Sie unbedingt wollen.«
»Sie haben doch selbst gesagt: Das ist nicht Ihre
Party.«
Rebus machte ein nachdenkliches Gesicht. »Wie
wär’s, wenn Sie es vorläufig für sich behalten würden?«
Sie sah ihn verständnislos an.
»Und ich mich erst mal diskret beim Wiesel
erkundige«, fuhr Rebus fort.
»Dann würde ich Informationen zurückhalten.«
»Nein, Sie würden nur eine vage Vermutung
zurückhalten... Es könnte doch einfach noch einen Tag dauern, bis
Sie zu der Überzeugung kommen, dass Dow der Chauffeur vom Wiesel
war.«
»John…« Wortlos sprach sie damit eine Bitte aus.
Sie wollte, dass er sie einweihte, teilhaben ließ, ihr
vertraute.
»Ich habe meine Gründe«, sagte er, kaum lauter als
ein Flüstern. »Das Wiesel könnte mir vielleicht behilflich
sein.«
Sie brauchte volle dreißig Sekunden, um sich zu
entscheiden. »Also gut«, sagte sie dann. Er berührte ihren
Arm.
»Danke«, sagte er. »Dafür bin ich Ihnen etwas
schuldig. Hätten Sie Lust, heute Abend mit mir essen zu gehen? Ich
zahle.«
»Haben Sie schon bei Jean angerufen?«
Sein Blick verdüsterte sich. »Ich hab’s versucht.
Entweder ist sie nicht da, oder sie geht nicht dran.«
»Sie sollten lieber mit ihr essen
gehen.«
»Ich hätte sie gleich an dem Abend anrufen
sollen.«
»Sie hätten ihr an dem Abend hinterherlaufen
und sie inständig um Verzeihung bitten sollen.«
»Ich versuch’s weiter.«
»Und schicken Sie ihr Blumen.« Sie musste
unwillkürlich lächeln, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. »Das
letzte Mal, als Sie jemandem Blumen geschickt haben, war das ein
Kranz, hab ich Recht?«
»Schon möglich«, gab er zu. »Jedenfalls hab ich in
meinem Leben garantiert mehr Kränze als Sträuße gekauft.«
»Na, dann passen Sie gut auf, dass Sie nichts
Falsches bestellen. Im Telefonbuch stehen übrigens jede Menge
Blumenläden.«
Er nickte. »Sobald ich mit dem Wiesel gesprochen
habe«, sagte er und ging zur Tür. Es gab Anrufe, die man besser per
Handy führte als von einem Bürotelefon aus. Und Rebus hatte zwei
solcher Anrufe zu erledigen.
Das Wiesel war leider nicht im Büro, und Rebus
musste sich mit dem halbherzigen Versprechen, dass man die
Nachricht weiterleiten werde, zufrieden geben.
»Danke«, sagte er. »Ach, übrigens, ist Donny
zufällig zu sprechen?«
»Was für ein Donny?«, wollte die Stimme wissen,
dann wurde die Verbindung unterbrochen. Rebus fluchte, holte die
Gelben Seiten aus der Einsatzzentrale und ging dann auf den
Parkplatz, um einen Blumenladen anzurufen. Er bestellte einen
bunten Strauß.
»Welche Blumen mag die Dame denn am liebsten?«,
wurde er gefragt.
»Keine Ahnung.«
»Ach so, und wie steht es mit Farben?«
»Stellen Sie doch einfach was Hübsches zusammen,
ja? So ungefähr für zwanzig Pfund.« Er leierte seine
Kreditkartennummer herunter, und die Sache war erledigt. Als er das
Handy in die Tasche steckte und gegen Zigaretten und Feuerzeug
tauschte, fiel ihm ein, dass er überhaupt keine Ahnung hatte, was
man für zwanzig Pfund bekam. Ein halbes Dutzend verblühte Nelken
oder ein protziges Bukett? Wie auch immer, die Blumen würden
jedenfalls heute Abend um halb sieben zu Jean nach Hause geliefert.
Er fragte sich, was wohl passieren würde, falls sie Überstunden
machte: Würde der Bote den Strauß vor die Tür legen, wo jeder
Gelegenheitsdieb ihn klauen konnte? Oder ihn wieder mitnehmen und
es am nächsten Tag noch einmal versuchen?
Er machte einen tiefen Zug an der Zigarette.
Ständig entpuppte sich irgendetwas als viel komplizierter als
ursprünglich angenommen. Allerdings musste er bei näherer
Betrachtung zugeben, dass er die meisten Komplikationen selbst
verursachte, weil er immer mit dem Schlimmsten rechnete,
statt das Beste zu hoffen. Er war schon in jungen Jahren zum
Pessimisten geworden und hielt diese Einstellung nach wie vor für
eine gute Vorbereitung aufs Leben. Als Pessimist rechnete man
damit, dass alles schief ging, und wenn wider Erwarten etwas
klappte, war man angenehm überrascht.
»Ich bin zu alt, um mich noch zu ändern«, murmelte
er.
»Na, führst du schon Selbstgespräche?« Allan Ward
war gerade dabei, eine neue Schachtel von ihrer Zellophanhülle zu
befreien.
»Was ist? Hast du DC Hawes mit deinem Gesülze nicht
beeindrucken können?«
Ward nickte bedächtig. »Sie ist so wenig
beeindruckt«, sagte er und zündete sich eine Zigarette an, »dass
sie heute Abend mit mir essen geht. Irgendwelche Tipps auf
Lager?«
»Tipps?«
»Wie man sie am schnellsten flachlegt.«
Rebus schnippte die Asche von seiner Zigarette.
»Sie ist eine gute Polizistin, Allan. Und außerdem mag ich sie.Wenn
ihr jemand wehtut, nehm ich das persönlich übel.«
»War doch bloß ein Scherz«, verteidigte sich Ward.
Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Bloß weil du auf Entzug
bist -«
Rebus fuhr herum, packte Ward am Kragen und drückte
ihn mit dem Rücken an die Hauswand. Ward fiel die Zigarette aus dem
Mund, als er versuchte, Rebus wegzustoßen. Ein Streifenwagen bog in
die Einfahrt ein, und die Uniformierten beobachteten interessiert
das Schauspiel. Dann wurden die beiden Männer plötzlich von zwei
Händen gepackt und voneinander getrennt. Die Hände gehörten Derek
Linford.
»Aber meine Damen«, sagte er tadelnd. »Bitte keine
Handgreiflichkeiten.«
Ward zog seine Jacke zurecht. »Was machen Sie denn
hier? Wollen Sie unter den Autos nach dem vermissten Verdächtigen
suchen?« Speichel spritzte ihm aus dem Mund.
»Nein«, sagte Linford, aber er ließ den Blick
trotzdem über den Parkplatz wandern - man konnte ja nie wissen.
»Eigentlich wollte ich nur nachsehen, ob ich hier draußen ein paar
Raucher finde.«
»Sie rauchen doch gar nicht«, erinnerte Rebus ihn.
Sein Atem ging schwer.
»Ich dachte mir, vielleicht sollte ich damit
anfangen. Es gäbe wirklich kaum einen besseren Zeitpunkt.«
Ward lachte und schien Rebus völlig vergessen zu
haben. »Willkommen im Klub«, sagte er und hielt Linford sein
Päckchen hin. »Templer hat Sie wohl ziemlich runtergeputzt,
was?«
»Wissen Sie, vor allem ist mir die Sache verdammt
peinlich«, gestand Linford mit einem verlegenen Grinsen, während
Ward ihm Feuer gab.
»Vergessen Sie’s. Alle sagen, dass Dow Kickboxer
ist. Mit so einem legt man sich besser nicht an.«
Wards Bemerkung schien Linford aufzumuntern. Rebus
wunderte sich über Linford. Er hatte sie bei einer Rangelei
erwischt, ohne nach dem Grund zu fragen - offenbar war er zu sehr
mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Rebus beschloss, die
beiden allein zu lassen.
»He, John, nichts für ungut, okay?«, rief Ward
plötzlich. Rebus antwortete nicht. Jetzt, da Ward ihn daran
erinnert hatte, würde Linford bestimmt nach dem Grund für ihre
Auseinandersetzung fragen, und sein neuer Busenfreund würde ihm von
dem Abend in Edinburgh und von Jean erzählen.
Dadurch hatte Linford plötzlich etwas gegen ihn in
der Hand. Rebus fragte sich, wann er es als Munition verwenden
würde. Er begann sogar, sich Sorgen zu machen, weil Linford für ihn
bei den Ermittlungen im Fall Marber eingesprungen war. Warum
ausgerechnet Linford? Rebus spürte, wie er sich innerlich immer
mehr verkrampfte. Er ließ die Schultern kreisen und dehnte den
Nacken. Ihm fiel ein Graffito
ein, das er einmal gesehen hatte: Paranoid zu sein, ist keine
Garantie, dass niemand hinter einem her ist. Wurde er langsam
paranoid? Sah er überall nur noch Fallstricke und Feinde? Er
verfluchte Strathern, weil er ihn für diesen Auftrag ausgesucht
hatte. Wenn ich nicht mal dem Mann vertraue, für den ich arbeite,
dachte Rebus, wie kann ich da überhaupt jemandem vertrauen? Ein
Kollege, der im Fall Marber ermittelte, lief an ihm vorbei, und
Rebus stellte sich vor, wie schön es wäre, an einem Schreibtisch im
Mordbüro zu sitzen, ein paar Routineanrufe zu erledigen und dabei
genau zu wissen, wie unbedeutend die eigene Arbeit war. Stattdessen
schaufelte er sich, wie es ihm schien, eifrig sein eigenes Grab. Er
hatte Jazz mit einer »Idee« geködert, einem Plan, wie sie an Geld
kommen konnten. Jetzt musste er sich nur noch etwas einfallen
lassen...
An diesem Abend ging Rebus allein aus. Der Crew
hatte er erzählt, er müsse noch etwas erledigen, würde aber
vielleicht später nachkommen. Sie hatten sich noch nicht
entschieden, ob sie gleich nach Tulliallan fahren oder erst noch in
Edinburgh etwas trinken wollten. Jazz zog es nach Broughty Ferry,
aber sein Wagen stand auf dem Parkplatz der Akademie. Ward spielte
mit dem Gedanken, Phyllida Hawes zu einem Mexikaner in der Nähe von
St. Leonard’s einzuladen. Während sie noch die verschiedenen
Strategien und Alternativen diskutierten, verdrückte Rebus sich.
Nach den ersten drei Bieren in der Oxford Bar, in der er mit halbem
Ohr den neuesten Witzen gelauscht hatte, bekam er Hunger. Aber wo
sollte er hingehen? Er wollte auf keinen Fall riskieren, irgendwo
auf Ward und Hawes zu stoßen und sie beim Turteln zu stören.
Natürlich konnte er sich zu Hause etwas kochen; aber er wusste,
dass er das doch nicht tun würde. Trotzdem - vielleicht sollte er
besser nach Hause gehen.Womöglich rief Jean an. Ob sie die Blumen
schon bekommen hatte? Das Handy in seiner Tasche war eingeschaltet,
damit
sie ihn jederzeit erreichen konnte. Schließlich bestellte er sich
noch ein Bier und deutete auf das letzte Scotch Egg.
»Das liegt bestimmt schon seit heute Mittag rum,
oder?«, fragte er Harry, den Barkeeper.
»Ich war heute Mittag nicht hier.Wollen Sie’s oder
nicht?«
Rebus nickte. »Und ein Päckchen Nüsse.« Manchmal
wünschte er sich, die Oxford Bar würde das Angebot an fester
Nahrung etwas erweitern. Er erinnerte sich, wie der frühere
Eigentümer Willie Ross einmal einen bedauernswerten Gast nach
draußen gezerrt hatte, nur weil er es gewagt hatte, nach der
Speisekarte zu fragen. Willie hatte auf das Schild draußen über der
Tür gezeigt und gefragt: »Was steht da oben: ›Bar‹ oder
›Restaurant‹?« Rebus bezweifelte, dass der Mann Stammgast geworden
war.
Es herrschte an diesem Abend wenig Betrieb im Ox.
Rebus saß allein an der Theke. Aus dem Nebenraum drang leises
Gemurmel herüber. Als sich die Eingangstür knarrend öffnete, drehte
er sich nicht einmal um.
»Darf ich dir einen ausgeben«, hörte er eine Stimme
hinter sich. Es war Gill Templer. Rebus straffte den Rücken.
»Ich lade dich ein«, sagte er. Sie hatte sich schon
auf einen Barhocker gesetzt und ließ ihre Umhängetasche zu Boden
gleiten. »Was nimmst du?«
»Ich muss noch fahren. Besser nur ein kleines
Deuchars.« Sie überlegte einen Moment. »Nein, doch lieber einen Gin
Tonic.« Der Fernseher lief ohne Ton, und ihr Blick wanderte zu ihm
hinüber. Eine Reportage des Discovery Channel - Harrys
Lieblingssender.
»Was läuft denn da gerade?«, fragte Gill.
»Harry schaltet immer diesen Mist ein, um die
Kunden zu vergraulen«, erklärte Rebus.
»Stimmt«, sagte Harry. »Funktioniert ja auch
bestens, nur bei dem Trottel nicht.« Er wies mit dem Kopf auf
Rebus. Gill lächelte matt.
»Anstrengender Tag heute?«, fragte Rebus.
»Kommt schließlich nicht jeden Tag vor, dass jemand
aus einem Vernehmungsraum abhaut.« Sie sah ihn von der Seite an.
»Dir bereitet die Sache doch sicher große Freude, oder?«
»Wieso?«
»Na ja, immerhin hat Linford sich ziemlich
blamiert.«
»Ganz so mies bin ich dann doch nicht...«
»Nicht?« Sie überlegte. »Er scheint es
allerdings zu sein. Es geht das Gerücht, du hättest dich mit
jemandem von deinem Tulliallan-Trupp auf dem Parkplatz
geprügelt.«
Linford hatte also bereits geplaudert.
»Ich fand, ich sollte dich lieber warnen«, fuhr sie
fort. »Vermutlich ist es inzwischen DCI Tennant zu Ohren
gekommen.«
»Bist du eigens hergekommen, um mir das zu
sagen?«
Sie zuckte mit den Achseln.
»Danke«, sagte er.
»Eigentlich wollte ich noch über etwas anderes mit
dir reden.«
»Hör zu, wenn es um den Becher Tee geht.«
»Sei ehrlich John, du hast ihn absichtlich mit so
viel Schmackes geworfen.«
»Wenn ich ihn mit dem kleinen Finger vom Tisch
geschubst hätte, wär das wohl kaum ein Grund gewesen, mich zum
Straflehrgang abzukommandieren.« Rebus bezahlte ihr Getränk und hob
das Glas, um mit ihr anzustoßen.
»Prost«, sagte sie, nahm einen großen Schluck und
atmete aus.
»Schon besser?«, fragte er.
»Eindeutig«, bestätigte sie.
Er lächelte. »Und da fragen sich die Leute, warum
man trinkt.«
»Ich werde es allerdings bei dem einen Glas
belassen - und wie steht’s bei dir?«
»Wärst du mit einem groben Überblick
zufrieden?«
»Ich wär zufrieden, wenn du mir erzählen würdest,
wie es in Tulliallan läuft.«
»Viel hab ich bisher nicht erreicht.«
»Und wird sich das noch ändern?«
»Vielleicht.« Er machte eine Pause. »Wenn ich das
eine oder andere Risiko eingehe.«
»Aber vorher redest du mit Strathern, hörst du?«,
sagte sie.
Er nickte, sah aber, dass sie ihm nicht
glaubte.
»John...«
Der gleiche Tonfall, den Siobhan ein paar Stunden
zuvor angeschlagen hatte. Hör mir zu… Vertrau
mir…
Er sah Gill an. »Du könntest dir ein Taxi
nehmen.«
»Ja, und?«
»Dann könntest du jetzt noch was trinken.«
Sie warf einen Blick auf ihr Glas. Es war fast nur
noch Eis darin. »Einen schaffe ich noch«, meinte sie schließlich.
»Aber diese Runde geht auf mich. Was nimmst du?«
Nach dem dritten Gin Tonic vertraute sie ihm an,
dass sie gerade eine Beziehung hinter sich hatte. Neun Monate hatte
sie gedauert, dann war die Sache im Sand verlaufen.
»Das hast du aber gut geheim gehalten.«
»Nie im Leben hätte ich ihn euch vorgestellt.« Sie
spielte mit ihrem Glas und betrachtete die Lichtmuster, die es auf
die Theke warf. Harry hatte sich ans andere Ende des kleinen Raums
verzogen. Ein weiterer Stammgast war gekommen, und die beiden
unterhielten sich über Fußball.
»Wie läuft es denn bei dir und Jean?«, erkundigte
sich Gill.
»Wir hatten gerade ein kleines Missverständnis«,
gestand Rebus.
»Willst du darüber reden?«
»Nein.«
»Soll ich zwischen euch vermitteln?«
Er schüttelte den Kopf. Gill war mit Jean
befreundet; sie hatte die beiden miteinander bekannt gemacht. Er
wollte sie nicht in eine unangenehme Lage bringen. »Trotzdem vielen
Dank«, sagte er. »Wir kriegen das schon wieder hin.«
Sie sah auf ihre Uhr. »Ich sollte mich besser auf
den Weg machen.« Sie rutschte vom Stuhl und hob ihre Tasche auf.
»Gar nicht so übel hier«, erklärte sie und betrachtete das
verblasste Dekor der Bar. »Ich geh vielleicht noch kurz einen
Happen essen. Hast du schon gegessen?«
»Ja«, log er. Ein Abendessen mit Gill wäre ihm fast
wie ein Seitensprung vorgekommen. »Ich hoffe, du willst in diesem
Zustand nicht mehr fahren!«, rief er ihr nach.
»Mal sehen, wie ich mich fühle, wenn ich draußen
bin.«
»Denk lieber dran, wie mies du dich morgen fühlen
wirst, wenn du eine Anzeige wegen Trunkenheit am Steuer am Hals
hast!«
Sie winkte kurz und verschwand. Rebus blieb noch
auf ein Bier. Ihr Parfüm hing in der Luft. Er roch es am Ärmel
seines Jacketts und überlegte, ob er Jean nicht lieber Parfüm statt
Blumen hätte schicken sollen. Aber dann fiel ihm ein, dass er gar
nicht wusste, welche Marke sie benutzte. Sein Blick glitt über das
Regal hinter der Theke - vermutlich könnte er bei Bedarf die Namen
von über zwei Dutzend Whiskys auswendig hersagen.
Zwei Dutzend Whiskys, aber keinen blassen Schimmer,
welches Parfüm Jean Burchill verwendete.
Als er in der Arden Street die Haustür öffnete,
nahm er einen Schatten auf der Treppe wahr: Jemand kam herunter.
Vielleicht ein Nachbar, aber das war eher unwahrscheinlich. Er
drehte sich um, doch auf der Straße war niemand zu sehen.
Anscheinend kein Hinterhalt. Als Erstes tauchten die Füße auf, dann
die Beine und der Rest.
»Was tun Sie denn hier?«, zischte Rebus.
»Ich hab gehört, dass Sie mit mir sprechen wollen«,
antwortete das Wiesel. Er hatte den Fuß der Treppe erreicht. »Das
trifft sich gut. Ich will nämlich auch mit Ihnen reden.«
»Sind Sie allein?«
Das Wiesel nickte. »Mein Chef wär mit diesem
Treffen bestimmt nicht einverstanden.«
Rebus schaute sich erneut um. Er wollte das Wiesel
nicht in seiner Wohnung haben. Ein Pub wäre gut, aber wenn er noch
mehr trank, würde er nicht mehr klar denken können. »Kommen Sie
mit«, sagte er, schob sich am Wiesel vorbei und ging zur Hintertür.
Er schloss auf und öffnete sie mit einem Ruck. Der Garten des
Hauses wurde kaum genutzt. Ein Stückchen Rasen mit ein paar
Wäscheleinen; das Gras stand fast einen halben Meter hoch und war
von schmalen Beeten gesäumt, in denen nur besonders zähe Pflanzen
gediehen. Kurz nachdem Rebus und seine Frau hier eingezogen waren,
hatte sie das Unkraut durch Sämlinge ersetzt. Schwer zu sagen, ob
einige davon bis heute überlebt hatten. Der Garten wurde durch
einen schmiedeeisernen Zaun von den Nachbargrundstücken getrennt.
Gemeinsam bildeten die Gärten ein großes Rechteck, das von
mehrstöckigen Wohnhäusern umschlossen war. In vielen Fenstern
brannte Licht, so dass es hell genug war für dieses Gespräch.
»Was gibt’s?«, fragte Rebus und kramte nach einer
Zigarette.
Das Wiesel hatte sich gebückt, um eine leere
Bierdose aufzuheben, die er nun zusammendrückte und in die
Manteltasche steckte. »Aly geht’s gut.«
Rebus nickte. Er hatte den Sohn des Wiesels schon
fast vergessen. »Haben Sie meinen Rat befolgt?«
»Sie haben ihn zwar noch nicht von der Angel
gelassen, aber mein Anwalt meint, wir haben gute Karten.«
»Hat man ihn angeklagt?«
Das Wiesel nickte. »Aber nur wegen Drogenbesitzes:
der Joint, den er geraucht hat, als sie ihn geschnappt
haben.«
Rebus nickte. Claverhouse ging vorsichtig zu
Werke.
»Ich befürchte nur leider«, fuhr das Wiesel fort,
während er neben dem Beet in die Hocke ging, um eine leere
Chipstüte
und ein paar Bonbonpapiere aufzusammeln, »dass mein Chef Wind von
der Sache bekommen hat.«
»Weiß er auch über Aly Bescheid?«
»Nein, ich glaube nicht... nur über die Ladung
Stoff.«
Rebus zündete seine Zigarette an. Cafferty hatte
seine Augen und Ohren überall. Es genügte, wenn der Typ vom
Polizeilabor mit einem seiner Kollegen darüber sprach und dieser es
einem Freund erzählte. Claverhouse würde diese Ladung Drogen auf
keinen Fall lange geheimhalten können. Trotzdem -
»Vielleicht ist das sogar günstig für Sie«, meinte
Rebus. »Dann ist Claverhouse gezwungen, etwas zu
unternehmen.«
»Sie meinen, zum Beispiel Aly anzuklagen?«
Rebus zuckte mit den Achseln. »Oder die Sache der
Zollbehörde zu übergeben, damit sich alle im Erfolg sonnen
können.«
»Und was wird dann aus Aly?« Das Wiesel war
aufgestanden. Es raschelte in seinen vollgestopften Taschen.
»Wenn er sich kooperativ zeigt, könnte er mit einer
geringen Strafe davonkommen.«
»Cafferty wird ihn trotzdem drankriegen.«
»Dann sollten Sie ihm vielleicht zuvorkommen. Geben
Sie den Leuten vom Drogendezernat, was sie haben wollen.«
Das Wiesel überlegte. »Ich soll Cafferty
verpfeifen?«
»Jetzt erzählen Sie mir nicht, dass Sie noch nie
daran gedacht haben.«
»Oh, ich hab schon öfter daran gedacht. Aber Mr
Cafferty war immer sehr gut zu mir.«
»Trotzdem gehört er nicht zur Ihrer Familie. Er ist
kein Blutsverwandter.«
»Nein«, sagte das Wiesel und zog die Silbe in die
Länge.
»Darf ich Sie etwas fragen?« Rebus schnippte Asche
von seiner Zigarette.
»Was denn?«
»Haben Sie eine Ahnung, wo Donny Dow steckt?«
Das Wiesel schüttelte den Kopf. »Ich hab nur
gehört, dass er auf die Wache bestellt worden ist.«
»Er ist abgehauen.«
»Das war dumm von ihm.«
»Aus diesem Grund wollte ich mit Ihnen sprechen:
Wir werden Leute losschicken, die mit all seinen Freunden und
Bekannten reden sollen. Sie werden doch sicher mithelfen, ihn zu
finden?«
»Selbstverständlich.«
Rebus nickte. »Gehen wir also davon aus, dass
Cafferty von den Drogen gehört hat - was wird er Ihrer Meinung nach
unternehmen?«
»Erstens wird er in Erfahrung bringen wollen, wie
sie hergekommen sind.« Das Wiesel schien nicht weiterreden zu
wollen.
»Und zweitens?«
»Hat jemand gesagt, dass es ein Zweitens
gibt?«
»Ist doch meist so, wenn es vorher ein Erstens
gab.«
»Na gut. Zweitens wird er vielleicht beschließen,
sie sich zu holen.«
Rebus betrachtete die Spitze seiner Zigarette. Aus
den Häusern ringsum waren alltägliche Geräusche zu hören: Musik,
ein Fernseher, das Klappern von Geschirr. Silhouetten hinter den
Fenstern … normale Leute, die ein normales Leben führten und
allesamt dachten, sie wären anders als alle anderen.
»Hat Cafferty etwas mit dem Mord an Marber zu
tun?«, fragte er.
»Bin ich etwa Ihr Spitzel?«, gab das Wiesel
zurück.
»Nein, und das sollen Sie auch nicht werden. Aber
eine Frage wird doch wohl erlaubt sein.«
Der kleine Mann bückte sich erneut, so als habe er
etwas im Gras entdeckt, aber da war nichts, und er richtete sich
langsam wieder auf.
»Anderer Leute Dreck«, murmelte er. Es klang wie
ein
Mantra. Vielleicht dachte er an seinen Sohn oder auch an Cafferty:
Immer musste er deren Dreck wegräumen. Dann schaute er Rebus in die
Augen. »Woher soll ich das wissen?«
»Ich sag ja nicht, dass es Cafferty selbst war.
Eher einer von seinen Leuten, jemand, den er angeheuert hat -
wahrscheinlich mit Ihrer Hilfe, damit er sich nicht die
Hände schmutzig macht. Cafferty hat schon immer dafür gesorgt, dass
andere den Kopf für ihn hinhalten.«
Das Wiesel schien darüber nachzudenken. »Ist das
der Grund, warum die beiden Polizisten neulich bei uns waren? Um
Fragen über Marber zu stellen?« Rebus nickte. »Der Chef wollte
nicht sagen, worum es ging.«
»Ich dachte, er vertraut Ihnen«, bemerkte
Rebus.
Das Wiesel schwieg einen Moment. »Ich weiß, dass er
Marber kannte«, sagte er schließlich mit leiser Stimme. »Ich
glaube, er konnte ihn nicht besonders gut leiden.«
»Mir wurde zugetragen, er habe von Marber keine
Gemälde mehr kaufen wollen. Hatte er vielleicht herausgefunden,
dass Marber seine Kunden betrog?«
»Keine Ahnung.«
»Halten Sie es denn für möglich?«
»Das schon«, räumte das Wiesel widerstrebend
ein.
»Sagen Sie…«, Rebus senkte ebenfalls die Stimme, »…
würde Cafferty ein Ding planen, ohne Sie einzuweihen?«
»Erwarten Sie etwa, dass ich mich selbst
belaste?«
»Das hier bleibt alles unter uns.«
Das Wiesel verschränkte die Arme. Der Müll in
seinen Taschen knisterte und schepperte. »Wir stehen uns nicht mehr
so nahe wie früher«, vertraute er Rebus an.
»Und an wen würde er sich für so ein Ding
wenden?«
Das Wiesel schüttelte den Kopf. »Wer so was verrät,
ist eine Ratte.«
»Ratten sind schlaue Tiere«, entgegnete Rebus. »Sie
wissen, wann man ein sinkendes Schiff verlassen muss.«
»Cafferty geht nicht unter«, sagte das Wiesel mit
einem traurigen Lächeln.
»Das hat man von der ›Titanic‹ auch behauptet«,
erwiderte Rebus.
Es gab nicht mehr viel zu sagen. Sie kehrten ins
Treppenhaus zurück. Das Wiesel ging zur Haustür, Rebus die Treppen
hinauf. Keine zwei Minuten, nachdem er seine Wohnung betreten
hatte, klopfte es an der Tür. Er war gerade im Bad, um Wasser in
die Wanne einzulassen. Er wollte das Wiesel auf keinen Fall
in seiner Wohnung haben. Es war der einzige Ort, an dem es ihm ab
und zu gelang, alles hinter sich zu lassen und so zu tun, als
führte er ein normales Leben. Es klopfte erneut, und er ging zur
Tür.
»Ja?«, rief er.
»DI Rebus? Sie sind verhaftet.«
Er schaute durch den Spion und öffnete dann die
Tür. Claverhouse stand vor ihm, mit einem Lächeln so dünn und
scharf wie ein Skalpell. »Wollen Sie mich nicht hereinbitten?«,
sagte er.
»Ich denke gar nicht dran.«
»Sie haben doch keine Gäste, oder?« Claverhouse
reckte den Hals, um einen Blick in den Flur zu werfen.
»Ich wollte gerade ein Bad nehmen.«
»Gute Idee. Würde ich an Ihrer Stelle auch
tun.«
»Wovon reden Sie?«
»Ich rede davon, dass Sie sich eben eine
Viertelstunde lang durch die Gegenwart von Caffertys rechter Hand
besudelt haben. Stattet er Ihnen öfter Hausbesuche ab? Ich hab Sie
doch nicht etwa beim Zählen des Bestechungsgelds gestört,
John?«
Rebus trat zwei Schritte vor und drängte
Claverhouse gegen das Treppengeländer. Es ging zwei Stockwerke tief
nach unten.
»Was wollen Sie, Claverhouse?«
Claverhouse’ gespielte Heiterkeit war aus seinem
Gesicht
verschwunden. Er hatte keine Angst vor Rebus; er war
stinksauer.
»Wir haben versucht, Cafferty zur Strecke zu
bringen«, fauchte er, »falls Sie das vergessen haben. Doch jetzt
sickern Gerüchte über unseren Fang durch, und das Wiesel hat seinem
Sohn irgend so einen Anwalt besorgt, der mir tierisch auf den Sack
geht. Also lassen wir ihn überwachen, und was passiert? Das Wiesel
stattet Ihnen einen Besuch ab.« Er bohrte Rebus einen Finger
in die Brust. »Wie wird das wohl in meinem Bericht aussehen,
Detective Inspector?«
»Lecken Sie mich, Claverhouse.« Immerhin wusste
Rebus jetzt, wo Ormiston war: Er beschattete das Wiesel.
»Ich Sie?« Claverhouse schüttelte den Kopf. »Sie
bringen da was durcheinander, Rebus. Sie sind derjenige, der
den Jungs in Barlinnie demnächst den Arsch lecken muss. Denn ich
schwöre Ihnen, wenn ich Sie mit Cafferty und seinen Geschäften in
Verbindung bringen kann, dann lasse ich Sie in dem tiefsten Loch
versenken, das je ein Mensch gegraben hat.«
»Ich nehme die Warnung zur Kenntnis«, sagte
Rebus.
»Die Macht des werten Mr Cafferty fängt an zu
bröckeln«, zischte Claverhouse. »Sie müssen sich entscheiden, auf
wessen Seite Sie stehen.«
Rebus dachte an die Worte des Wiesels: Cafferty
geht nicht unter. Und an das Lächeln, das diese Worte begleitet
hatte. Warum hatte das Wiesel so traurig gelächelt? Rebus
trat einen Schritt zurück und gab Claverhouse frei. Dieser
betrachtete das offenbar als Schuldeingeständnis.
»John«, er nannte ihn wieder beim Vornamen, »was
auch immer Sie verschweigen, Sie müssen endlich reinen Tisch
machen.«
»Danke für die Sorge um mich.« Rebus erkannte, was
Claverhouse wirklich war: ein zwanghafter Karrierist, der sich
unerreichbare Ziele gesteckt hatte. Cafferty zu schnappen - oder
zumindest einen Spion bei ihm einzuschleusen -, wäre
in seinen Augen der berufliche Durchbruch, und er war so sehr
darauf fixiert, dass er nichts anderes mehr sah. Er war völlig
besessen davon. Rebus empfand beinahe Mitleid mit ihm: War er nicht
selbst einmal so gewesen?
Claverhouse schüttelte den Kopf über so viel
Sturheit. »Das Wiesel ist heute selbst gefahren. Tut er das
vielleicht, weil Donny Dow sich aus dem Staub gemacht hat?«
»Sie wissen über Dow Bescheid?«
Claverhouse nickte. »Vielleicht weiß ich mehr, als
Sie ahnen, John.«
»Möglich«, sagte Rebus, um ihn zum Reden zu
bringen. »Zum Beispiel?«
Aber Claverhouse fiel nicht darauf herein. »Ich
habe heute Abend mit DCS Templer gesprochen. Sie fand es sehr
interessant, von Donny Dows Job als Chauffeur zu erfahren.« Er
machte eine Pause. »Aber für Sie war das nichts Neues,
stimmt’s?«
»Meinen Sie?«
»Sie klangen nicht besonders überrascht, als ich
Ihnen davon erzählte. Wenn ich’s mir recht überlege, klangen Sie
überhaupt nicht überrascht. Aber warum haben Sie es ihr dann nicht
erzählt? Sie haben mal wieder Ihr eigenes Süppchen gekocht, John.
Vielleicht wollten Sie auch nur Ihren Kumpel, das Wiesel,
schützen.«
»Er ist nicht mein Kumpel.«
»Sein Anwalt hat genau die richtigen Fragen
gestellt. Als hätte man ihn instruiert.« Claverhouse versuchte
jetzt seinerseits, Rebus nach hinten zu drängen, aber der wich
keinen Zentimeter zurück. Er hörte das Badewasser plätschern. Bald
würde die Wanne überlaufen. »Was hatte er hier zu suchen,
John?«
»Sie wollten doch, dass ich mit ihm spreche.«
Claverhouse hielt inne. Ein Hoffnungsschimmer
blitzte in seinen Augen auf. »Und?«
»War nett, mit Ihnen zu reden, Claverhouse«, sagte
Rebus.
»Grüßen Sie Ormie von mir, wenn Sie ihn eingeholt haben.« Er ging
in seine Wohnung zurück und schloss langsam die Tür. Claverhouse
rührte sich nicht vom Fleck, so als habe er vor, die ganze Nacht
dort auszuharren. Rebus trottete ins Bad und drehte den Hahn zu.
Das Wasser war kochend heiß, aber die Wanne war zu voll, um kaltes
zulaufen zu lassen. Er setzte sich auf die Toilette und stützte den
Kopf in die Hände. Ihm wurde plötzlich klar, dass er dem Wiesel im
Grunde mehr vertraute als Claverhouse.
Sie müssen sich entscheiden, auf wessen Seite
Sie stehen…
Rebus mochte nicht darüber nachdenken. Er wusste
immer noch nicht mit Sicherheit, ob man ihm nicht eine Falle
gestellt hatte. Wollte Strathern ihn schnappen, und Gray und die
anderen waren sein Köder? Und wenn Gray, Jazz und Ward tatsächlich
Dreck am Stecken hatten, wie sollte Rebus seinen Auftrag zu Ende
bringen, ohne selbst mit hineingezogen zu werden? Er stand auf und
ging ins Wohnzimmer, nahm sich die Whiskyflasche und ein Glas.
Schob die erstbeste CD in die Anlage. REM: »Out of Time«. Der Titel
war ihm noch nie so passend erschienen wie in diesem Moment. Er sah
die Whiskyflasche an, aber er wusste, dass er sie nicht anrühren
würde, nicht heute Abend. Er tauschte sie gegen das Telefon und
rief bei Jean an. Es meldete sich nur der Anrufbeantworter, und er
hinterließ eine weitere Nachricht. Er überlegte, ob er in die New
Town fahren und vielleicht bei Siobhan vorbeischauen sollte. Aber
das wäre ihr gegenüber nicht fair gewesen. Außerdem fuhr sie
vermutlich durch die Gegend.
Er schlich zur Tür und schaute durch den Spion. Es
war niemand zu sehen. Er lächelte bei dem Gedanken daran, wie er
Claverhouse stehen gelassen hatte.
Er ging wieder ins Wohnzimmer zurück, ans Fenster.
Draußen war niemand zu sehen. Die Stimme von Michael Stipe
schwankte zwischen Wut und Trauer.
John Rebus setzte sich in seinen Sessel, bereit,
der späten
Stunde Tribut zu zollen. Dann klingelte das Telefon - das musste
Jean sein.
Aber sie war es nicht.
»Wie geht’s, alter Freund?«, fragte Francis Gray in
dem grummelnden Singsang der Westküstler.
»Könnte besser gehen, Francis.«
»Keine Sorge, Onkel Francis heilt alle
Leiden.«
Rebus lehnte den Kopf zurück. »Wo bist du?«
»In der äußerst geschmackvoll eingerichteten Bar
von Tulliallan.«
»Und damit willst du meine Leiden heilen?«
»Wie kannst du mich für so herzlos halten? Nein,
alter Freund, ich rede von einem Jahrhunderttrip. Von zwei
Menschen, denen sich eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten und
Freuden eröffnet.«
»Hat man Ihnen was in den Whisky geschüttet, DI
Gray?«
»Ich rede von Glasgow, John. Und ich werde
dein Führer sein und dir zeigen, was der Westen zu bieten
hat.«
»Ist es dafür nicht schon ein bisschen spät?«
»Morgen früh … nur wir beide. Also sieh zu, dass du
beim ersten Hahnenschrei hier bist, sonst entgeht dir ein
Heidenspaß!«
In der Leitung war es plötzlich still. Rebus
starrte auf den Hörer und überlegte, ob er zurückrufen sollte. Gray
und er in Glasgow: Was hatte das zu bedeuten? Vielleicht hatte Jazz
mit Gray gesprochen und ihm von Rebus’ Angebot erzählt? Aber warum
Glasgow? Und warum nur sie beide? War Jazz dabei, von seinem alten
Freund abzurücken? Rebus’ Gedanken wanderten zum Wiesel und zu
Cafferty. Bündnisse und Bindungen konnten sich lösen. Loyalität
konnte aufgekündigt werden. Es gab immer Schwachstellen; Risse in
der sorgfältig errichteten Mauer. Bisher hatte Rebus Allan Ward für
den unsicheren Kantonisten gehalten... aber inzwischen tippte er
eher auf Jazz McCullough. Er ging ins Bad zurück und tauchte mit
zusammengebissenen Zähnen die Hand in
das kochend heiße Wasser, um den Stöpsel herauszuziehen. Dann ließ
er kaltes Wasser zulaufen. In der Küche holte er sich einen Becher
Kaffee und ein paar Vitamin-C-Tabletten. Noch mal ins Wohnzimmer.
Stratherns Bericht war unter einem Sofakissen versteckt.
Seine Badewannenlektüre...