19
Siobhan hatte verschlafen. Während sie darauf
wartete, dass das Wasser der Dusche warm wurde, rief sie auf dem
Revier an, um sich zu entschuldigen. In St. Leonard’s schien
niemand über ihre Abwesenheit besonders beunruhigt zu sein. Sie
sagte, sie würde auf jeden Fall noch kommen. Als das Wasser auf
ihren Kopf prasselte, fiel ihr schlagartig ihre Wunde wieder ein,
und sie begann zu fluchen.
Donny Dow war nach Leith gebracht worden, und sie
fuhr zuerst dorthin. DI Bobby Hogan ging gerade den Bericht durch,
den sie noch in der Nacht abgegeben hatte. Es waren keine
Änderungen erforderlich.
»Möchten Sie ihn sehen?«, fragte er sie.
Sie schüttelte den Kopf.
»Zwei von euren Leuten - Pryde und Silvers - werden
bei der Vernehmung dabei sein.« Hogan tat so, als sei er damit
beschäftigt, sich Notizen zu machen. »Die beiden sind überzeugt,
dass er auch Marber umgebracht hat.«
»Schön für sie.«
»Sind Sie anderer Meinung?« Er hatte aufgehört zu
schreiben und sah auf.
»Wenn Donny Dow Marbers Mörder ist, muss er von
Marbers Verhältnis mit Laura gewusst haben. Warum ist er dann
ausgerastet, als Linford ihm davon erzählte?«
Hogan zuckte mit den Achseln. »Mit ein bisschen
Mühe würden mir bestimmt ein Dutzend Gründe einfallen.« Er hielt
inne. »Sie müssen zugeben, das würde doch gut
zusammenpassen.«
»Und wie oft geht ein Fall so glatt auf?«, meinte
sie skeptisch und stand auf.
In St. Leonard’s war Donny Dow das
Hauptgesprächsthema - außer bei Phyllida Hawes. Siobhan traf sie
auf dem Flur, und Hawes deutete auf die Tür der
Damentoilette.
Als die Tür hinter ihnen geschlossen war,
berichtete Hawes, sie sei am Abend zuvor mit Allan Ward
ausgegangen.
»Und wie ist es gelaufen?«, fragte Siobhan leise
und hoffte, Hawes würde ihrem Beispiel folgen. Sie musste daran
denken, wie Derek Linford neulich an der Tür gelauscht hatte.
»Es war klasse. Er ist ziemlich sexy, finden Sie
nicht?« Hawes war nun keine Kriminalbeamtin mehr - sie waren zwei
Frauen, die über einen Kerl quatschten.
»Ist mir noch gar nicht aufgefallen«, sagte
Siobhan. Ihre
Worte machten keinen Eindruck auf Hawes, die sich gerade im
Spiegel betrachtete.
»Wir waren bei einem Mexikaner und dann noch in ein
paar Pubs.«
»Und er hat Sie wie ein Gentleman bis vor die
Haustür begleitet?«
»Ja, hat er.« Sie sah Siobhan an und grinste.
»Dieses Schwein. Ich wollte ihn gerade fragen, ob er noch auf einen
Kaffee mit hochkommt, da klingelte sein Handy. Er meinte, er müsse
sofort zurück nach Tulliallan.«
»Hat er gesagt, warum?«
Hawes schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er war kurz
davor zu bleiben. Aber dann habe ich nur einen schnellen Kuß auf
die Wange bekommen.«
Also in Wahrheit einen Korb, dachte Siobhan.
»Werden Sie ihn noch mal treffen?«
»Lässt sich kaum vermeiden, wenn man im selben
Gebäude arbeitet.«
»Sie wissen genau, was ich meine.«
Hawes kicherte. Siobhan hatte sie noch nie so
erlebt. War kokett das richtige Wort? Sie sah auf einmal zehn Jahre
jünger aus und wesentlich hübscher. »Ja, bestimmt«, sagte sie
dann.
»Und worüber haben Sie sich den ganzen Abend
unterhalten?«, wollte Siobhan wissen.
»Hauptsächlich über die Arbeit. Allan kann wirklich
gut zuhören.«
»Also haben Sie die meiste Zeit über sich
geredet?«
»Ja, genau wie ich’s gern mag.« Hawes lehnte sich
an das Waschbecken, verschränkte die Arme und überkreuzte die Füße.
Sie wirkte zufrieden. »Ich hab ihm vom Gayfield Square erzählt und
dass ich vorübergehend nach St. Leonard’s versetzt worden bin. Er
wollte alles über den Fall wissen...«<
»Den Fall Marber?«
Hawes nickte. »Meine Aufgaben bei der Ermittlung...
wie es so läuft. Wir haben Margheritas getrunken. Die konnte man da
in Krügen bestellen.«
»Und wie viele Krüge haben Sie geschafft?«
»Nur einen. Ich wollte schließlich nicht, dass er
die Situation ausnutzt.«
»Phyllida, ich wette, nichts wäre Ihnen lieber
gewesen.«
Beide lächelten. »Stimmt«, gab Hawes zu und
kicherte erneut. Dann seufzte sie, sah Siobhan erschrocken an und
schlug die Hand vor den Mund.
»Mein Gott, ich hab noch gar nicht gefragt, wie’s
Ihnen geht!«
»So einigermaßen«, sagte Siobhan. Sie hatte
vermutet, Hawes habe nur aus einem Grund allein mit ihr reden
wollen: wegen Lauras Ermordung.
»Es muss schrecklich für Sie gewesen sein.«
»Ich will nicht darüber nachdenken.«
»Hat man Ihnen ein Gespräch mit dem
Polizeipsychologen angeboten?«
»Nein, und ich wüsste auch nicht, warum.«
»Damit Sie aufhören, das Erlebnis zu
verdrängen.«
»Das tu ich doch gar nicht.«
»Sie haben gerade gesagt, Sie wollen nicht darüber
nachdenken.«
Siobhan wurde langsam ärgerlich. Sie wollte jetzt
nicht über Lauras Tod nachdenken, weil etwas anderes sie
beschäftigte: Allan Wards Interesse am Fall Marber.
»Warum hat Allan sich so für Ihre Arbeit
interessiert?«, fragte sie.
»Er wollte so viel wie möglich über mich
erfahren.«
»Insbesondere Einzelheiten über den Fall
Marber.«
Hawes sah sie an. »Worauf wollen Sie hinaus?«
Siobhan schüttelte den Kopf. »Schon gut, Phyl.«
Aber Hawes sah sie nun mit einem neugierigen und auch etwas
besorgten Blick an.Würde sie sofort zu Ward laufen und ihm
alles erzählen? »Vielleicht haben Sie Recht.« Siobhan tat so, als
gebe sie nach. »Ich glaube, ich bin ein bisschen überreizt.
Wahrscheinlich eine Nachwirkung von gestern.«
»Ja, bestimmt.« Hawes fasste sie am Arm. »Sie
wissen, ich bin immer für Sie da, falls Sie mal jemanden zum Reden
brauchen.«
»Danke«, sagte Siobhan und schenkte ihr ein
Lächeln, von dem sie hoffte, dass es überzeugend wirkte.
Als sie zurück ins Büro ging, dachte sie erneut an
die Ereignisse vor dem Paradiso. Das Einrasten des Türschlosses -
sie hatte Pferdeschwanz-Ricky noch nicht die Meinung gesagt, aber
der würde ihr nicht durch die Lappen gehen. Sie hatte die Szene in
den letzten Stunden immer wieder rekapituliert und darüber
nachgedacht, was sie für Laura hätte tun können. Beispielsweise die
Beifahrertür von innen öffnen, dann hätte Laura die Chance gehabt,
sich vor Dow in Sicherheit zu bringen. Sie selbst hätte schneller
aus dem Auto springen und über die Motorhaube flanken und Dow
wirkungsvoller attackieren können. Sie hätte ihn sofort außer
Gefecht setzen, verhindern müssen, dass Laura so viel Blut
verlor.
Denk jetzt nicht mehr dran, sagte sie
sich.
Konzentrier dich auf Marber… Edward Marber. Ein
weiteres Opfer, das ihre Aufmerksamkeit erforderte. Ein weiterer
Geist, dessen Tod nach Sühne verlangte. Rebus hatte ihr einmal
spätabends in der Oxford Bar nach etlichen Gläsern gestanden, er
sehe Gespenster. Eigentlich spüre er sie mehr, als dass er sie
sehe. All die Fälle, die unschuldigen und weniger unschuldigen
Opfer, die Menschen, die auf eine Ermittlungsakte reduziert worden
waren - sie hatten Rebus stets mehr bedeutet als nur das. Er schien
es als eine Schwäche anzusehen. Siobhan hatte ihm jedoch
widersprochen.
Wir wären doch keine Menschen, wenn ihr
Schicksal uns kalt ließe, hatte sie gesagt. Er hatte sie
daraufhin mit einem zynischen
Blick zum Schweigen gebracht, der zu besagen schien, dass sie
alles, nur nicht »menschlich« sein durften.
Sie schaute sich im Büro um. Alle waren fleißig bei
der Arbeit: Hood, Linford, Davie Hynds. Sie erkundigten sich, wie
es ihr gehe. Sie wehrte ihr Mitgefühl ab und bemerkte, dass
Phyllida Hawes errötete - vermutlich weil sie sich schämte, nicht
genauso wie die anderen reagiert zu haben. Siobhan hätte ihr gern
gesagt, dass es in Ordnung sei, aber Hynds war an ihren
Schreibtisch getreten, um etwas mit ihr zu besprechen. Siobhan
legte ihre Jacke über die Stuhllehne und setzte sich.
»Worum geht’s?«, fragte sie.
»Das Geld, nach dem ich forschen sollte.«
Sie starrte ihn an. Geld? Welches
Geld?
»Laura Stafford glaubte doch, Marber erwarte
eine größere Summe«, erklärte Hynds, als er ihre Verwirrung
bemerkte.
»Ach ja.« Ihr fiel auf, dass jemand während ihrer
Abwesenheit ihren Schreibtisch benutzt hatte. Beweis: Kaffeetassen
und verstreute Büroklammern. Ihr Eingangskorb war voll, und es sah
aus, als habe ihn jemand durchsucht. Sie dachte daran, dass Gray in
den Akten gestöbert und Allan Ward Phyllida über die Ermittlungen
ausgefragt hatte. Außerdem hatten sich ein paar andere von Rebus’
Crew im Raum herumgetrieben.
Ihr Bildschirm war abgeschaltet. Als sie ihn
anmachte, schwammen kleine Fische darüber - ein neuer
Bildschirmschoner ohne Text. Der unbekannte Quälgeist schien auf
einmal Mitleid mit ihr bekommen zu haben.
Sie bemerkte erst, dass Hynds etwas gesagt haben
musste, als er verstummte. Die plötzliche Stille lenkte ihre
Aufmerksamkeit auf ihn.
»Entschuldigung, Davie, ich hab nicht
zugehört.«
»Ich kann später noch mal wiederkommen«, sagte er.
»Ist sicher schwer für Sie, einfach so zur Tagesordnung
überzugehen.«
»Würden Sie bitte noch mal wiederholen, was Sie
gesagt haben?«
»Wollen Sie’s wirklich hören?«
»Verdammt, Davie -« Sie schnappte sich einen
Bleistift. »Muss ich Sie erst hiermit abstechen?« Er starrte sie
an, und sie starrte zurück, weil ihr plötzlich bewusst wurde, was
sie eben gesagt hatte. Sie sah, wie sie den Bleistift in der Hand
hielt: wie ein Messer. »O Gott«, stieß sie hervor, »tut mir
Leid.«
»Keine Ursache.«
Sie ließ den Bleistift fallen, nahm statt dessen
den Telefonhörer in die Hand und bat Hynds zu warten, während sie
mit Bobby Hogan sprach.
»Hier ist Siobhan Clarke«, meldete sie sich. »Ich
hab was vergessen: Dows Messer... bei uns in der Nähe ist ein
Heimwerkerladen. Vielleicht hat er es sich dort besorgt. Die werden
doch sicher Überwachungskameras haben... oder vielleicht erinnert
sich einer der Verkäufer an ihn.« Sie lauschte Hogans Antwort.
»Danke«, sagte sie und legte auf.
»Haben Sie schon gefrühstückt?«, fragte
Hynds.
»Ich wollte gerade dasselbe fragen.« Derek Linford
war hinzugekommen. Beim Anblick seines übertrieben besorgten
Gesichtsausdrucks musste Siobhan ein Zittern unterdrücken.
»Ich hab keinen Hunger«, sagte sie zu den beiden
Männern. Ihr Telefon klingelte, und sie nahm ab. Die Zentrale
meldete sich und stellte den Anruf einer gewissen Andrea Thomson
durch.
»Man hat mich gebeten, Sie anzurufen«, sagte
Thomson. »Ich bin … nun ja, ich benutze nicht gern den Ausdruck
Therapeutin.«
»Sie sind doch angeblich Karriereberaterin«,
korrigierte Siobhan sie, womit sie Thomson sichtlich aus dem
Konzept brachte.
»Da hat wohl jemand geplaudert«, sagte sie nach
längerem
Schweigen. »Sie haben lange mit DI Rebus zusammengearbeitet,
richtig?«
Dumm war Thomson also nicht. »Er hat mir erzählt,
Sie hätten bestritten, eine Therapeutin zu sein«, entgegnete
Siobhan.
»Viele Polizisten reagieren allergisch auf dieses
Wort.«
»Ich eingeschlossen.« Siobhan sah Hynds an, der ihr
ermunternd zunickte. Linford bemühte sich noch immer um einen
mitfühlenden Gesichtsausdruck, allerdings nur mit mäßigem Erfolg.
Ihm fehlt die Übung, dachte Siobhan.
»Sie werden feststellen, dass es hilfreich sein
kann, über bestimmte Probleme zu sprechen«, erklärte Thomson.
»Ich hab keine Probleme«, erwiderte Siobhan
schroff. »Entschuldigen Sie bitte, Ms Thomson, aber ich bin mit
einem Mordfall beschäftigt.«
»Darf ich Ihnen trotzdem meine Nummer geben?«
Siobhan seufzte. »Na schön, wenn Sie sich danach
besser fühlen.«
Thomson nannte sowohl ihre Büro- als auch
Handynummer. Siobhan starrte ins Leere, ohne Anstalten zu machen,
sie zu notieren. Thomson unterbrach sich.
»Sie schreiben nicht mit, oder?«
»Doch, natürlich.«
Hynds schüttelte den Kopf, weil er haargenau
wusste, was vor sich ging. Er nahm den Bleistift und hielt ihn ihr
hin.
»Könnten Sie bitte die Nummern wiederholen?«, sagte
Siobhan. Als sie aufgelegt hatte, zeigte sie Hynds den
Zettel.
»Zufrieden?«
»Ich wär noch zufriedener, wenn Sie etwas essen
würden.«
»Ich auch«, fügte Derek Linford hinzu.
Siobhan schaute auf die Telefonnummern von Andrea
Thomson. »Derek«, sagte sie. »Davie und ich haben etwas zu
besprechen. Wären Sie so gut, meine Anrufe entgegenzunehmen?« Sie
streifte ihre Jacke über.
»Wo wollen Sie hin?«, fragte Linford, bemüht, nicht
verärgert zu klingen. »Falls wir Sie hier brauchen.«
»Sie haben doch meine Handynummer«, entgegnete sie.
»Unter der bin ich immer zu erreichen.«
Sie gingen das kurze Stück die Straße hinunter zum
Engine Shed. Hynds hatte gar nicht gewusst, dass es dort ein Café
gab.
»Es war früher wirklich einmal ein Lokschuppen«,
erzählte sie ihm. »Für Dampfloks. Sie haben Güterwagen gezogen...
hauptsächlich Kohlewaggons, vermute ich. Man kann noch Reste der
Gleise sehen - sie führen rüber nach Duddingston.«
Sie bestellten sich Tee und Kuchen. Als Siobhan den
ersten Bissen hinuntergeschluckt hatte, merkte sie, dass sie
furchtbar hungrig war.
»Also, was haben Sie herausgefunden?«
Hynds war ganz erpicht darauf, endlich loszulegen.
Ihr war klar, dass es um etwas ging, das er absichtlich für sich
behalten hatte, damit sie es direkt von ihm erfuhr.
»Ich hab mit ein paar Leuten über Marbers Finanzen
gesprochen: einem Typ von seiner Bank, seinem Steuerberater, dem
Buchhalter der Galerien -«
»Und?«
»Kein Hinweis darauf, dass in nächster Zeit ein
größerer Betrag anstand.« Hynds hielt inne, als sei er nicht
sicher, ob »anstehen« das richtige Wort war.
»Und?«
»Also hab ich mir die Abbuchungen von seinen Konten
angeschaut. Bei Scheckeinreichungen taucht nur die Schecknummer auf
den Kontoauszügen auf, deshalb ist nicht ersichtlich, an wen die
Zahlungen gingen.« Siobhan nickte, damit er fortfuhr. »Das ist
wahrscheinlich der Grund, warum uns eine bedeutende Abbuchung nicht
aufgefallen ist.« Er hielt wieder inne, und es war klar, weshalb:
statt wir meinte er eigentlich Linford. »Fünftausend
Pfund. Der
Buchhalter hat das Scheckheft gefunden, aber auf dem
Kontrollabschnitt war nur der Betrag vermerkt.«
»War es eine private oder geschäftliche
Zahlung?«
»Das Geld ist von einem von Marbers Privatkonten
abgebucht worden.«
»Und Sie haben herausgefunden, für wen der Scheck
bestimmt war?« Sie versuchte, es zu erraten. »Laura
Stafford?«
Hynds schüttelte den Kopf. »Wir waren zweimal bei
einem Maler zu Besuch. Erinnern Sie sich noch?«
Sie sah ihn an. »Malcolm Neilson?« Hynds nickte.
»Marber hat Neilson fünf Riesen gezahlt? Wann?«
»Vor rund einem Monat.«
»Vielleicht war es die Bezahlung für ein
Bild.«
Auf diesen Einwand hatte Hynds gewartet. »Marber
war doch gar nicht Neilsons Galerist. Außerdem wäre so eine Zahlung
ganz offiziell über das Geschäftskonto abgewickelt worden und nicht
in aller Heimlichkeit mit einem privaten Scheck.«
Siobhan dachte nach. »Neilson hat sich an dem Abend
vor der Galerie herumgetrieben.«
»Weil er noch mehr Geld wollte?«, fragte
Hynds.
»Glauben Sie, er hat Marber erpresst?«
»Möglich. Oder er hat ihm etwas verkauft. Ich
meine, wie oft kommt es vor, dass man sich mit jemandem heftig
streitet und ihm hinterher als Dank einen vierstelligen Betrag
bezahlt?«
»Und was hat er ihm verkauft?« Siobhan hatte ganz
vergessen, dass sie hungrig war. Hynds deutete mit einer
Kopfbewegung auf den Kuchen, damit sie weiteraß.
»Vielleicht sollten wir ihn das selbst fragen«,
meinte er. »Sobald Sie Ihren Teller leer gegessen haben.«
Neilson erschien, wie von Siobhan empfohlen, mit
seinem Anwalt in St. Leonard’s. Beide Vernehmungsräume waren frei:
Rebus’ Crew war angeblich unterwegs, um Campingplätze
zu inspizieren. Siobhan entschied sich für VR 2 und ließ sich auf
dem Stuhl nieder, auf dem Linford am Tag zuvor beim folgenreichen
Verhör von Dow gesessen hatte.
Neilson und William Allison nahmen ihr gegenüber
Platz, Davie Hynds neben ihr. Sie hatten beschlossen, das Gespräch
aufzuzeichnen. Auf diese Weise konnte man Druck ausüben - viele
Leute wurden angesichts eines Mikrofons nervös, sie wussten, dass
man ihnen alles, was sie sagten, eines Tages unter die Nase reiben
konnte.
»Es ist sowohl zu Ihrem eigenen als auch zu unserem
Nutzen«, hatte Siobhan mit der üblichen Floskel erklärt. Allison
verlangte, dass zwei Mitschnitte gemacht wurden: einer für die
Polizei und einer für seinen Klienten.
Dann kamen sie zur Sache. Siobhan schaltete das
Aufnahmegerät ein, stellte sich vor und bat die anderen, dasselbe
zu tun. Als Neilson an der Reihe war, sah sie ihn sich genauer an.
Der Maler saß mit hochgezogenen Brauen da, als frage er sich, was
er an so einem Ort eigentlich sollte. Seine Haare standen wie immer
wild vom Kopf ab, und er trug ein dickes, weites Baumwollhemd über
einem grauen T-Shirt. Da er das Hemd versehentlich oder mit Absicht
falsch zugeknöpft hatte, saß der Kragen an einer Seite tiefer als
an der anderen.
»Mr Neilson, Sie haben bereits zugegeben, dass Sie
sich an dem Abend, als Edward Marber starb, vor dessen Galerie
aufgehalten haben«, begann sie.
»Ja.«
»Könnten Sie noch einmal wiederholen, warum Sie
sich dort befunden haben?«
»Ich war neugierig auf die Ausstellung.«
»Einen anderen Grund gab es nicht?«
»Nein, was hätte das für einer sein sollen?«
»Sie müssen nur die Fragen beantworten, Malcolm«,
schaltete sich Allison ein. »Es ist nicht nötig, dass sie selbst
welche stellen.«
»Da Mr Neilson diese Frage nun einmal aufgeworfen
hat«, sagte Siobhan, »möchte ich sie an meinen Kollegen
weiterreichen.«
Hynds öffnete den dünnen Pappordner vor ihm und
schob eine Fotokopie des Schecks über den Tisch. »Dürfen wir Sie um
eine Erklärung dafür bitten?«, sagte er lediglich.
»DC Hynds«, sagte Siobhan als Erklärung für die
Aufzeichnung, »zeigt Mr Neilson und Mr Allison die Kopie eines
Schecks über fünftausend Pfund, der vor einem Monat auf den Namen
von Mr Neilson ausgestellt wurde. Der Scheck trägt Edward Marbers
Unterschrift und ging zu Lasten eines seiner Privatkonten.«
Als sie verstummt war, herrschte Schweigen im
Raum.
»Kann ich mich kurz mit meinem Klienten
besprechen?«, bat Allison.
»Die Befragung wurde um elf Uhr vierzig
unterbrochen«, sagte Siobhan knapp und schaltete den Apparat
aus.
In solchen Situationen wünschte sie sich jedes Mal,
sie würde rauchen. Sie stand mit Hynds vor VR 2, tippte mit dem Fuß
auf den Boden und mit einem Stift gegen ihre Zähne. Bill Pryde und
George Silvers kamen gerade aus Leith zurück und konnten vom ersten
ausführlichen Verhör mit Donny Dow berichten.
»Er weiß, dass er wegen dem Tod seiner Frau in den
Knast wandert«, sagte Silver. »Aber er schwört, Marber nicht
getötet zu haben.«
»Glauben Sie ihm?«
»Er ist ein mieses Schwein. Solchen Typen glaube
ich prinzipiell nicht.«
»Er ist ziemlich fertig wegen der Sache mit seiner
Frau«, meinte Pryde.
»Mir kommen gleich die Tränen«, bemerkte Siobhan
eisig.
»Will man ihn wegen des Mordes an Marber
anklagen?«, fragte Hynds. »Immerhin haben wir da drin einen
weiteren Verdächtigen sitzen.«
»Und was machen Sie dann hier draußen?«, fragte
eine Stimme. Sie gehörte Gill Templer. Die beiden hatten sie
darüber informiert, dass sie Neilson vorladen wollten, und sie war
einverstanden gewesen. Nun stand sie breitbeinig da, die Hände in
die Hüften gestemmt - eine Frau, die Ergebnisse sehen wollte.
»Er bespricht sich mit seinem Anwalt«, erklärte
Siobhan.
»Hat er schon was gesagt?«
»Wir haben ihm gerade erst den Scheck
gezeigt.«
Templer wandte sich an Pryde. »Gute Nachrichten aus
Leith?«
»Nicht direkt.«
Sie atmete deutlich hörbar aus. »Wir müssen endlich
einen entscheidenden Fortschritt machen.« Sie sprach leise, damit
der Anwalt und der Maler es nicht mitbekamen, aber der dringliche,
frustrierte Ton ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Ja, Madam«, sagte Davie Hynds und wandte den Kopf,
weil sich die Tür von VR 2 öffnete.
»Wir wären dann so weit«, sagte Allison. Siobhan
und Hynds gingen zurück in das Zimmer.
Die Tür war geschlossen, das Band lief wieder.
Neilson fuhr sich durchs Haar, worauf es noch wirrer abstand. Die
anderen warteten darauf, dass er zu reden begann.
»Sie wollten doch etwas sagen, Malcolm«, meinte der
Anwalt.
Neilson lehnte sich zurück und starrte an die
Decke. »Edward Marber hat mir fünftausend Pfund gegeben, damit ich
ihm nicht weiter auf die Nerven gehe. Er wollte, dass ich den Mund
halte und ihn in Ruhe lasse.«
»Warum?«
»Weil immer mehr Leute mir zuhörten, wenn ich ihnen
erzählte, dass er ein Betrüger war.«
»Haben Sie Geld von ihm verlangt?«
Neilson schüttelte den Kopf.
»Wir brauchen eine hörbare Antwort für die
Aufzeichnung«, bemerkte Siobhan.
»Ich hab überhaupt nichts von ihm verlangt«, sagte
Neilson. »Er selbst ist auf mich zugekommen. Zuerst hat er mir nur
tausend angeboten, aber nach und nach ist er bis auf fünftausend
hochgegangen.«
»Und waren Sie an jenem Abend in der Galerie, weil
Sie noch mehr Geld haben wollten?«, fragte Hynds.
»Nein.«
»Sie wollten sehen, wie die Ausstellung lief«,
stellte Siobhan fest. »Das könnte doch bedeuten, dass Sie sich
fragten, ob Sie vielleicht noch mehr Profit aus Ihrem Drohpotential
ziehen könnten. Schließlich haben Sie das Geld angenommen und
Marber trotzdem weiter belästigt.«
»Wenn ich ihn hätte belästigen wollen, wäre ich
doch wohl reingegangen, oder?«
»Vielleicht hatten Sie ja vor, später unter vier
Augen mit ihm zu reden?«
Neilson schüttelte heftig den Kopf. »Ich hab mich
von ihm fern gehalten.«
»Das stimmt doch nicht.«
»Ich meinte damit, dass ich nicht mit ihm
gesprochen habe.«
»Waren Sie mit den fünftausend zufrieden?«, fragte
Hynds.
»Zufrieden würde ich nicht sagen, aber es war mir
schon eine gewisse Genugtuung. Ich hab das Geld angenommen, weil es
bedeutete, dass er fünftausend Pfund aus seinen Betrügereien nicht
für sich selbst ausgeben konnte.« Der Künstler fuhr sich
geräuschvoll mit den Händen über die stoppeligen Wangen.
»Was haben Sie bei der Nachricht von seinem Tod
empfunden?« Die Frage kam von Siobhan. Neilson sah ihr in die
Augen.
»Es hat mich offen gestanden ziemlich gefreut. Ich
weiß, das zeugt nicht gerade von besonderer Mitmenschlichkeit, aber
-«
»Haben Sie befürchtet, dass wir Ihrer Beziehung zu
Mr Marber nachgehen würden?«, wollte Siobhan wissen.
Neilson nickte.
»Haben Sie befürchtet, dass wir auf den Scheck
stoßen würden?«
Erneutes Nicken.
»Warum haben Sie es uns dann nicht einfach
erzählt?«
»Ich wusste, wonach das aussehen würde.« Er klang
jetzt kleinlaut.
»Und wonach sieht es aus?«
»Es sieht so aus, als hätte ich Motiv, Möglichkeit
und so weiter gehabt. Stimmt’s?«
»Wenn Sie unschuldig sind, brauchen Sie sich keine
Sorgen zu machen«, antwortete sie.
Er legte den Kopf schief. »Sie haben ein
interessantes Gesicht, Detective Sergeant Clarke. Dürfte ich Sie
vielleicht malen, wenn diese Sache ausgestanden ist?«
»Konzentrieren wir uns lieber auf die Gegenwart, Mr
Neilson. Erzählen Sie uns von dem Scheck. Wie haben Sie sich auf
die Summe geeinigt? Hat Marber Ihnen den Scheck zugeschickt oder
persönlich übergeben?«
Nach der Vernehmung besorgten Hynds und Siobhan
sich ein verspätetes Mittagessen beim Bäcker. Belegte Brötchen und
Getränke in Dosen aus dem Kühlfach. Draußen war es warm, der Himmel
bedeckt. Siobhan sehnte sich nach einer zweiten Dusche,
hauptsächlich, um das Durcheinander in ihrem Kopf fortzuspülen. Sie
gingen nicht auf direktem Weg zurück nach St. Leonard’s und aßen im
Gehen.
»Wie lautet Ihr Tipp?«, fragte Hynds. »Donny Dow
oder Neilson?«
»Warum nicht beide?«, überlegte Siobhan. »Neilson
hat Edward Marber beobachtet und Dow Bescheid gegeben, als das Taxi
kam.«
»Die beiden unter einer Decke?«
»Und wo wir schon mal dabei sind, sollten wir Big
Ger Cafferty nicht vergessen. So jemand haut man lieber nicht übers
Ohr.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Marber
Cafferty betrogen hat. Wie Sie schon sagten: zu riskant.«
»Sonst noch jemand mit finsteren Absichten?«
»Wie wär’s mit Laura Stafford? Vielleicht hatte sie
genug von ihm... vielleicht wollte Marber mehr von ihr als sie von
ihm.« Hynds überlegte. »Und wenn Donny Dow Lauras Zuhälter
war?«
Siobhan entgleisten die Gesichtszüge. »Das reicht
jetzt«, fauchte sie.
Hynds war sofort klar, dass er etwas Falsches
gesagt hatte. Er beobachtete sie, wie sie den Rest ihres Brötchens
in einen Mülleimer warf und sich die Krümel von der Jacke
wischte.
»Sie sollten mit jemandem reden«, sagte er
leise.
»Etwa mit der Therapeutin? Tun Sie mir einen
Gefallen -«
»Das versuche ich doch. Aber Sie hören ja nicht auf
mich.«
»Ich hab schon öfter mit angesehen, wie ein Mensch
getötet wurde, Davie. Und Sie?« Sie war stehen geblieben, um ihm
ins Gesicht zu sehen.
»Wir sind doch Partner«, sagte er gekränkt.
»Aber mein Dienstgrad ist deutlich höher als Ihrer.
Ich glaube, das vergessen Sie gelegentlich.«
»Verdammt, Shiv, ich wollte nur -«
»Und nennen Sie mich nicht Shiv!«
Er schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es
sich dann aber anders und nahm stattdessen einen Schluck aus seiner
Dose. Nach einem Dutzend Schritte holte er tief Luft.
»Entschuldigung.«
»Wofür?«
»Für die blöde Bemerkung über Laura.«
Siobhan nickte. Ihre Miene begann sich zu
entspannen. »Sie lernen dazu, Davie.«
»Ich bemühe mich.« Er zögerte. »Friede?«
»Friede«, stimmte sie zu. Darauf gingen sie wortlos
nebeneinander her, und man hätte ihr Schweigen beinah
kameradschaftlich nennen können.
Als Rebus und Gray auf der Wache ankamen, war VR 2
gerammelt voll. Die anderen hatten sich in zwei Gruppen aufgeteilt,
Campingplätze an der Küste abgeklappert und mit den Besitzern, mit
Dauermietern und anderen Gästen geredet. Nun waren sie wieder
zurück... und erschöpft.
»Hab nicht gewusst, dass es Plätze nur für
Dauercamper gibt«, erzählte Allan Ward. »Die Leute wohnen in diesen
Vierbettkisten, so als wären das richtige Häuser, mit Blumenbeeten
vor der Tür und einer Hütte für den Schäferhund.«
»Wenn die Preise für Häuser weiter so steigen«,
meinte Stu Sutherland, »könnte das zum Trend der Zukunft
werden.«
»Im Winter ist es in den Dingern bestimmt
schweinekalt«, warf Tam Barclay ein.
DCI Tennant lehnte an der Wand und hörte sich all
das mit verschränkten Armen an. Dann wandte er sich an Rebus und
Gray. »Ich hoffe inständig, Sie haben mehr zu bieten als
Neuigkeiten vom Immobilienmarkt und Gartenpflegetipps.«
Gray ignorierte die Frage. »Habt ihr denn gar
nichts herausgefunden?«, fragte er Jazz McCullough.
»Nichts von Belang«, antwortete Jazz. »Es ist sechs
Jahre her. Viele sind woandershin gezogen.«
»Der Besitzer von einem der Campingplätze hat ein
bisschen was erzählt«, sagte Ward. »Zu Ricos Zeiten gehörte ihm der
Platz noch nicht, aber er hat Geschichten gehört, von Partys bis
zum Morgengrauen und Streitereien zwischen Besoffenen. Rico besaß
dort zwei Wohnwagen und wahrscheinlich noch zwei oder drei auf
einem anderen Platz.«
»Gibt’s die Wohnwagen noch?«, fragte Gray.
»Einen davon. Der andere ist abgebrannt.«
»Brandstiftung?«
Ward zuckte mit den Achseln.
»Verstehen Sie jetzt, warum ich so begeistert
bin?«, bemerkte Tennant. »Bekomme ich wenigstens frohe Botschaften
aus dem schönen Glasgow?«
Der Bericht von Gray und Rebus, bei dem sie sich
ausschließlich auf den Besuch im Krankenhaus beschränkten, dauerte
fünf Minuten. Tennant wirkte anschließend nicht besonders
zufrieden.
»Wenn ich es nicht besser wüsste«, meinte er,
»würde ich sagen, dass Sie allesamt nur auf der faulen Haut
liegen.«
»Wir haben doch gerade erst angefangen«, beschwerte
sich Sutherland.
»Ganz genau!« Tennant streckte einen Zeigefinger in
die Höhe. »Sie haben zu viel Zeit darauf verwendet, das Stadtleben
zu genießen, und zu wenig darauf, die Arbeit zu tun, für die Sie
hergekommen sind.« Er hielt inne. »Aber vielleicht ist es gar nicht
Ihre Schuld. Vielleicht gibt es nichts, was wir hier herausfinden
könnten.«
»Also zurück nach Tulliallan?«, fragte Tam
Barclay.
Tennant nickte. »Es sei denn, Sie liefern mir einen
Grund zu bleiben.«
»Dickie Diamond, Sir«, erklärte Sutherland. »Wir
müssen noch mit ein paar Freunden von ihm reden. Und wir haben
Kontakt zu einem hiesigen Polizeispitzel aufgenommen -«
»Das heißt, vorläufig sitzen Sie rum und
warten?«
»Wir verfolgen da noch eine andere Spur, Sir«,
erwiderte Jazz McCullough. »Diamond ist kurz nach der
Pfarrhaus-Vergewaltigung verschwunden.« Rebus starrte mit gesenktem
Kopf die schlammbraunen Teppichfliesen an.
»Und?«, fragte Tennant.
»Und nichts, Sir. Ein Umstand, den man vielleicht
näher untersuchen sollte.«
»Sie glauben, dass Diamond in den Fall verwickelt
war?«
»Ich weiß, es klingt etwas dünn, Sir.«
»Dünn? Damit können Sie eine Pizza belegen.«
»Geben Sie uns noch ein, zwei Tage, Sir«, bat Gray.
»Wo wir schon einmal hier sind, würden wir die Gelegenheit nutzen
und ein paar offene Fragen klären. Zumal wir ja...«, er sah zu
Rebus, »… einen echten Experten an der Seite haben.«
»Experten?« Tennant zog die Brauen zusammen.
Gray schlug Rebus auf die Schulter. »Unser John
weiß genau, wo in Edinburgh die Leichen begraben sind. Stimmt’s,
John?«
Tennant dachte darüber nach, Rebus schwieg. Dann
löste Tennant die verschränkten Arme und steckte die Hände in seine
Jacketttaschen. »Ich überleg’s mir«, sagte er.
»Danke, Sir.«
Nachdem Tennant den Raum verlassen hatte, ging
Rebus auf Gray zu. »Ich soll wissen, wo hier die Leichen begraben
sind?«
Gray zuckte mit den Achseln und lachte auf. »Das
hast du mir doch gesagt, oder? Natürlich im übertragenen Sinn
gemeint.«
»Natürlich.«
»Oder etwa nicht?«
Später am Nachmittag stand Rebus vor dem
Getränkeautomaten und sann über seine nächsten Schritte nach. Er
hatte ein paar Münzen in der Hand, war aber in Gedanken woanders.
Er überlegte, wem er von seinem Plan mit dem Raubüberfall erzählen
könnte. Dem Chief Constable zum Beispiel. Strathern wusste von den
Drogen in der Lagerhalle nichts, da war er sich sicher. Claverhouse
hatte sich an Carswell gewandt, Stratherns Stellvertreter. Die
beiden waren Freunde, und Carswell hatte dem Plan wahrscheinlich
zugestimmt, ohne es für nötig zu halten, den Boss zu informieren.
Wenn nun Rebus Strathern davon erzählte, würde der Chief einen
Wutanfall bekommen, denn ihm gefiel es bestimmt nicht, bei einem so
wichtigen Drogenfund übergangen
worden zu sein. Rebus wusste nicht, was dabei am Ende herauskommen
würde, aber seinem Plan würde es wahrscheinlich nicht nützen.
Im Moment war vor allem wichtig, die Existenz der
Drogen geheim zu halten. Er würde natürlich keinen echten
Raubüberfall zulassen. Der Plan war ein Köder, um an das Trio
heranzukommen und hoffentlich etwas über den Verbleib von Bernie
Johns’ Millionen zu erfahren. Er war sich nicht sicher, ob Gray und
Co. ihm auf den Leim gehen würden - und es beunruhigte ihn, dass
Gray so großes Interesse gezeigt hatte. Wieso zog es jemand wie
Gray, der mehr Geld gebunkert haben musste, als der Drogenraub je
einbringen konnte, in Betracht, bei Rebus’ Plan mitzumachen? Rebus
hatte mit seiner Geschichte dem Trio beweisen wollen, dass auch er
bereit war, der Versuchung nachzugeben, und, genau wie sie, zum
Verbrecher zu werden.
Nun musste er möglicherweise damit rechnen, dass
die drei den Plan wirklich durchführen würden.
Und warum sollten diese Männer, die ihr
unrechtmäßig erworbener Besitz stinkreich gemacht hatte, so etwas
tun? Rebus fiel nur eine Antwort ein: Sie waren überhaupt nicht
stinkreich. Und damit stand er wieder am Anfang. Schlimmer noch: Er
stand als der Urheber des Plans da, seinen Kollegen Drogen im Wert
von einigen hunderttausend Pfund zu klauen.
Doch wenn Gray und Co. beim ersten Mal nicht
erwischt worden waren, glaubten sie vielleicht, es erneut riskieren
zu können. Hatte die Gier ihnen den Verstand vernebelt? Rebus wurde
mit Erschrecken klar, dass sie es wirklich schaffen könnten.
Die Sicherheitsvorkehrungen in der Lagerhalle waren nicht besonders
streng. Claverhouse wollte bestimmt nicht, dass es so aussah, als
sei das Gelände stark bewacht. Das würde zu viel Aufmerksamkeit
erregen. Ein Tor, ein paar Wachtposten, ein Vorhängeschloss. Und
wenn es eine Alarmanlage gab? Mit der könnte man fertig werden.
Auch
mit den Wachtposten. Die Drogen würden bequem in einen
Mittelklassekombi passen.
Worüber denkst du da eigentlich nach,
John?
Die ganze Angelegenheit hatte eine Wendung
genommen. Er hatte immer noch nicht sehr viel über die drei Männer
herausgefunden, aber Gray wusste inzwischen, dass Rebus etwas über
Dickie Diamond wusste. John weiß, wo die Leichen begraben
sind. Der Schlag auf die Schulter war eine Warnung
gewesen.
Plötzlich stand Linford hinter ihm. »Wollen Sie was
trinken oder zählen Sie nur Ihre Ersparnisse?«
Rebus fiel keine Antwort ein, also trat er zur
Seite.
»Steht demnächst wieder ein Boxkampf auf dem
Programm?«, fragte Linford, während er die Münzen durch den Schlitz
schob.
»Wie bitte?«
»Haben Sie und Allan Ward etwa Frieden
geschlossen?« Linford drückte die Taste für Tee, dann schimpfte er:
»Mist, ich hätte Kaffee nehmen sollen. Bei Tee muss man hier immer
Angst haben, dass er im nächsten Moment durch die Gegend
fliegt.«
»Tun Sie mir den Gefallen, und kriechen Sie zurück
in das Loch, aus dem Sie gekommen sind«, sagte Rebus.
»Beim CID ist es viel angenehmer ohne Sie. Ließe es
sich einrichten, dass Sie dauerhaft wegbleiben?«
»Wohl kaum«, meinte Rebus. »Ich hab nämlich
versprochen, erst dann in Rente zu gehen, wenn jemand Sie
entjungfert.«
»Bis das passiert, bin sogar ich in Rente«, sagte
Siobhan und kam auf die beiden Männer zu. Sie lächelte, ohne dabei
besonders amüsiert zu wirken.
»Und wer hat Ihnen die Unschuld geraubt, DS
Clarke?« Linford erwiderte ihr Lächeln und sah dann Rebus an. »Oder
ist das ein Thema, um das Sie lieber einen großen Bogen
machen?«
Er ging weg. Rebus trat näher an Siobhan heran.
»Genau dasselbe sagen die Frauen über Dereks Bett«, sagte er so
laut, dass Linford es hören musste.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Siobhan mit
gespielter Ahnungslosigkeit.
»Dass sie darum lieber einen großen Bogen
machen.«
Als Linford verschwunden war, holte sich Siobhan
etwas zu trinken aus dem Automaten. »Wollen Sie nichts?«, fragte
sie.
»Hab’s mir anders überlegt«, antwortete Rebus und
steckte die Münzen wieder in die Tasche. »Wie geht es Ihnen?«
»Gut.«
»Wirklich?«
»Na ja, mehr oder weniger«, gab sie zu. »Und ich
will nicht darüber reden.«
»War auch nicht meine Absicht.«
Sie richtete sich auf, den heißen Plastikbecher
vorsichtig zwischen den Fingern haltend. »Das mag ich so an Ihnen«,
sagte sie. »Haben Sie eine Minute Zeit? Ich würde gern Ihre Meinung
hören.«
Sie gingen hinaus auf den Parkplatz, und Rebus
steckte sich eine Zigarette an. Siobhan vergewisserte sich, dass
keine anderen Raucher in der Nähe waren, die sie belauschen
konnten.
»Scheint ja ungeheuer wichtig zu sein«, sagte
Rebus.
»Nicht unbedingt. Ich hab mir bloß ein paar
Gedanken über Ihre Freunde aus VR 2 gemacht.«
»Weshalb?«
»Allan Ward ist gestern mit Phyllida
ausgegangen.«
»Und?«
»Und es ist nichts passiert.Ward war ganz
Gentleman, hat sie nach Hause gefahren und wollte trotz ihres
Angebots nicht mit hochkommen.« Sie überlegte. »Ist er
verheiratet?« Rebus schüttelte den Kopf. »Eine feste
Freundin?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Phyl sieht ziemlich gut aus, finden Sie nicht?«
Rebus nickte zustimmend. »Und er hat ihr den ganzen Abend seine
ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt -«
Ihr Tonfall ließ Rebus stutzig werden.
»Inwiefern?«
»Er hat sich ausgiebig nach dem Fall Marber
erkundigt.«
»Das ist doch nicht weiter ungewöhnlich. Steht denn
in den Frauenzeitschriften nicht immer, dass die Männer den Frauen
öfter zuhören sollten?«
»Keine Ahnung, ich lese solche Zeitschriften
nicht.« Sie sah ihn spöttisch an. »Ich wusste gar nicht, dass Sie
ein Experte auf diesem Gebiet sind.«
»Sie wissen genau, was ich meine.«
Sie nickte. »Außerdem habe ich mich daran erinnert,
dass DI Gray neulich in unserem Büro herumgelungert hat, genau wie
dieser McCullen oder wie er heißt.«
»McCullough«, korrigierte Rebus sie. Jazz,Ward und
Gray im CID-Büro?
»Wahrscheinlich hat es gar nichts zu bedeuten«,
sagte Siobhan.
»Was könnte es denn bedeuten?«, fragte er.
Sie zuckte mit den Achseln. »Vielleicht haben sie
nach etwas gesucht, sich für jemanden interessiert?« Ihr fiel etwas
anderes ein. »Der Fall, an dem Sie arbeiten, ist da gestern Abend
was passiert?«
Er nickte. »Jemand, mit dem wir reden wollten,
wurde ins Krankenhaus eingeliefert.« Ein Teil von ihm wollte ihr
mehr erzählen... alles erzählen. Er wusste, dass er ihr
vorbehaltlos vertrauen konnte, aber er entschied sich dagegen, weil
er nicht abschätzen konnte, ob er sie dadurch irgendwie in Gefahr
bringen würde.
»Ward ist nicht mit in Phyls Wohnung gegangen«,
erklärte sie, »weil ihn jemand auf dem Handy angerufen und nach
Tulliallan beordert hat.«
»Vielleicht hat er in dem Moment von dem Vorfall
erfahren.«
Rebus erinnerte sich, dass Gray, Jazz und Ward, als
er nach Mitternacht in Tulliallan angekommen war, noch in der
Kneipe vor ihren ausgetrunkenen Gläsern saßen. Der Barkeeper hatte
schon Feierabend gemacht.
Rebus überlegte, ob Gray und McCullough Ward
herbeizitiert hatten, damit sie gemeinsam bereden konnten, wie sie
auf Rebus’ Gespräch mit Jazz reagieren sollten.Vielleicht hatte
Gray die Idee gehabt, mit ihm nach Glasgow zu fahren, um ihm ein
bisschen auf den Zahn zu fühlen. Als Rebus in die Bar gekommen war,
hatte Gray ihm von Chib Kelly erzählt und noch einmal betont, dass
er ihn unbedingt mitnehmen wolle. Rebus hatte nichts dagegen
gehabt. Er erinnerte sich, dass er Ward nach seinem Rendezvous mit
Phyllida Hawes gefragt und dieser darauf nur mit den Achseln
gezuckt und ausweichend geantwortet hatte. Es sah nicht so aus, als
würde es eine Wiederholung geben.
Siobhan nickte nachdenklich. »Mir fehlt ein Teil
des Puzzles, stimmt’s?«
»Und das wäre?«
»Das weiß ich erst, wenn Sie mir erzählen, was hier
läuft.«
»Es läuft hier überhaupt nichts.«
Sie musterte ihn. »O doch. Es gibt da etwas, das
Sie über Frauen wissen sollten, John: Wir können in euch Männern
lesen wie in einem Buch.«
Er wollte gerade etwas erwidern, da klingelte sein
Handy. Er sah auf das Display und hob einen Finger, um Siobhan zu
bedeuten, dass er ungestört reden wolle.
»Hallo«, sagte er, während er über den Parkplatz
lief. »Ich habe gehofft, dass du dich irgendwann meldest.«
»Bei der Laune, die ich hatte, kannst du froh sein,
dass ich mich nicht eher gemeldet habe.«
»Dann freue ich mich umso mehr, dass du
anrufst.«
»Hast du viel zu tun?«
»Ja, wie immer, Jean. Neulich in der High Street -
ich
hatte mich dazu breitschlagen lassen.Von den Typen aus meinem
Lehrgang.«
»Reden wir nicht darüber«, sagte Jean Burchill.
»Ich rufe an, weil ich mich für die Blumen bedanken möchte.«
»Hast du sie bekommen?«
»Ja. Und zwei Anrufe. Einen von Gill, einen von
Siobhan Clarke.«
Rebus blieb stehen und drehte sich um, aber Siobhan
war bereits im Gebäude verschwunden.
»Sie haben beide dasselbe gesagt«, fuhr Jean
fort.
»Was denn?«
»Dass du ein ungehobelter Dickkopf bist, aber ein
gutes Herz hast.«
»Ich hab versucht, dich zu erreichen, Jean -«
»Ich weiß.«
»Ich möchte es wieder gutmachen. Wie wär’s, wenn
wir heute Abend essen gehen?«
»Wo?«
»Entscheide du.«
»Wie wär’s mit dem Number One? Falls du es
schaffst, einen Tisch zu kriegen.«
»Das werde ich.« Er stockte. »Ein teures
Restaurant, vermute ich?«
»John, wenn mich jemand so mies behandelt, kommt
ihn das teuer zu stehen. Sei froh, dass es dieses Mal nur dein
Portemonnaie trifft.«
»Halb acht?«
»Und sei bitte pünktlich.«
»Klar.«
Sie beendeten das Gespräch. Er ging zurück ins
Gebäude, nahm sich ein Telefonbuch und rief in dem Restaurant an.
Er hatte Glück, gerade war eine Reservierung storniert worden. Das
Restaurant befand sich im Balmoral Hotel in der Princess Street.
Rebus fragte lieber nicht, wie viel er ungefähr würde veranschlagen
müssen. Das Number One war
was Besonderes; viele Leute sparten, um einmal dort essen
zu können. Die Wiedergutmachung würde ihn einiges kosten. Dennoch
war er gut gelaunt, als er den Vernehmungsraum betrat.
»Da ist aber jemand aufgekratzt«, stellte Tam
Barclay fest.
»Hab ich nicht eben die entzückende DS Clarke vom
Parkplatz kommen sehen?«, fügte Allan Ward hinzu.
Lautes Pfeifen und Lachen. Rebus sparte sich eine
Antwort. Einer im Raum war jedoch ernst geblieben: Francis Gray. Er
saß am Tisch, hatte einen Stift zwischen den Zähnen und tippte
rhythmisch mit den Fingern dagegen. Er sah Rebus nicht einfach nur
an, sondern musterte ihn regelrecht.
John weiß genau, wo in Edinburgh die Leichen
begraben sind.
Im übertragenen Sinn gemeint? Das bezweifelte Rebus
…