16
Derek Linford war wenig begeistert. Rebus und dessen Kumpane belegten Vernehmungsraum 1, der größer war als VR 2, in dem Linford nun saß. Außerdem ließen sich in VR 2 die Fenster nicht öffnen. Es war eine stickige Kammer. Der schmale Schreibtisch war am Boden festgeschraubt. Hier wurden Leute verhört, die als gewalttätig galten. An der Wand war ein Doppelkassettenrekorder montiert und über der Tür eine Videokamera. Außerdem gab es einen als Lichtschalter getarnten Alarmknopf.
Linford hatte neben George Silvers Platz genommen. Ihnen gegenüber saß Donny Dow. Dow war klein und mager, aber seine straffen Schultern verrieten, dass er über einiges an Kraft verfügte. Sein Haar war glatt und blond - offenkundig gefärbt -, und er trug einen dunklen Dreitagebart. Goldene Stecker und Ringe zierten beide Ohren und ein weiterer Stecker die Nase. Eine kleine goldene Kugel glitzerte an der Stelle, wo seine Zunge gepierct war. Er hatte den Mund geöffnet und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne.
»Was arbeitest du zurzeit, Donny?«, fragte Linford. »Immer noch Türsteher?«
»Ich sag kein Wort, bis ihr mir erzählt, was hier los ist. Eigentlich müsste doch ein Anwalt dabei sein, oder?«
»Weshalb möchtest du denn angeklagt werden?«, fragte Silvers.
»Mit Drogen hab ich nichts zu tun.«
»Braver Junge.«
Dow verzog das Gesicht und zeigte Silvers den Stinkefinger.
»Wir interessieren uns für deine Ex«, erklärte Linford.
Dow zuckte nicht mit der Wimper. »Welche?«
»Alexanders Mutter.«
»Laura ist’ne Nutte«, erklärte Dow.
»Und das ließ sich nicht mit deinem strengen Moralkodex vereinbaren?«, fragte Silvers lächelnd. Aber Dow sah ihn nur verständnislos an - Fremdwörter schienen nicht seine Stärke zu sein.
»Was hat sie denn ausgefressen?«, fragte Dow an Linford gewandt.
»Uns interessiert ein Mann, mit dem sie zusammen war.«
»Zusammen war?«
Linford nickte. »Ein reicher Typ. Hat ihr eine schicke kleine Wohnung bezahlt. Na ja, so klein auch wieder nicht.«
Dow bleckte die Zähne und hieb mit den Fäusten auf den Tisch. »Diese elende Schlampe! Und so eine kriegt das Sorgerecht!«
»Hast du denn darum gekämpft?«
»Gekämpft?«
Kämpfen hatte für jemand wie Dow nur eine Bedeutung. »Ich meinte«, erklärte Linford, »ob du das Sorgerecht für Alexander haben wolltest?«
»Er ist mein Sohn.«
Linford nickte erneut, denn er wusste, die Antwort lautete nein.
»Wer ist dieses Arschloch? Dieser reiche Typ?«
»Ein Kunsthändler aus Duddingston Village.«
»Und die beiden sind in seiner Wohnung, sie und Alex? Vögelt da mit dem Dreckskerl! Und Alex ist gleich nebenan.« Dows Gesicht lief vor Wut dunkelrot an. Einen Moment lang war es still, und Linford hörte Stimmen - vielleicht ein Lachen - aus VR 1. Wahrscheinlich amüsierten sich diese Mistkerle gerade darüber, dass er in VR 2 verbannt worden war.
»Was hat das alles eigentlich mit mir zu tun?«, fragte Dow. »Wollt ihr mich auf die Palme bringen oder was?«
»Sie haben ein ziemlich umfangreiches Vorstrafenregister, Mr Dow«, sagte Silvers. Dows Akte lag auf dem Tisch, und Silvers tätschelte den braunen Pappdeckel.
»Was denn? Die paar Körperverletzungen? Ich bin schon so oft vermöbelt worden, das kann man gar nicht mehr zählen. Als ich noch Rausschmeißer war, da gab’s keine Woche, wo sich nicht irgendein Scheißkerl mit mir anlegen wollte. Aber so was steht da natürlich nicht drin.« Er wies auf die Akte. »Ihr Bullen, ihr seht nur die Sachen, die euch in den Kram passen.«
»Da könnte was dran sein, Donny«, meinte Silvers, während er sich zurücklehnte und die Arme verschränkte.
»Was wir sehen, Donny«, sagte Linford ruhig, »ist ein Mann mit einem Vorstrafenregister, der sich ziemlich aufregt, weil seine Ex ein Verhältnis mit einem anderen hat.«
»Scheiß auf die Alte! Die kann mich mal!« Dow schob seinen Stuhl zurück, stopfte die Hände in die Taschen und wippte mit den Beinen.
Linford tat so, als blätterte er noch einmal die Akte durch. »Mr Dow«, sagte er dann, »haben Sie zufällig etwas über einen Mord in dieser Stadt gelesen?«
»Nur, wenn’s im Sportteil stand.«
»Ein Kunsthändler, der vor seinem Haus in Duddingston Village mit mehreren Schlägen auf den Kopf umgebracht wurde.«
Dow hörte auf zu wippen. »Also, Moment mal...«, sagte er und hob abwehrend die Hände.
»Was sagtest du, womit du dein Geld verdienst?«, fragte George Silvers.
»He, was soll der Scheiß?«
»Lauras Kavalier ist tot, Donny«, sagte Linford.
»Und Sie haben als Rausschmeißer für Big Ger Cafferty gearbeitet, stimmt’s?«, fragte Silvers. Das war für Dow zu viel auf einmal. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Er konnte nicht klar denken und wusste, wenn er jetzt etwas sagte - irgendetwas - dann würde er vielleicht...
Es klopfte an der Tür, und Siobhan Clarke streckte ihren Kopf ins Zimmer.
»Ist noch ein Platz für mich frei?«, fragte sie. Als sie die finsteren Blicke ihrer beiden Kollegen sah, wollte sie wieder kehrtmachen. Aber in dem Moment sprang Dow auf und rannte zur Tür. Silvers versuchte ihn festzuhalten, aber Dow versetzte ihm einen Handkantenschlag gegen den Hals. Silvers röchelte und griff sich an den Kragen. Linford konnte nicht eingreifen, weil er zwischen Silvers, dem Tisch und der Wand eingeklemmt war. Dow stieß Silvers mit einem Fußtritt gegen Linford, der gerade die Hand nach dem Alarmknopf ausstreckte. Siobhan versuchte, die Tür von außen zu schließen, aber Dow war stärker als sie. Er riss die Tür auf, packte Siobhan an den Haaren und schleuderte sie ins Zimmer. Auf dem Flur ertönte der Alarm, trotzdem rannte er los. Im Raum nebenan saßen ein paar Männer; sie blickten auf, als er vorbeirannte. Nur noch um eine Ecke und durch ein paar Türen, dann hätte er es geschafft.
In VR 2 war Silvers auf seinem Stuhl zusammengesackt und rang immer noch nach Luft. Linford schob sich an ihm vorbei. Siobhan stand vom Boden auf und befühlte ihren Kopf; Dow hatte ihr anscheinend ein ganzes Büschel Haare ausgerissen.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, schrie sie. Linford beachtete sie nicht und lief auf den Flur hinaus. Sein linkes Bein tat weh, weil Silvers dagegengeknallt war. Am schlimmsten aber hatte es seinen Stolz getroffen. »Wo ist er hin?«, brüllte er.
Tam Barclay und Allan Ward sahen sich an und deuteten dann beide Richtung Ausgang.
»Er ist da entlang, Sheriff«, sagte Ward mit einem Grinsen. Dummerweise hatte niemand Dow beim Verlassen des Gebäudes gesehen. Der Haupteingang wurde von Kameras überwacht, und Linford bat die Einsatzzentrale, das Band abzuspielen. In der Zwischenzeit lief er von Büro zu Büro, schaute unter die Tische und durchsuchte die wenigen begehbaren Schränke der Wache. Als er in die Einsatzzentrale zurückkam, lief dort gerade das Band mit der Aufzeichnung: Donny Dow, in Farbe und Zeitraffer, wie er durch den Haupteingang nach draußen stürmte.
»Alle verfügbaren Kräfte müssen die Umgebung durchkämmen!«, rief Linford. »Im Wagen oder zu Fuß. Gebt allen die Beschreibung durch!« Die uniformierten Beamten sahen sich an.
»Na los, worauf wartet ihr noch?«, schnauzte Linford sie an.
»Ich glaube, sie warten auf mein Okay, Derek«, hörte er eine Stimme hinter sich.
DCS Gill Templer.
 
»Aua!«, rief Siobhan. Sie saß an ihrem Schreibtisch, und Phyllida Hawes besah sich die Kopfverletzung.
»Da fehlt ein Stückchen Haut«, stellte Hawes fest. »Aber die Haare wachsen wieder nach.«
»Fühlt sich wahrscheinlich schlimmer an, als es ist«, meinte Allan Ward. Der Vorfall in VR 2 schien Schranken eingerissen zu haben:Ward war in Begleitung von Gray, McCullough und Rebus aufgetaucht, während Gill Templer sich von Linford und Silvers in ihrem Büro Bericht erstatten ließ.
»Ich heiße übrigens Allan«, sagte Ward zu Phyllida Hawes. Sie nannte ihm ihren Vornamen, und er meinte, dass es ein ungewöhnlicher Name sei. Er lauschte aufmerksam ihrer Erklärung, als Siobhan aufstand und wegging. Keiner der beiden schien es zu bemerken.
Rebus stand an der Rückwand des Raums und betrachtete mit verschränkten Armen das dort aufgehängte Material zum Fall Marber.
»Der geht aber ganz schön ran«, sagte Siobhan. Rebus wandte den Kopf und beobachtete die Unterhaltung zwischen Ward und Hawes.
»Sie sollten sie warnen«, erklärte er. »Ich weiß nicht genau, ob Allan koscher ist.«
»Vielleicht gefällt ihr das ja.« Siobhan betupfte die kahle Stelle auf ihrem Scheitel. Sie brannte höllisch.
»Das ist ein Grund, sich krankzumelden«, erklärte Rebus. »Ein paar Kollegen von uns sind wegen so was in Frührente gegangen. Die psychischen Nachwirkungen sind nicht zu unterschätzen.«
»So leicht wird man mich nicht los«, erwiderte sie. »Wieso sind Sie eigentlich nicht bei der Jagd auf Donny Dow dabei?«
»Sie wissen doch: Das hier ist nicht unsere Party.« Rebus ließ den Blick durch den Raum schweifen. Hawes lauschte Wards Gesülze; Jazz McCullough hatte mit Bill Pryde und Davie Hynds ein Gespräch angefangen; Francis Gray saß auf einem Tisch und ließ ein Bein baumeln, während er eine Akte durchblätterte. Er bemerkte Rebus’ Blick und zwinkerte ihm zu, rutschte dann vom Tisch und kam zu ihnen herüber.
»So einen Fall hätten sie uns geben sollen, was, John?«
Rebus nickte, schwieg aber. Gray schien den Wink zu verstehen, denn er trollte sich nach ein paar mitfühlenden Worten für Siobhan, ging zu einem der anderen Tische und griff erneut nach einer Akte.
»Ich muss mit Gill sprechen«, sagte Siobhan leise, den Blick auf die geschlossene Tür zu Templers Büro gerichtet.
»Wollen Sie sich also doch krankmelden?«
Siobhan schüttelte den Kopf. »Es geht um Donny Dow. Als ich neulich bei Cafferty war, stand ein Wagen vor der Tür. Hinten drin saß das Wiesel und am Steuer Donny.«
Rebus starrte sie an. »Sind Sie sicher, dass er es war?«
»Zu neunzig Prozent. Ich hab ihn allerdings nur ein paar Sekunden lang gesehen.«
»Dann sollten wir mal mit dem Wiesel reden.«
Sie nickte. »Aber erst, wenn die Chefin es abgesegnet hat.«
»Wenn Sie unbedingt wollen.«
»Sie haben doch selbst gesagt: Das ist nicht Ihre Party.«
Rebus machte ein nachdenkliches Gesicht. »Wie wär’s, wenn Sie es vorläufig für sich behalten würden?«
Sie sah ihn verständnislos an.
»Und ich mich erst mal diskret beim Wiesel erkundige«, fuhr Rebus fort.
»Dann würde ich Informationen zurückhalten.«
»Nein, Sie würden nur eine vage Vermutung zurückhalten... Es könnte doch einfach noch einen Tag dauern, bis Sie zu der Überzeugung kommen, dass Dow der Chauffeur vom Wiesel war.«
»John…« Wortlos sprach sie damit eine Bitte aus. Sie wollte, dass er sie einweihte, teilhaben ließ, ihr vertraute.
»Ich habe meine Gründe«, sagte er, kaum lauter als ein Flüstern. »Das Wiesel könnte mir vielleicht behilflich sein.«
Sie brauchte volle dreißig Sekunden, um sich zu entscheiden. »Also gut«, sagte sie dann. Er berührte ihren Arm.
»Danke«, sagte er. »Dafür bin ich Ihnen etwas schuldig. Hätten Sie Lust, heute Abend mit mir essen zu gehen? Ich zahle.«
»Haben Sie schon bei Jean angerufen?«
Sein Blick verdüsterte sich. »Ich hab’s versucht. Entweder ist sie nicht da, oder sie geht nicht dran.«
»Sie sollten lieber mit ihr essen gehen.«
»Ich hätte sie gleich an dem Abend anrufen sollen.«
»Sie hätten ihr an dem Abend hinterherlaufen und sie inständig um Verzeihung bitten sollen.«
»Ich versuch’s weiter.«
»Und schicken Sie ihr Blumen.« Sie musste unwillkürlich lächeln, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. »Das letzte Mal, als Sie jemandem Blumen geschickt haben, war das ein Kranz, hab ich Recht?«
»Schon möglich«, gab er zu. »Jedenfalls hab ich in meinem Leben garantiert mehr Kränze als Sträuße gekauft.«
»Na, dann passen Sie gut auf, dass Sie nichts Falsches bestellen. Im Telefonbuch stehen übrigens jede Menge Blumenläden.«
Er nickte. »Sobald ich mit dem Wiesel gesprochen habe«, sagte er und ging zur Tür. Es gab Anrufe, die man besser per Handy führte als von einem Bürotelefon aus. Und Rebus hatte zwei solcher Anrufe zu erledigen.
 
Das Wiesel war leider nicht im Büro, und Rebus musste sich mit dem halbherzigen Versprechen, dass man die Nachricht weiterleiten werde, zufrieden geben.
»Danke«, sagte er. »Ach, übrigens, ist Donny zufällig zu sprechen?«
»Was für ein Donny?«, wollte die Stimme wissen, dann wurde die Verbindung unterbrochen. Rebus fluchte, holte die Gelben Seiten aus der Einsatzzentrale und ging dann auf den Parkplatz, um einen Blumenladen anzurufen. Er bestellte einen bunten Strauß.
»Welche Blumen mag die Dame denn am liebsten?«, wurde er gefragt.
»Keine Ahnung.«
»Ach so, und wie steht es mit Farben?«
»Stellen Sie doch einfach was Hübsches zusammen, ja? So ungefähr für zwanzig Pfund.« Er leierte seine Kreditkartennummer herunter, und die Sache war erledigt. Als er das Handy in die Tasche steckte und gegen Zigaretten und Feuerzeug tauschte, fiel ihm ein, dass er überhaupt keine Ahnung hatte, was man für zwanzig Pfund bekam. Ein halbes Dutzend verblühte Nelken oder ein protziges Bukett? Wie auch immer, die Blumen würden jedenfalls heute Abend um halb sieben zu Jean nach Hause geliefert. Er fragte sich, was wohl passieren würde, falls sie Überstunden machte: Würde der Bote den Strauß vor die Tür legen, wo jeder Gelegenheitsdieb ihn klauen konnte? Oder ihn wieder mitnehmen und es am nächsten Tag noch einmal versuchen?
Er machte einen tiefen Zug an der Zigarette. Ständig entpuppte sich irgendetwas als viel komplizierter als ursprünglich angenommen. Allerdings musste er bei näherer Betrachtung zugeben, dass er die meisten Komplikationen selbst verursachte, weil er immer mit dem Schlimmsten rechnete, statt das Beste zu hoffen. Er war schon in jungen Jahren zum Pessimisten geworden und hielt diese Einstellung nach wie vor für eine gute Vorbereitung aufs Leben. Als Pessimist rechnete man damit, dass alles schief ging, und wenn wider Erwarten etwas klappte, war man angenehm überrascht.
»Ich bin zu alt, um mich noch zu ändern«, murmelte er.
»Na, führst du schon Selbstgespräche?« Allan Ward war gerade dabei, eine neue Schachtel von ihrer Zellophanhülle zu befreien.
»Was ist? Hast du DC Hawes mit deinem Gesülze nicht beeindrucken können?«
Ward nickte bedächtig. »Sie ist so wenig beeindruckt«, sagte er und zündete sich eine Zigarette an, »dass sie heute Abend mit mir essen geht. Irgendwelche Tipps auf Lager?«
»Tipps?«
»Wie man sie am schnellsten flachlegt.«
Rebus schnippte die Asche von seiner Zigarette. »Sie ist eine gute Polizistin, Allan. Und außerdem mag ich sie.Wenn ihr jemand wehtut, nehm ich das persönlich übel.«
»War doch bloß ein Scherz«, verteidigte sich Ward. Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Bloß weil du auf Entzug bist -«
Rebus fuhr herum, packte Ward am Kragen und drückte ihn mit dem Rücken an die Hauswand. Ward fiel die Zigarette aus dem Mund, als er versuchte, Rebus wegzustoßen. Ein Streifenwagen bog in die Einfahrt ein, und die Uniformierten beobachteten interessiert das Schauspiel. Dann wurden die beiden Männer plötzlich von zwei Händen gepackt und voneinander getrennt. Die Hände gehörten Derek Linford.
»Aber meine Damen«, sagte er tadelnd. »Bitte keine Handgreiflichkeiten.«
Ward zog seine Jacke zurecht. »Was machen Sie denn hier? Wollen Sie unter den Autos nach dem vermissten Verdächtigen suchen?« Speichel spritzte ihm aus dem Mund.
»Nein«, sagte Linford, aber er ließ den Blick trotzdem über den Parkplatz wandern - man konnte ja nie wissen. »Eigentlich wollte ich nur nachsehen, ob ich hier draußen ein paar Raucher finde.«
»Sie rauchen doch gar nicht«, erinnerte Rebus ihn. Sein Atem ging schwer.
»Ich dachte mir, vielleicht sollte ich damit anfangen. Es gäbe wirklich kaum einen besseren Zeitpunkt.«
Ward lachte und schien Rebus völlig vergessen zu haben. »Willkommen im Klub«, sagte er und hielt Linford sein Päckchen hin. »Templer hat Sie wohl ziemlich runtergeputzt, was?«
»Wissen Sie, vor allem ist mir die Sache verdammt peinlich«, gestand Linford mit einem verlegenen Grinsen, während Ward ihm Feuer gab.
»Vergessen Sie’s. Alle sagen, dass Dow Kickboxer ist. Mit so einem legt man sich besser nicht an.«
Wards Bemerkung schien Linford aufzumuntern. Rebus wunderte sich über Linford. Er hatte sie bei einer Rangelei erwischt, ohne nach dem Grund zu fragen - offenbar war er zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Rebus beschloss, die beiden allein zu lassen.
»He, John, nichts für ungut, okay?«, rief Ward plötzlich. Rebus antwortete nicht. Jetzt, da Ward ihn daran erinnert hatte, würde Linford bestimmt nach dem Grund für ihre Auseinandersetzung fragen, und sein neuer Busenfreund würde ihm von dem Abend in Edinburgh und von Jean erzählen.
Dadurch hatte Linford plötzlich etwas gegen ihn in der Hand. Rebus fragte sich, wann er es als Munition verwenden würde. Er begann sogar, sich Sorgen zu machen, weil Linford für ihn bei den Ermittlungen im Fall Marber eingesprungen war. Warum ausgerechnet Linford? Rebus spürte, wie er sich innerlich immer mehr verkrampfte. Er ließ die Schultern kreisen und dehnte den Nacken. Ihm fiel ein Graffito ein, das er einmal gesehen hatte: Paranoid zu sein, ist keine Garantie, dass niemand hinter einem her ist. Wurde er langsam paranoid? Sah er überall nur noch Fallstricke und Feinde? Er verfluchte Strathern, weil er ihn für diesen Auftrag ausgesucht hatte. Wenn ich nicht mal dem Mann vertraue, für den ich arbeite, dachte Rebus, wie kann ich da überhaupt jemandem vertrauen? Ein Kollege, der im Fall Marber ermittelte, lief an ihm vorbei, und Rebus stellte sich vor, wie schön es wäre, an einem Schreibtisch im Mordbüro zu sitzen, ein paar Routineanrufe zu erledigen und dabei genau zu wissen, wie unbedeutend die eigene Arbeit war. Stattdessen schaufelte er sich, wie es ihm schien, eifrig sein eigenes Grab. Er hatte Jazz mit einer »Idee« geködert, einem Plan, wie sie an Geld kommen konnten. Jetzt musste er sich nur noch etwas einfallen lassen...
 
An diesem Abend ging Rebus allein aus. Der Crew hatte er erzählt, er müsse noch etwas erledigen, würde aber vielleicht später nachkommen. Sie hatten sich noch nicht entschieden, ob sie gleich nach Tulliallan fahren oder erst noch in Edinburgh etwas trinken wollten. Jazz zog es nach Broughty Ferry, aber sein Wagen stand auf dem Parkplatz der Akademie. Ward spielte mit dem Gedanken, Phyllida Hawes zu einem Mexikaner in der Nähe von St. Leonard’s einzuladen. Während sie noch die verschiedenen Strategien und Alternativen diskutierten, verdrückte Rebus sich. Nach den ersten drei Bieren in der Oxford Bar, in der er mit halbem Ohr den neuesten Witzen gelauscht hatte, bekam er Hunger. Aber wo sollte er hingehen? Er wollte auf keinen Fall riskieren, irgendwo auf Ward und Hawes zu stoßen und sie beim Turteln zu stören. Natürlich konnte er sich zu Hause etwas kochen; aber er wusste, dass er das doch nicht tun würde. Trotzdem - vielleicht sollte er besser nach Hause gehen.Womöglich rief Jean an. Ob sie die Blumen schon bekommen hatte? Das Handy in seiner Tasche war eingeschaltet, damit sie ihn jederzeit erreichen konnte. Schließlich bestellte er sich noch ein Bier und deutete auf das letzte Scotch Egg.
»Das liegt bestimmt schon seit heute Mittag rum, oder?«, fragte er Harry, den Barkeeper.
»Ich war heute Mittag nicht hier.Wollen Sie’s oder nicht?«
Rebus nickte. »Und ein Päckchen Nüsse.« Manchmal wünschte er sich, die Oxford Bar würde das Angebot an fester Nahrung etwas erweitern. Er erinnerte sich, wie der frühere Eigentümer Willie Ross einmal einen bedauernswerten Gast nach draußen gezerrt hatte, nur weil er es gewagt hatte, nach der Speisekarte zu fragen. Willie hatte auf das Schild draußen über der Tür gezeigt und gefragt: »Was steht da oben: ›Bar‹ oder ›Restaurant‹?« Rebus bezweifelte, dass der Mann Stammgast geworden war.
Es herrschte an diesem Abend wenig Betrieb im Ox. Rebus saß allein an der Theke. Aus dem Nebenraum drang leises Gemurmel herüber. Als sich die Eingangstür knarrend öffnete, drehte er sich nicht einmal um.
»Darf ich dir einen ausgeben«, hörte er eine Stimme hinter sich. Es war Gill Templer. Rebus straffte den Rücken.
»Ich lade dich ein«, sagte er. Sie hatte sich schon auf einen Barhocker gesetzt und ließ ihre Umhängetasche zu Boden gleiten. »Was nimmst du?«
»Ich muss noch fahren. Besser nur ein kleines Deuchars.« Sie überlegte einen Moment. »Nein, doch lieber einen Gin Tonic.« Der Fernseher lief ohne Ton, und ihr Blick wanderte zu ihm hinüber. Eine Reportage des Discovery Channel - Harrys Lieblingssender.
»Was läuft denn da gerade?«, fragte Gill.
»Harry schaltet immer diesen Mist ein, um die Kunden zu vergraulen«, erklärte Rebus.
»Stimmt«, sagte Harry. »Funktioniert ja auch bestens, nur bei dem Trottel nicht.« Er wies mit dem Kopf auf Rebus. Gill lächelte matt.
»Anstrengender Tag heute?«, fragte Rebus.
»Kommt schließlich nicht jeden Tag vor, dass jemand aus einem Vernehmungsraum abhaut.« Sie sah ihn von der Seite an. »Dir bereitet die Sache doch sicher große Freude, oder?«
»Wieso?«
»Na ja, immerhin hat Linford sich ziemlich blamiert.«
»Ganz so mies bin ich dann doch nicht...«
»Nicht?« Sie überlegte. »Er scheint es allerdings zu sein. Es geht das Gerücht, du hättest dich mit jemandem von deinem Tulliallan-Trupp auf dem Parkplatz geprügelt.«
Linford hatte also bereits geplaudert.
»Ich fand, ich sollte dich lieber warnen«, fuhr sie fort. »Vermutlich ist es inzwischen DCI Tennant zu Ohren gekommen.«
»Bist du eigens hergekommen, um mir das zu sagen?«
Sie zuckte mit den Achseln.
»Danke«, sagte er.
»Eigentlich wollte ich noch über etwas anderes mit dir reden.«
»Hör zu, wenn es um den Becher Tee geht.«
»Sei ehrlich John, du hast ihn absichtlich mit so viel Schmackes geworfen.«
»Wenn ich ihn mit dem kleinen Finger vom Tisch geschubst hätte, wär das wohl kaum ein Grund gewesen, mich zum Straflehrgang abzukommandieren.« Rebus bezahlte ihr Getränk und hob das Glas, um mit ihr anzustoßen.
»Prost«, sagte sie, nahm einen großen Schluck und atmete aus.
»Schon besser?«, fragte er.
»Eindeutig«, bestätigte sie.
Er lächelte. »Und da fragen sich die Leute, warum man trinkt.«
»Ich werde es allerdings bei dem einen Glas belassen - und wie steht’s bei dir?«
»Wärst du mit einem groben Überblick zufrieden?«
»Ich wär zufrieden, wenn du mir erzählen würdest, wie es in Tulliallan läuft.«
»Viel hab ich bisher nicht erreicht.«
»Und wird sich das noch ändern?«
»Vielleicht.« Er machte eine Pause. »Wenn ich das eine oder andere Risiko eingehe.«
»Aber vorher redest du mit Strathern, hörst du?«, sagte sie.
Er nickte, sah aber, dass sie ihm nicht glaubte.
»John...«
Der gleiche Tonfall, den Siobhan ein paar Stunden zuvor angeschlagen hatte. Hör mir zuVertrau mir
Er sah Gill an. »Du könntest dir ein Taxi nehmen.«
»Ja, und?«
»Dann könntest du jetzt noch was trinken.«
Sie warf einen Blick auf ihr Glas. Es war fast nur noch Eis darin. »Einen schaffe ich noch«, meinte sie schließlich. »Aber diese Runde geht auf mich. Was nimmst du?«
 
Nach dem dritten Gin Tonic vertraute sie ihm an, dass sie gerade eine Beziehung hinter sich hatte. Neun Monate hatte sie gedauert, dann war die Sache im Sand verlaufen.
»Das hast du aber gut geheim gehalten.«
»Nie im Leben hätte ich ihn euch vorgestellt.« Sie spielte mit ihrem Glas und betrachtete die Lichtmuster, die es auf die Theke warf. Harry hatte sich ans andere Ende des kleinen Raums verzogen. Ein weiterer Stammgast war gekommen, und die beiden unterhielten sich über Fußball.
»Wie läuft es denn bei dir und Jean?«, erkundigte sich Gill.
»Wir hatten gerade ein kleines Missverständnis«, gestand Rebus.
»Willst du darüber reden?«
»Nein.«
»Soll ich zwischen euch vermitteln?«
Er schüttelte den Kopf. Gill war mit Jean befreundet; sie hatte die beiden miteinander bekannt gemacht. Er wollte sie nicht in eine unangenehme Lage bringen. »Trotzdem vielen Dank«, sagte er. »Wir kriegen das schon wieder hin.«
Sie sah auf ihre Uhr. »Ich sollte mich besser auf den Weg machen.« Sie rutschte vom Stuhl und hob ihre Tasche auf. »Gar nicht so übel hier«, erklärte sie und betrachtete das verblasste Dekor der Bar. »Ich geh vielleicht noch kurz einen Happen essen. Hast du schon gegessen?«
»Ja«, log er. Ein Abendessen mit Gill wäre ihm fast wie ein Seitensprung vorgekommen. »Ich hoffe, du willst in diesem Zustand nicht mehr fahren!«, rief er ihr nach.
»Mal sehen, wie ich mich fühle, wenn ich draußen bin.«
»Denk lieber dran, wie mies du dich morgen fühlen wirst, wenn du eine Anzeige wegen Trunkenheit am Steuer am Hals hast!«
Sie winkte kurz und verschwand. Rebus blieb noch auf ein Bier. Ihr Parfüm hing in der Luft. Er roch es am Ärmel seines Jacketts und überlegte, ob er Jean nicht lieber Parfüm statt Blumen hätte schicken sollen. Aber dann fiel ihm ein, dass er gar nicht wusste, welche Marke sie benutzte. Sein Blick glitt über das Regal hinter der Theke - vermutlich könnte er bei Bedarf die Namen von über zwei Dutzend Whiskys auswendig hersagen.
Zwei Dutzend Whiskys, aber keinen blassen Schimmer, welches Parfüm Jean Burchill verwendete.
 
Als er in der Arden Street die Haustür öffnete, nahm er einen Schatten auf der Treppe wahr: Jemand kam herunter. Vielleicht ein Nachbar, aber das war eher unwahrscheinlich. Er drehte sich um, doch auf der Straße war niemand zu sehen. Anscheinend kein Hinterhalt. Als Erstes tauchten die Füße auf, dann die Beine und der Rest.
»Was tun Sie denn hier?«, zischte Rebus.
»Ich hab gehört, dass Sie mit mir sprechen wollen«, antwortete das Wiesel. Er hatte den Fuß der Treppe erreicht. »Das trifft sich gut. Ich will nämlich auch mit Ihnen reden.«
»Sind Sie allein?«
Das Wiesel nickte. »Mein Chef wär mit diesem Treffen bestimmt nicht einverstanden.«
Rebus schaute sich erneut um. Er wollte das Wiesel nicht in seiner Wohnung haben. Ein Pub wäre gut, aber wenn er noch mehr trank, würde er nicht mehr klar denken können. »Kommen Sie mit«, sagte er, schob sich am Wiesel vorbei und ging zur Hintertür. Er schloss auf und öffnete sie mit einem Ruck. Der Garten des Hauses wurde kaum genutzt. Ein Stückchen Rasen mit ein paar Wäscheleinen; das Gras stand fast einen halben Meter hoch und war von schmalen Beeten gesäumt, in denen nur besonders zähe Pflanzen gediehen. Kurz nachdem Rebus und seine Frau hier eingezogen waren, hatte sie das Unkraut durch Sämlinge ersetzt. Schwer zu sagen, ob einige davon bis heute überlebt hatten. Der Garten wurde durch einen schmiedeeisernen Zaun von den Nachbargrundstücken getrennt. Gemeinsam bildeten die Gärten ein großes Rechteck, das von mehrstöckigen Wohnhäusern umschlossen war. In vielen Fenstern brannte Licht, so dass es hell genug war für dieses Gespräch.
»Was gibt’s?«, fragte Rebus und kramte nach einer Zigarette.
Das Wiesel hatte sich gebückt, um eine leere Bierdose aufzuheben, die er nun zusammendrückte und in die Manteltasche steckte. »Aly geht’s gut.«
Rebus nickte. Er hatte den Sohn des Wiesels schon fast vergessen. »Haben Sie meinen Rat befolgt?«
»Sie haben ihn zwar noch nicht von der Angel gelassen, aber mein Anwalt meint, wir haben gute Karten.«
»Hat man ihn angeklagt?«
Das Wiesel nickte. »Aber nur wegen Drogenbesitzes: der Joint, den er geraucht hat, als sie ihn geschnappt haben.«
Rebus nickte. Claverhouse ging vorsichtig zu Werke.
»Ich befürchte nur leider«, fuhr das Wiesel fort, während er neben dem Beet in die Hocke ging, um eine leere Chipstüte und ein paar Bonbonpapiere aufzusammeln, »dass mein Chef Wind von der Sache bekommen hat.«
»Weiß er auch über Aly Bescheid?«
»Nein, ich glaube nicht... nur über die Ladung Stoff.«
Rebus zündete seine Zigarette an. Cafferty hatte seine Augen und Ohren überall. Es genügte, wenn der Typ vom Polizeilabor mit einem seiner Kollegen darüber sprach und dieser es einem Freund erzählte. Claverhouse würde diese Ladung Drogen auf keinen Fall lange geheimhalten können. Trotzdem -
»Vielleicht ist das sogar günstig für Sie«, meinte Rebus. »Dann ist Claverhouse gezwungen, etwas zu unternehmen.«
»Sie meinen, zum Beispiel Aly anzuklagen?«
Rebus zuckte mit den Achseln. »Oder die Sache der Zollbehörde zu übergeben, damit sich alle im Erfolg sonnen können.«
»Und was wird dann aus Aly?« Das Wiesel war aufgestanden. Es raschelte in seinen vollgestopften Taschen.
»Wenn er sich kooperativ zeigt, könnte er mit einer geringen Strafe davonkommen.«
»Cafferty wird ihn trotzdem drankriegen.«
»Dann sollten Sie ihm vielleicht zuvorkommen. Geben Sie den Leuten vom Drogendezernat, was sie haben wollen.«
Das Wiesel überlegte. »Ich soll Cafferty verpfeifen?«
»Jetzt erzählen Sie mir nicht, dass Sie noch nie daran gedacht haben.«
»Oh, ich hab schon öfter daran gedacht. Aber Mr Cafferty war immer sehr gut zu mir.«
»Trotzdem gehört er nicht zur Ihrer Familie. Er ist kein Blutsverwandter.«
»Nein«, sagte das Wiesel und zog die Silbe in die Länge.
»Darf ich Sie etwas fragen?« Rebus schnippte Asche von seiner Zigarette.
»Was denn?«
»Haben Sie eine Ahnung, wo Donny Dow steckt?«
Das Wiesel schüttelte den Kopf. »Ich hab nur gehört, dass er auf die Wache bestellt worden ist.«
»Er ist abgehauen.«
»Das war dumm von ihm.«
»Aus diesem Grund wollte ich mit Ihnen sprechen: Wir werden Leute losschicken, die mit all seinen Freunden und Bekannten reden sollen. Sie werden doch sicher mithelfen, ihn zu finden?«
»Selbstverständlich.«
Rebus nickte. »Gehen wir also davon aus, dass Cafferty von den Drogen gehört hat - was wird er Ihrer Meinung nach unternehmen?«
»Erstens wird er in Erfahrung bringen wollen, wie sie hergekommen sind.« Das Wiesel schien nicht weiterreden zu wollen.
»Und zweitens?«
»Hat jemand gesagt, dass es ein Zweitens gibt?«
»Ist doch meist so, wenn es vorher ein Erstens gab.«
»Na gut. Zweitens wird er vielleicht beschließen, sie sich zu holen.«
Rebus betrachtete die Spitze seiner Zigarette. Aus den Häusern ringsum waren alltägliche Geräusche zu hören: Musik, ein Fernseher, das Klappern von Geschirr. Silhouetten hinter den Fenstern … normale Leute, die ein normales Leben führten und allesamt dachten, sie wären anders als alle anderen.
»Hat Cafferty etwas mit dem Mord an Marber zu tun?«, fragte er.
»Bin ich etwa Ihr Spitzel?«, gab das Wiesel zurück.
»Nein, und das sollen Sie auch nicht werden. Aber eine Frage wird doch wohl erlaubt sein.«
Der kleine Mann bückte sich erneut, so als habe er etwas im Gras entdeckt, aber da war nichts, und er richtete sich langsam wieder auf.
»Anderer Leute Dreck«, murmelte er. Es klang wie ein Mantra. Vielleicht dachte er an seinen Sohn oder auch an Cafferty: Immer musste er deren Dreck wegräumen. Dann schaute er Rebus in die Augen. »Woher soll ich das wissen?«
»Ich sag ja nicht, dass es Cafferty selbst war. Eher einer von seinen Leuten, jemand, den er angeheuert hat - wahrscheinlich mit Ihrer Hilfe, damit er sich nicht die Hände schmutzig macht. Cafferty hat schon immer dafür gesorgt, dass andere den Kopf für ihn hinhalten.«
Das Wiesel schien darüber nachzudenken. »Ist das der Grund, warum die beiden Polizisten neulich bei uns waren? Um Fragen über Marber zu stellen?« Rebus nickte. »Der Chef wollte nicht sagen, worum es ging.«
»Ich dachte, er vertraut Ihnen«, bemerkte Rebus.
Das Wiesel schwieg einen Moment. »Ich weiß, dass er Marber kannte«, sagte er schließlich mit leiser Stimme. »Ich glaube, er konnte ihn nicht besonders gut leiden.«
»Mir wurde zugetragen, er habe von Marber keine Gemälde mehr kaufen wollen. Hatte er vielleicht herausgefunden, dass Marber seine Kunden betrog?«
»Keine Ahnung.«
»Halten Sie es denn für möglich?«
»Das schon«, räumte das Wiesel widerstrebend ein.
»Sagen Sie…«, Rebus senkte ebenfalls die Stimme, »… würde Cafferty ein Ding planen, ohne Sie einzuweihen?«
»Erwarten Sie etwa, dass ich mich selbst belaste?«
»Das hier bleibt alles unter uns.«
Das Wiesel verschränkte die Arme. Der Müll in seinen Taschen knisterte und schepperte. »Wir stehen uns nicht mehr so nahe wie früher«, vertraute er Rebus an.
»Und an wen würde er sich für so ein Ding wenden?«
Das Wiesel schüttelte den Kopf. »Wer so was verrät, ist eine Ratte.«
»Ratten sind schlaue Tiere«, entgegnete Rebus. »Sie wissen, wann man ein sinkendes Schiff verlassen muss.«
»Cafferty geht nicht unter«, sagte das Wiesel mit einem traurigen Lächeln.
»Das hat man von der ›Titanic‹ auch behauptet«, erwiderte Rebus.
Es gab nicht mehr viel zu sagen. Sie kehrten ins Treppenhaus zurück. Das Wiesel ging zur Haustür, Rebus die Treppen hinauf. Keine zwei Minuten, nachdem er seine Wohnung betreten hatte, klopfte es an der Tür. Er war gerade im Bad, um Wasser in die Wanne einzulassen. Er wollte das Wiesel auf keinen Fall in seiner Wohnung haben. Es war der einzige Ort, an dem es ihm ab und zu gelang, alles hinter sich zu lassen und so zu tun, als führte er ein normales Leben. Es klopfte erneut, und er ging zur Tür.
»Ja?«, rief er.
»DI Rebus? Sie sind verhaftet.«
Er schaute durch den Spion und öffnete dann die Tür. Claverhouse stand vor ihm, mit einem Lächeln so dünn und scharf wie ein Skalpell. »Wollen Sie mich nicht hereinbitten?«, sagte er.
»Ich denke gar nicht dran.«
»Sie haben doch keine Gäste, oder?« Claverhouse reckte den Hals, um einen Blick in den Flur zu werfen.
»Ich wollte gerade ein Bad nehmen.«
»Gute Idee. Würde ich an Ihrer Stelle auch tun.«
»Wovon reden Sie?«
»Ich rede davon, dass Sie sich eben eine Viertelstunde lang durch die Gegenwart von Caffertys rechter Hand besudelt haben. Stattet er Ihnen öfter Hausbesuche ab? Ich hab Sie doch nicht etwa beim Zählen des Bestechungsgelds gestört, John?«
Rebus trat zwei Schritte vor und drängte Claverhouse gegen das Treppengeländer. Es ging zwei Stockwerke tief nach unten.
»Was wollen Sie, Claverhouse?«
Claverhouse’ gespielte Heiterkeit war aus seinem Gesicht verschwunden. Er hatte keine Angst vor Rebus; er war stinksauer.
»Wir haben versucht, Cafferty zur Strecke zu bringen«, fauchte er, »falls Sie das vergessen haben. Doch jetzt sickern Gerüchte über unseren Fang durch, und das Wiesel hat seinem Sohn irgend so einen Anwalt besorgt, der mir tierisch auf den Sack geht. Also lassen wir ihn überwachen, und was passiert? Das Wiesel stattet Ihnen einen Besuch ab.« Er bohrte Rebus einen Finger in die Brust. »Wie wird das wohl in meinem Bericht aussehen, Detective Inspector?«
»Lecken Sie mich, Claverhouse.« Immerhin wusste Rebus jetzt, wo Ormiston war: Er beschattete das Wiesel.
»Ich Sie?« Claverhouse schüttelte den Kopf. »Sie bringen da was durcheinander, Rebus. Sie sind derjenige, der den Jungs in Barlinnie demnächst den Arsch lecken muss. Denn ich schwöre Ihnen, wenn ich Sie mit Cafferty und seinen Geschäften in Verbindung bringen kann, dann lasse ich Sie in dem tiefsten Loch versenken, das je ein Mensch gegraben hat.«
»Ich nehme die Warnung zur Kenntnis«, sagte Rebus.
»Die Macht des werten Mr Cafferty fängt an zu bröckeln«, zischte Claverhouse. »Sie müssen sich entscheiden, auf wessen Seite Sie stehen.«
Rebus dachte an die Worte des Wiesels: Cafferty geht nicht unter. Und an das Lächeln, das diese Worte begleitet hatte. Warum hatte das Wiesel so traurig gelächelt? Rebus trat einen Schritt zurück und gab Claverhouse frei. Dieser betrachtete das offenbar als Schuldeingeständnis.
»John«, er nannte ihn wieder beim Vornamen, »was auch immer Sie verschweigen, Sie müssen endlich reinen Tisch machen.«
»Danke für die Sorge um mich.« Rebus erkannte, was Claverhouse wirklich war: ein zwanghafter Karrierist, der sich unerreichbare Ziele gesteckt hatte. Cafferty zu schnappen - oder zumindest einen Spion bei ihm einzuschleusen -, wäre in seinen Augen der berufliche Durchbruch, und er war so sehr darauf fixiert, dass er nichts anderes mehr sah. Er war völlig besessen davon. Rebus empfand beinahe Mitleid mit ihm: War er nicht selbst einmal so gewesen?
Claverhouse schüttelte den Kopf über so viel Sturheit. »Das Wiesel ist heute selbst gefahren. Tut er das vielleicht, weil Donny Dow sich aus dem Staub gemacht hat?«
»Sie wissen über Dow Bescheid?«
Claverhouse nickte. »Vielleicht weiß ich mehr, als Sie ahnen, John.«
»Möglich«, sagte Rebus, um ihn zum Reden zu bringen. »Zum Beispiel?«
Aber Claverhouse fiel nicht darauf herein. »Ich habe heute Abend mit DCS Templer gesprochen. Sie fand es sehr interessant, von Donny Dows Job als Chauffeur zu erfahren.« Er machte eine Pause. »Aber für Sie war das nichts Neues, stimmt’s?«
»Meinen Sie?«
»Sie klangen nicht besonders überrascht, als ich Ihnen davon erzählte. Wenn ich’s mir recht überlege, klangen Sie überhaupt nicht überrascht. Aber warum haben Sie es ihr dann nicht erzählt? Sie haben mal wieder Ihr eigenes Süppchen gekocht, John. Vielleicht wollten Sie auch nur Ihren Kumpel, das Wiesel, schützen.«
»Er ist nicht mein Kumpel.«
»Sein Anwalt hat genau die richtigen Fragen gestellt. Als hätte man ihn instruiert.« Claverhouse versuchte jetzt seinerseits, Rebus nach hinten zu drängen, aber der wich keinen Zentimeter zurück. Er hörte das Badewasser plätschern. Bald würde die Wanne überlaufen. »Was hatte er hier zu suchen, John?«
»Sie wollten doch, dass ich mit ihm spreche.«
Claverhouse hielt inne. Ein Hoffnungsschimmer blitzte in seinen Augen auf. »Und?«
»War nett, mit Ihnen zu reden, Claverhouse«, sagte Rebus. »Grüßen Sie Ormie von mir, wenn Sie ihn eingeholt haben.« Er ging in seine Wohnung zurück und schloss langsam die Tür. Claverhouse rührte sich nicht vom Fleck, so als habe er vor, die ganze Nacht dort auszuharren. Rebus trottete ins Bad und drehte den Hahn zu. Das Wasser war kochend heiß, aber die Wanne war zu voll, um kaltes zulaufen zu lassen. Er setzte sich auf die Toilette und stützte den Kopf in die Hände. Ihm wurde plötzlich klar, dass er dem Wiesel im Grunde mehr vertraute als Claverhouse.
Sie müssen sich entscheiden, auf wessen Seite Sie stehen
Rebus mochte nicht darüber nachdenken. Er wusste immer noch nicht mit Sicherheit, ob man ihm nicht eine Falle gestellt hatte. Wollte Strathern ihn schnappen, und Gray und die anderen waren sein Köder? Und wenn Gray, Jazz und Ward tatsächlich Dreck am Stecken hatten, wie sollte Rebus seinen Auftrag zu Ende bringen, ohne selbst mit hineingezogen zu werden? Er stand auf und ging ins Wohnzimmer, nahm sich die Whiskyflasche und ein Glas. Schob die erstbeste CD in die Anlage. REM: »Out of Time«. Der Titel war ihm noch nie so passend erschienen wie in diesem Moment. Er sah die Whiskyflasche an, aber er wusste, dass er sie nicht anrühren würde, nicht heute Abend. Er tauschte sie gegen das Telefon und rief bei Jean an. Es meldete sich nur der Anrufbeantworter, und er hinterließ eine weitere Nachricht. Er überlegte, ob er in die New Town fahren und vielleicht bei Siobhan vorbeischauen sollte. Aber das wäre ihr gegenüber nicht fair gewesen. Außerdem fuhr sie vermutlich durch die Gegend.
Er schlich zur Tür und schaute durch den Spion. Es war niemand zu sehen. Er lächelte bei dem Gedanken daran, wie er Claverhouse stehen gelassen hatte.
Er ging wieder ins Wohnzimmer zurück, ans Fenster. Draußen war niemand zu sehen. Die Stimme von Michael Stipe schwankte zwischen Wut und Trauer.
John Rebus setzte sich in seinen Sessel, bereit, der späten Stunde Tribut zu zollen. Dann klingelte das Telefon - das musste Jean sein.
Aber sie war es nicht.
»Wie geht’s, alter Freund?«, fragte Francis Gray in dem grummelnden Singsang der Westküstler.
»Könnte besser gehen, Francis.«
»Keine Sorge, Onkel Francis heilt alle Leiden.«
Rebus lehnte den Kopf zurück. »Wo bist du?«
»In der äußerst geschmackvoll eingerichteten Bar von Tulliallan.«
»Und damit willst du meine Leiden heilen?«
»Wie kannst du mich für so herzlos halten? Nein, alter Freund, ich rede von einem Jahrhunderttrip. Von zwei Menschen, denen sich eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten und Freuden eröffnet.«
»Hat man Ihnen was in den Whisky geschüttet, DI Gray?«
»Ich rede von Glasgow, John. Und ich werde dein Führer sein und dir zeigen, was der Westen zu bieten hat.«
»Ist es dafür nicht schon ein bisschen spät?«
»Morgen früh … nur wir beide. Also sieh zu, dass du beim ersten Hahnenschrei hier bist, sonst entgeht dir ein Heidenspaß!«
In der Leitung war es plötzlich still. Rebus starrte auf den Hörer und überlegte, ob er zurückrufen sollte. Gray und er in Glasgow: Was hatte das zu bedeuten? Vielleicht hatte Jazz mit Gray gesprochen und ihm von Rebus’ Angebot erzählt? Aber warum Glasgow? Und warum nur sie beide? War Jazz dabei, von seinem alten Freund abzurücken? Rebus’ Gedanken wanderten zum Wiesel und zu Cafferty. Bündnisse und Bindungen konnten sich lösen. Loyalität konnte aufgekündigt werden. Es gab immer Schwachstellen; Risse in der sorgfältig errichteten Mauer. Bisher hatte Rebus Allan Ward für den unsicheren Kantonisten gehalten... aber inzwischen tippte er eher auf Jazz McCullough. Er ging ins Bad zurück und tauchte mit zusammengebissenen Zähnen die Hand in das kochend heiße Wasser, um den Stöpsel herauszuziehen. Dann ließ er kaltes Wasser zulaufen. In der Küche holte er sich einen Becher Kaffee und ein paar Vitamin-C-Tabletten. Noch mal ins Wohnzimmer. Stratherns Bericht war unter einem Sofakissen versteckt.
Seine Badewannenlektüre...