19
Siobhan hatte verschlafen. Während sie darauf wartete, dass das Wasser der Dusche warm wurde, rief sie auf dem Revier an, um sich zu entschuldigen. In St. Leonard’s schien niemand über ihre Abwesenheit besonders beunruhigt zu sein. Sie sagte, sie würde auf jeden Fall noch kommen. Als das Wasser auf ihren Kopf prasselte, fiel ihr schlagartig ihre Wunde wieder ein, und sie begann zu fluchen.
Donny Dow war nach Leith gebracht worden, und sie fuhr zuerst dorthin. DI Bobby Hogan ging gerade den Bericht durch, den sie noch in der Nacht abgegeben hatte. Es waren keine Änderungen erforderlich.
»Möchten Sie ihn sehen?«, fragte er sie.
Sie schüttelte den Kopf.
»Zwei von euren Leuten - Pryde und Silvers - werden bei der Vernehmung dabei sein.« Hogan tat so, als sei er damit beschäftigt, sich Notizen zu machen. »Die beiden sind überzeugt, dass er auch Marber umgebracht hat.«
»Schön für sie.«
»Sind Sie anderer Meinung?« Er hatte aufgehört zu schreiben und sah auf.
»Wenn Donny Dow Marbers Mörder ist, muss er von Marbers Verhältnis mit Laura gewusst haben. Warum ist er dann ausgerastet, als Linford ihm davon erzählte?«
Hogan zuckte mit den Achseln. »Mit ein bisschen Mühe würden mir bestimmt ein Dutzend Gründe einfallen.« Er hielt inne. »Sie müssen zugeben, das würde doch gut zusammenpassen.«
»Und wie oft geht ein Fall so glatt auf?«, meinte sie skeptisch und stand auf.
In St. Leonard’s war Donny Dow das Hauptgesprächsthema - außer bei Phyllida Hawes. Siobhan traf sie auf dem Flur, und Hawes deutete auf die Tür der Damentoilette.
Als die Tür hinter ihnen geschlossen war, berichtete Hawes, sie sei am Abend zuvor mit Allan Ward ausgegangen.
»Und wie ist es gelaufen?«, fragte Siobhan leise und hoffte, Hawes würde ihrem Beispiel folgen. Sie musste daran denken, wie Derek Linford neulich an der Tür gelauscht hatte.
»Es war klasse. Er ist ziemlich sexy, finden Sie nicht?« Hawes war nun keine Kriminalbeamtin mehr - sie waren zwei Frauen, die über einen Kerl quatschten.
»Ist mir noch gar nicht aufgefallen«, sagte Siobhan. Ihre Worte machten keinen Eindruck auf Hawes, die sich gerade im Spiegel betrachtete.
»Wir waren bei einem Mexikaner und dann noch in ein paar Pubs.«
»Und er hat Sie wie ein Gentleman bis vor die Haustür begleitet?«
»Ja, hat er.« Sie sah Siobhan an und grinste. »Dieses Schwein. Ich wollte ihn gerade fragen, ob er noch auf einen Kaffee mit hochkommt, da klingelte sein Handy. Er meinte, er müsse sofort zurück nach Tulliallan.«
»Hat er gesagt, warum?«
Hawes schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er war kurz davor zu bleiben. Aber dann habe ich nur einen schnellen Kuß auf die Wange bekommen.«
Also in Wahrheit einen Korb, dachte Siobhan. »Werden Sie ihn noch mal treffen?«
»Lässt sich kaum vermeiden, wenn man im selben Gebäude arbeitet.«
»Sie wissen genau, was ich meine.«
Hawes kicherte. Siobhan hatte sie noch nie so erlebt. War kokett das richtige Wort? Sie sah auf einmal zehn Jahre jünger aus und wesentlich hübscher. »Ja, bestimmt«, sagte sie dann.
»Und worüber haben Sie sich den ganzen Abend unterhalten?«, wollte Siobhan wissen.
»Hauptsächlich über die Arbeit. Allan kann wirklich gut zuhören.«
»Also haben Sie die meiste Zeit über sich geredet?«
»Ja, genau wie ich’s gern mag.« Hawes lehnte sich an das Waschbecken, verschränkte die Arme und überkreuzte die Füße. Sie wirkte zufrieden. »Ich hab ihm vom Gayfield Square erzählt und dass ich vorübergehend nach St. Leonard’s versetzt worden bin. Er wollte alles über den Fall wissen...«<
»Den Fall Marber?«
Hawes nickte. »Meine Aufgaben bei der Ermittlung... wie es so läuft. Wir haben Margheritas getrunken. Die konnte man da in Krügen bestellen.«
»Und wie viele Krüge haben Sie geschafft?«
»Nur einen. Ich wollte schließlich nicht, dass er die Situation ausnutzt.«
»Phyllida, ich wette, nichts wäre Ihnen lieber gewesen.«
Beide lächelten. »Stimmt«, gab Hawes zu und kicherte erneut. Dann seufzte sie, sah Siobhan erschrocken an und schlug die Hand vor den Mund.
»Mein Gott, ich hab noch gar nicht gefragt, wie’s Ihnen geht!«
»So einigermaßen«, sagte Siobhan. Sie hatte vermutet, Hawes habe nur aus einem Grund allein mit ihr reden wollen: wegen Lauras Ermordung.
»Es muss schrecklich für Sie gewesen sein.«
»Ich will nicht darüber nachdenken.«
»Hat man Ihnen ein Gespräch mit dem Polizeipsychologen angeboten?«
»Nein, und ich wüsste auch nicht, warum.«
»Damit Sie aufhören, das Erlebnis zu verdrängen.«
»Das tu ich doch gar nicht.«
»Sie haben gerade gesagt, Sie wollen nicht darüber nachdenken.«
Siobhan wurde langsam ärgerlich. Sie wollte jetzt nicht über Lauras Tod nachdenken, weil etwas anderes sie beschäftigte: Allan Wards Interesse am Fall Marber.
»Warum hat Allan sich so für Ihre Arbeit interessiert?«, fragte sie.
»Er wollte so viel wie möglich über mich erfahren.«
»Insbesondere Einzelheiten über den Fall Marber.«
Hawes sah sie an. »Worauf wollen Sie hinaus?«
Siobhan schüttelte den Kopf. »Schon gut, Phyl.« Aber Hawes sah sie nun mit einem neugierigen und auch etwas besorgten Blick an.Würde sie sofort zu Ward laufen und ihm alles erzählen? »Vielleicht haben Sie Recht.« Siobhan tat so, als gebe sie nach. »Ich glaube, ich bin ein bisschen überreizt. Wahrscheinlich eine Nachwirkung von gestern.«
»Ja, bestimmt.« Hawes fasste sie am Arm. »Sie wissen, ich bin immer für Sie da, falls Sie mal jemanden zum Reden brauchen.«
»Danke«, sagte Siobhan und schenkte ihr ein Lächeln, von dem sie hoffte, dass es überzeugend wirkte.
Als sie zurück ins Büro ging, dachte sie erneut an die Ereignisse vor dem Paradiso. Das Einrasten des Türschlosses - sie hatte Pferdeschwanz-Ricky noch nicht die Meinung gesagt, aber der würde ihr nicht durch die Lappen gehen. Sie hatte die Szene in den letzten Stunden immer wieder rekapituliert und darüber nachgedacht, was sie für Laura hätte tun können. Beispielsweise die Beifahrertür von innen öffnen, dann hätte Laura die Chance gehabt, sich vor Dow in Sicherheit zu bringen. Sie selbst hätte schneller aus dem Auto springen und über die Motorhaube flanken und Dow wirkungsvoller attackieren können. Sie hätte ihn sofort außer Gefecht setzen, verhindern müssen, dass Laura so viel Blut verlor.
Denk jetzt nicht mehr dran, sagte sie sich.
Konzentrier dich auf Marber… Edward Marber. Ein weiteres Opfer, das ihre Aufmerksamkeit erforderte. Ein weiterer Geist, dessen Tod nach Sühne verlangte. Rebus hatte ihr einmal spätabends in der Oxford Bar nach etlichen Gläsern gestanden, er sehe Gespenster. Eigentlich spüre er sie mehr, als dass er sie sehe. All die Fälle, die unschuldigen und weniger unschuldigen Opfer, die Menschen, die auf eine Ermittlungsakte reduziert worden waren - sie hatten Rebus stets mehr bedeutet als nur das. Er schien es als eine Schwäche anzusehen. Siobhan hatte ihm jedoch widersprochen.
Wir wären doch keine Menschen, wenn ihr Schicksal uns kalt ließe, hatte sie gesagt. Er hatte sie daraufhin mit einem zynischen Blick zum Schweigen gebracht, der zu besagen schien, dass sie alles, nur nicht »menschlich« sein durften.
Sie schaute sich im Büro um. Alle waren fleißig bei der Arbeit: Hood, Linford, Davie Hynds. Sie erkundigten sich, wie es ihr gehe. Sie wehrte ihr Mitgefühl ab und bemerkte, dass Phyllida Hawes errötete - vermutlich weil sie sich schämte, nicht genauso wie die anderen reagiert zu haben. Siobhan hätte ihr gern gesagt, dass es in Ordnung sei, aber Hynds war an ihren Schreibtisch getreten, um etwas mit ihr zu besprechen. Siobhan legte ihre Jacke über die Stuhllehne und setzte sich.
»Worum geht’s?«, fragte sie.
»Das Geld, nach dem ich forschen sollte.«
Sie starrte ihn an. Geld? Welches Geld?
»Laura Stafford glaubte doch, Marber erwarte eine größere Summe«, erklärte Hynds, als er ihre Verwirrung bemerkte.
»Ach ja.« Ihr fiel auf, dass jemand während ihrer Abwesenheit ihren Schreibtisch benutzt hatte. Beweis: Kaffeetassen und verstreute Büroklammern. Ihr Eingangskorb war voll, und es sah aus, als habe ihn jemand durchsucht. Sie dachte daran, dass Gray in den Akten gestöbert und Allan Ward Phyllida über die Ermittlungen ausgefragt hatte. Außerdem hatten sich ein paar andere von Rebus’ Crew im Raum herumgetrieben.
Ihr Bildschirm war abgeschaltet. Als sie ihn anmachte, schwammen kleine Fische darüber - ein neuer Bildschirmschoner ohne Text. Der unbekannte Quälgeist schien auf einmal Mitleid mit ihr bekommen zu haben.
Sie bemerkte erst, dass Hynds etwas gesagt haben musste, als er verstummte. Die plötzliche Stille lenkte ihre Aufmerksamkeit auf ihn.
»Entschuldigung, Davie, ich hab nicht zugehört.«
»Ich kann später noch mal wiederkommen«, sagte er. »Ist sicher schwer für Sie, einfach so zur Tagesordnung überzugehen.«
»Würden Sie bitte noch mal wiederholen, was Sie gesagt haben?«
»Wollen Sie’s wirklich hören?«
»Verdammt, Davie -« Sie schnappte sich einen Bleistift. »Muss ich Sie erst hiermit abstechen?« Er starrte sie an, und sie starrte zurück, weil ihr plötzlich bewusst wurde, was sie eben gesagt hatte. Sie sah, wie sie den Bleistift in der Hand hielt: wie ein Messer. »O Gott«, stieß sie hervor, »tut mir Leid.«
»Keine Ursache.«
Sie ließ den Bleistift fallen, nahm statt dessen den Telefonhörer in die Hand und bat Hynds zu warten, während sie mit Bobby Hogan sprach.
»Hier ist Siobhan Clarke«, meldete sie sich. »Ich hab was vergessen: Dows Messer... bei uns in der Nähe ist ein Heimwerkerladen. Vielleicht hat er es sich dort besorgt. Die werden doch sicher Überwachungskameras haben... oder vielleicht erinnert sich einer der Verkäufer an ihn.« Sie lauschte Hogans Antwort. »Danke«, sagte sie und legte auf.
»Haben Sie schon gefrühstückt?«, fragte Hynds.
»Ich wollte gerade dasselbe fragen.« Derek Linford war hinzugekommen. Beim Anblick seines übertrieben besorgten Gesichtsausdrucks musste Siobhan ein Zittern unterdrücken.
»Ich hab keinen Hunger«, sagte sie zu den beiden Männern. Ihr Telefon klingelte, und sie nahm ab. Die Zentrale meldete sich und stellte den Anruf einer gewissen Andrea Thomson durch.
»Man hat mich gebeten, Sie anzurufen«, sagte Thomson. »Ich bin … nun ja, ich benutze nicht gern den Ausdruck Therapeutin.«
»Sie sind doch angeblich Karriereberaterin«, korrigierte Siobhan sie, womit sie Thomson sichtlich aus dem Konzept brachte.
»Da hat wohl jemand geplaudert«, sagte sie nach längerem Schweigen. »Sie haben lange mit DI Rebus zusammengearbeitet, richtig?«
Dumm war Thomson also nicht. »Er hat mir erzählt, Sie hätten bestritten, eine Therapeutin zu sein«, entgegnete Siobhan.
»Viele Polizisten reagieren allergisch auf dieses Wort.«
»Ich eingeschlossen.« Siobhan sah Hynds an, der ihr ermunternd zunickte. Linford bemühte sich noch immer um einen mitfühlenden Gesichtsausdruck, allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Ihm fehlt die Übung, dachte Siobhan.
»Sie werden feststellen, dass es hilfreich sein kann, über bestimmte Probleme zu sprechen«, erklärte Thomson.
»Ich hab keine Probleme«, erwiderte Siobhan schroff. »Entschuldigen Sie bitte, Ms Thomson, aber ich bin mit einem Mordfall beschäftigt.«
»Darf ich Ihnen trotzdem meine Nummer geben?«
Siobhan seufzte. »Na schön, wenn Sie sich danach besser fühlen.«
Thomson nannte sowohl ihre Büro- als auch Handynummer. Siobhan starrte ins Leere, ohne Anstalten zu machen, sie zu notieren. Thomson unterbrach sich.
»Sie schreiben nicht mit, oder?«
»Doch, natürlich.«
Hynds schüttelte den Kopf, weil er haargenau wusste, was vor sich ging. Er nahm den Bleistift und hielt ihn ihr hin.
»Könnten Sie bitte die Nummern wiederholen?«, sagte Siobhan. Als sie aufgelegt hatte, zeigte sie Hynds den Zettel.
»Zufrieden?«
»Ich wär noch zufriedener, wenn Sie etwas essen würden.«
»Ich auch«, fügte Derek Linford hinzu.
Siobhan schaute auf die Telefonnummern von Andrea Thomson. »Derek«, sagte sie. »Davie und ich haben etwas zu besprechen. Wären Sie so gut, meine Anrufe entgegenzunehmen?« Sie streifte ihre Jacke über.
»Wo wollen Sie hin?«, fragte Linford, bemüht, nicht verärgert zu klingen. »Falls wir Sie hier brauchen.«
»Sie haben doch meine Handynummer«, entgegnete sie. »Unter der bin ich immer zu erreichen.«
Sie gingen das kurze Stück die Straße hinunter zum Engine Shed. Hynds hatte gar nicht gewusst, dass es dort ein Café gab.
»Es war früher wirklich einmal ein Lokschuppen«, erzählte sie ihm. »Für Dampfloks. Sie haben Güterwagen gezogen... hauptsächlich Kohlewaggons, vermute ich. Man kann noch Reste der Gleise sehen - sie führen rüber nach Duddingston.«
Sie bestellten sich Tee und Kuchen. Als Siobhan den ersten Bissen hinuntergeschluckt hatte, merkte sie, dass sie furchtbar hungrig war.
»Also, was haben Sie herausgefunden?«
Hynds war ganz erpicht darauf, endlich loszulegen. Ihr war klar, dass es um etwas ging, das er absichtlich für sich behalten hatte, damit sie es direkt von ihm erfuhr.
»Ich hab mit ein paar Leuten über Marbers Finanzen gesprochen: einem Typ von seiner Bank, seinem Steuerberater, dem Buchhalter der Galerien -«
»Und?«
»Kein Hinweis darauf, dass in nächster Zeit ein größerer Betrag anstand.« Hynds hielt inne, als sei er nicht sicher, ob »anstehen« das richtige Wort war.
»Und?«
»Also hab ich mir die Abbuchungen von seinen Konten angeschaut. Bei Scheckeinreichungen taucht nur die Schecknummer auf den Kontoauszügen auf, deshalb ist nicht ersichtlich, an wen die Zahlungen gingen.« Siobhan nickte, damit er fortfuhr. »Das ist wahrscheinlich der Grund, warum uns eine bedeutende Abbuchung nicht aufgefallen ist.« Er hielt wieder inne, und es war klar, weshalb: statt wir meinte er eigentlich Linford. »Fünftausend Pfund. Der Buchhalter hat das Scheckheft gefunden, aber auf dem Kontrollabschnitt war nur der Betrag vermerkt.«
»War es eine private oder geschäftliche Zahlung?«
»Das Geld ist von einem von Marbers Privatkonten abgebucht worden.«
»Und Sie haben herausgefunden, für wen der Scheck bestimmt war?« Sie versuchte, es zu erraten. »Laura Stafford?«
Hynds schüttelte den Kopf. »Wir waren zweimal bei einem Maler zu Besuch. Erinnern Sie sich noch?«
Sie sah ihn an. »Malcolm Neilson?« Hynds nickte. »Marber hat Neilson fünf Riesen gezahlt? Wann?«
»Vor rund einem Monat.«
»Vielleicht war es die Bezahlung für ein Bild.«
Auf diesen Einwand hatte Hynds gewartet. »Marber war doch gar nicht Neilsons Galerist. Außerdem wäre so eine Zahlung ganz offiziell über das Geschäftskonto abgewickelt worden und nicht in aller Heimlichkeit mit einem privaten Scheck.«
Siobhan dachte nach. »Neilson hat sich an dem Abend vor der Galerie herumgetrieben.«
»Weil er noch mehr Geld wollte?«, fragte Hynds.
»Glauben Sie, er hat Marber erpresst?«
»Möglich. Oder er hat ihm etwas verkauft. Ich meine, wie oft kommt es vor, dass man sich mit jemandem heftig streitet und ihm hinterher als Dank einen vierstelligen Betrag bezahlt?«
»Und was hat er ihm verkauft?« Siobhan hatte ganz vergessen, dass sie hungrig war. Hynds deutete mit einer Kopfbewegung auf den Kuchen, damit sie weiteraß.
»Vielleicht sollten wir ihn das selbst fragen«, meinte er. »Sobald Sie Ihren Teller leer gegessen haben.«
 
Neilson erschien, wie von Siobhan empfohlen, mit seinem Anwalt in St. Leonard’s. Beide Vernehmungsräume waren frei: Rebus’ Crew war angeblich unterwegs, um Campingplätze zu inspizieren. Siobhan entschied sich für VR 2 und ließ sich auf dem Stuhl nieder, auf dem Linford am Tag zuvor beim folgenreichen Verhör von Dow gesessen hatte.
Neilson und William Allison nahmen ihr gegenüber Platz, Davie Hynds neben ihr. Sie hatten beschlossen, das Gespräch aufzuzeichnen. Auf diese Weise konnte man Druck ausüben - viele Leute wurden angesichts eines Mikrofons nervös, sie wussten, dass man ihnen alles, was sie sagten, eines Tages unter die Nase reiben konnte.
»Es ist sowohl zu Ihrem eigenen als auch zu unserem Nutzen«, hatte Siobhan mit der üblichen Floskel erklärt. Allison verlangte, dass zwei Mitschnitte gemacht wurden: einer für die Polizei und einer für seinen Klienten.
Dann kamen sie zur Sache. Siobhan schaltete das Aufnahmegerät ein, stellte sich vor und bat die anderen, dasselbe zu tun. Als Neilson an der Reihe war, sah sie ihn sich genauer an. Der Maler saß mit hochgezogenen Brauen da, als frage er sich, was er an so einem Ort eigentlich sollte. Seine Haare standen wie immer wild vom Kopf ab, und er trug ein dickes, weites Baumwollhemd über einem grauen T-Shirt. Da er das Hemd versehentlich oder mit Absicht falsch zugeknöpft hatte, saß der Kragen an einer Seite tiefer als an der anderen.
»Mr Neilson, Sie haben bereits zugegeben, dass Sie sich an dem Abend, als Edward Marber starb, vor dessen Galerie aufgehalten haben«, begann sie.
»Ja.«
»Könnten Sie noch einmal wiederholen, warum Sie sich dort befunden haben?«
»Ich war neugierig auf die Ausstellung.«
»Einen anderen Grund gab es nicht?«
»Nein, was hätte das für einer sein sollen?«
»Sie müssen nur die Fragen beantworten, Malcolm«, schaltete sich Allison ein. »Es ist nicht nötig, dass sie selbst welche stellen.«
»Da Mr Neilson diese Frage nun einmal aufgeworfen hat«, sagte Siobhan, »möchte ich sie an meinen Kollegen weiterreichen.«
Hynds öffnete den dünnen Pappordner vor ihm und schob eine Fotokopie des Schecks über den Tisch. »Dürfen wir Sie um eine Erklärung dafür bitten?«, sagte er lediglich.
»DC Hynds«, sagte Siobhan als Erklärung für die Aufzeichnung, »zeigt Mr Neilson und Mr Allison die Kopie eines Schecks über fünftausend Pfund, der vor einem Monat auf den Namen von Mr Neilson ausgestellt wurde. Der Scheck trägt Edward Marbers Unterschrift und ging zu Lasten eines seiner Privatkonten.«
Als sie verstummt war, herrschte Schweigen im Raum.
»Kann ich mich kurz mit meinem Klienten besprechen?«, bat Allison.
»Die Befragung wurde um elf Uhr vierzig unterbrochen«, sagte Siobhan knapp und schaltete den Apparat aus.
In solchen Situationen wünschte sie sich jedes Mal, sie würde rauchen. Sie stand mit Hynds vor VR 2, tippte mit dem Fuß auf den Boden und mit einem Stift gegen ihre Zähne. Bill Pryde und George Silvers kamen gerade aus Leith zurück und konnten vom ersten ausführlichen Verhör mit Donny Dow berichten.
»Er weiß, dass er wegen dem Tod seiner Frau in den Knast wandert«, sagte Silver. »Aber er schwört, Marber nicht getötet zu haben.«
»Glauben Sie ihm?«
»Er ist ein mieses Schwein. Solchen Typen glaube ich prinzipiell nicht.«
»Er ist ziemlich fertig wegen der Sache mit seiner Frau«, meinte Pryde.
»Mir kommen gleich die Tränen«, bemerkte Siobhan eisig.
»Will man ihn wegen des Mordes an Marber anklagen?«, fragte Hynds. »Immerhin haben wir da drin einen weiteren Verdächtigen sitzen.«
»Und was machen Sie dann hier draußen?«, fragte eine Stimme. Sie gehörte Gill Templer. Die beiden hatten sie darüber informiert, dass sie Neilson vorladen wollten, und sie war einverstanden gewesen. Nun stand sie breitbeinig da, die Hände in die Hüften gestemmt - eine Frau, die Ergebnisse sehen wollte.
»Er bespricht sich mit seinem Anwalt«, erklärte Siobhan.
»Hat er schon was gesagt?«
»Wir haben ihm gerade erst den Scheck gezeigt.«
Templer wandte sich an Pryde. »Gute Nachrichten aus Leith?«
»Nicht direkt.«
Sie atmete deutlich hörbar aus. »Wir müssen endlich einen entscheidenden Fortschritt machen.« Sie sprach leise, damit der Anwalt und der Maler es nicht mitbekamen, aber der dringliche, frustrierte Ton ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Ja, Madam«, sagte Davie Hynds und wandte den Kopf, weil sich die Tür von VR 2 öffnete.
»Wir wären dann so weit«, sagte Allison. Siobhan und Hynds gingen zurück in das Zimmer.
Die Tür war geschlossen, das Band lief wieder. Neilson fuhr sich durchs Haar, worauf es noch wirrer abstand. Die anderen warteten darauf, dass er zu reden begann.
»Sie wollten doch etwas sagen, Malcolm«, meinte der Anwalt.
Neilson lehnte sich zurück und starrte an die Decke. »Edward Marber hat mir fünftausend Pfund gegeben, damit ich ihm nicht weiter auf die Nerven gehe. Er wollte, dass ich den Mund halte und ihn in Ruhe lasse.«
»Warum?«
»Weil immer mehr Leute mir zuhörten, wenn ich ihnen erzählte, dass er ein Betrüger war.«
»Haben Sie Geld von ihm verlangt?«
Neilson schüttelte den Kopf.
»Wir brauchen eine hörbare Antwort für die Aufzeichnung«, bemerkte Siobhan.
»Ich hab überhaupt nichts von ihm verlangt«, sagte Neilson. »Er selbst ist auf mich zugekommen. Zuerst hat er mir nur tausend angeboten, aber nach und nach ist er bis auf fünftausend hochgegangen.«
»Und waren Sie an jenem Abend in der Galerie, weil Sie noch mehr Geld haben wollten?«, fragte Hynds.
»Nein.«
»Sie wollten sehen, wie die Ausstellung lief«, stellte Siobhan fest. »Das könnte doch bedeuten, dass Sie sich fragten, ob Sie vielleicht noch mehr Profit aus Ihrem Drohpotential ziehen könnten. Schließlich haben Sie das Geld angenommen und Marber trotzdem weiter belästigt.«
»Wenn ich ihn hätte belästigen wollen, wäre ich doch wohl reingegangen, oder?«
»Vielleicht hatten Sie ja vor, später unter vier Augen mit ihm zu reden?«
Neilson schüttelte heftig den Kopf. »Ich hab mich von ihm fern gehalten.«
»Das stimmt doch nicht.«
»Ich meinte damit, dass ich nicht mit ihm gesprochen habe.«
»Waren Sie mit den fünftausend zufrieden?«, fragte Hynds.
»Zufrieden würde ich nicht sagen, aber es war mir schon eine gewisse Genugtuung. Ich hab das Geld angenommen, weil es bedeutete, dass er fünftausend Pfund aus seinen Betrügereien nicht für sich selbst ausgeben konnte.« Der Künstler fuhr sich geräuschvoll mit den Händen über die stoppeligen Wangen.
»Was haben Sie bei der Nachricht von seinem Tod empfunden?« Die Frage kam von Siobhan. Neilson sah ihr in die Augen.
»Es hat mich offen gestanden ziemlich gefreut. Ich weiß, das zeugt nicht gerade von besonderer Mitmenschlichkeit, aber -«
»Haben Sie befürchtet, dass wir Ihrer Beziehung zu Mr Marber nachgehen würden?«, wollte Siobhan wissen.
Neilson nickte.
»Haben Sie befürchtet, dass wir auf den Scheck stoßen würden?«
Erneutes Nicken.
»Warum haben Sie es uns dann nicht einfach erzählt?«
»Ich wusste, wonach das aussehen würde.« Er klang jetzt kleinlaut.
»Und wonach sieht es aus?«
»Es sieht so aus, als hätte ich Motiv, Möglichkeit und so weiter gehabt. Stimmt’s?«
»Wenn Sie unschuldig sind, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, antwortete sie.
Er legte den Kopf schief. »Sie haben ein interessantes Gesicht, Detective Sergeant Clarke. Dürfte ich Sie vielleicht malen, wenn diese Sache ausgestanden ist?«
»Konzentrieren wir uns lieber auf die Gegenwart, Mr Neilson. Erzählen Sie uns von dem Scheck. Wie haben Sie sich auf die Summe geeinigt? Hat Marber Ihnen den Scheck zugeschickt oder persönlich übergeben?«
 
Nach der Vernehmung besorgten Hynds und Siobhan sich ein verspätetes Mittagessen beim Bäcker. Belegte Brötchen und Getränke in Dosen aus dem Kühlfach. Draußen war es warm, der Himmel bedeckt. Siobhan sehnte sich nach einer zweiten Dusche, hauptsächlich, um das Durcheinander in ihrem Kopf fortzuspülen. Sie gingen nicht auf direktem Weg zurück nach St. Leonard’s und aßen im Gehen.
»Wie lautet Ihr Tipp?«, fragte Hynds. »Donny Dow oder Neilson?«
»Warum nicht beide?«, überlegte Siobhan. »Neilson hat Edward Marber beobachtet und Dow Bescheid gegeben, als das Taxi kam.«
»Die beiden unter einer Decke?«
»Und wo wir schon mal dabei sind, sollten wir Big Ger Cafferty nicht vergessen. So jemand haut man lieber nicht übers Ohr.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Marber Cafferty betrogen hat. Wie Sie schon sagten: zu riskant.«
»Sonst noch jemand mit finsteren Absichten?«
»Wie wär’s mit Laura Stafford? Vielleicht hatte sie genug von ihm... vielleicht wollte Marber mehr von ihr als sie von ihm.« Hynds überlegte. »Und wenn Donny Dow Lauras Zuhälter war?«
Siobhan entgleisten die Gesichtszüge. »Das reicht jetzt«, fauchte sie.
Hynds war sofort klar, dass er etwas Falsches gesagt hatte. Er beobachtete sie, wie sie den Rest ihres Brötchens in einen Mülleimer warf und sich die Krümel von der Jacke wischte.
»Sie sollten mit jemandem reden«, sagte er leise.
»Etwa mit der Therapeutin? Tun Sie mir einen Gefallen -«
»Das versuche ich doch. Aber Sie hören ja nicht auf mich.«
»Ich hab schon öfter mit angesehen, wie ein Mensch getötet wurde, Davie. Und Sie?« Sie war stehen geblieben, um ihm ins Gesicht zu sehen.
»Wir sind doch Partner«, sagte er gekränkt.
»Aber mein Dienstgrad ist deutlich höher als Ihrer. Ich glaube, das vergessen Sie gelegentlich.«
»Verdammt, Shiv, ich wollte nur -«
»Und nennen Sie mich nicht Shiv!«
Er schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders und nahm stattdessen einen Schluck aus seiner Dose. Nach einem Dutzend Schritte holte er tief Luft.
»Entschuldigung.«
»Wofür?«
»Für die blöde Bemerkung über Laura.«
Siobhan nickte. Ihre Miene begann sich zu entspannen. »Sie lernen dazu, Davie.«
»Ich bemühe mich.« Er zögerte. »Friede?«
»Friede«, stimmte sie zu. Darauf gingen sie wortlos nebeneinander her, und man hätte ihr Schweigen beinah kameradschaftlich nennen können.
 
Als Rebus und Gray auf der Wache ankamen, war VR 2 gerammelt voll. Die anderen hatten sich in zwei Gruppen aufgeteilt, Campingplätze an der Küste abgeklappert und mit den Besitzern, mit Dauermietern und anderen Gästen geredet. Nun waren sie wieder zurück... und erschöpft.
»Hab nicht gewusst, dass es Plätze nur für Dauercamper gibt«, erzählte Allan Ward. »Die Leute wohnen in diesen Vierbettkisten, so als wären das richtige Häuser, mit Blumenbeeten vor der Tür und einer Hütte für den Schäferhund.«
»Wenn die Preise für Häuser weiter so steigen«, meinte Stu Sutherland, »könnte das zum Trend der Zukunft werden.«
»Im Winter ist es in den Dingern bestimmt schweinekalt«, warf Tam Barclay ein.
DCI Tennant lehnte an der Wand und hörte sich all das mit verschränkten Armen an. Dann wandte er sich an Rebus und Gray. »Ich hoffe inständig, Sie haben mehr zu bieten als Neuigkeiten vom Immobilienmarkt und Gartenpflegetipps.«
Gray ignorierte die Frage. »Habt ihr denn gar nichts herausgefunden?«, fragte er Jazz McCullough.
»Nichts von Belang«, antwortete Jazz. »Es ist sechs Jahre her. Viele sind woandershin gezogen.«
»Der Besitzer von einem der Campingplätze hat ein bisschen was erzählt«, sagte Ward. »Zu Ricos Zeiten gehörte ihm der Platz noch nicht, aber er hat Geschichten gehört, von Partys bis zum Morgengrauen und Streitereien zwischen Besoffenen. Rico besaß dort zwei Wohnwagen und wahrscheinlich noch zwei oder drei auf einem anderen Platz.«
»Gibt’s die Wohnwagen noch?«, fragte Gray.
»Einen davon. Der andere ist abgebrannt.«
»Brandstiftung?«
Ward zuckte mit den Achseln.
»Verstehen Sie jetzt, warum ich so begeistert bin?«, bemerkte Tennant. »Bekomme ich wenigstens frohe Botschaften aus dem schönen Glasgow?«
Der Bericht von Gray und Rebus, bei dem sie sich ausschließlich auf den Besuch im Krankenhaus beschränkten, dauerte fünf Minuten. Tennant wirkte anschließend nicht besonders zufrieden.
»Wenn ich es nicht besser wüsste«, meinte er, »würde ich sagen, dass Sie allesamt nur auf der faulen Haut liegen.«
»Wir haben doch gerade erst angefangen«, beschwerte sich Sutherland.
»Ganz genau!« Tennant streckte einen Zeigefinger in die Höhe. »Sie haben zu viel Zeit darauf verwendet, das Stadtleben zu genießen, und zu wenig darauf, die Arbeit zu tun, für die Sie hergekommen sind.« Er hielt inne. »Aber vielleicht ist es gar nicht Ihre Schuld. Vielleicht gibt es nichts, was wir hier herausfinden könnten.«
»Also zurück nach Tulliallan?«, fragte Tam Barclay.
Tennant nickte. »Es sei denn, Sie liefern mir einen Grund zu bleiben.«
»Dickie Diamond, Sir«, erklärte Sutherland. »Wir müssen noch mit ein paar Freunden von ihm reden. Und wir haben Kontakt zu einem hiesigen Polizeispitzel aufgenommen -«
»Das heißt, vorläufig sitzen Sie rum und warten?«
»Wir verfolgen da noch eine andere Spur, Sir«, erwiderte Jazz McCullough. »Diamond ist kurz nach der Pfarrhaus-Vergewaltigung verschwunden.« Rebus starrte mit gesenktem Kopf die schlammbraunen Teppichfliesen an.
»Und?«, fragte Tennant.
»Und nichts, Sir. Ein Umstand, den man vielleicht näher untersuchen sollte.«
»Sie glauben, dass Diamond in den Fall verwickelt war?«
»Ich weiß, es klingt etwas dünn, Sir.«
»Dünn? Damit können Sie eine Pizza belegen.«
»Geben Sie uns noch ein, zwei Tage, Sir«, bat Gray. »Wo wir schon einmal hier sind, würden wir die Gelegenheit nutzen und ein paar offene Fragen klären. Zumal wir ja...«, er sah zu Rebus, »… einen echten Experten an der Seite haben.«
»Experten?« Tennant zog die Brauen zusammen.
Gray schlug Rebus auf die Schulter. »Unser John weiß genau, wo in Edinburgh die Leichen begraben sind. Stimmt’s, John?«
Tennant dachte darüber nach, Rebus schwieg. Dann löste Tennant die verschränkten Arme und steckte die Hände in seine Jacketttaschen. »Ich überleg’s mir«, sagte er.
»Danke, Sir.«
Nachdem Tennant den Raum verlassen hatte, ging Rebus auf Gray zu. »Ich soll wissen, wo hier die Leichen begraben sind?«
Gray zuckte mit den Achseln und lachte auf. »Das hast du mir doch gesagt, oder? Natürlich im übertragenen Sinn gemeint.«
»Natürlich.«
»Oder etwa nicht?«
 
Später am Nachmittag stand Rebus vor dem Getränkeautomaten und sann über seine nächsten Schritte nach. Er hatte ein paar Münzen in der Hand, war aber in Gedanken woanders. Er überlegte, wem er von seinem Plan mit dem Raubüberfall erzählen könnte. Dem Chief Constable zum Beispiel. Strathern wusste von den Drogen in der Lagerhalle nichts, da war er sich sicher. Claverhouse hatte sich an Carswell gewandt, Stratherns Stellvertreter. Die beiden waren Freunde, und Carswell hatte dem Plan wahrscheinlich zugestimmt, ohne es für nötig zu halten, den Boss zu informieren. Wenn nun Rebus Strathern davon erzählte, würde der Chief einen Wutanfall bekommen, denn ihm gefiel es bestimmt nicht, bei einem so wichtigen Drogenfund übergangen worden zu sein. Rebus wusste nicht, was dabei am Ende herauskommen würde, aber seinem Plan würde es wahrscheinlich nicht nützen.
Im Moment war vor allem wichtig, die Existenz der Drogen geheim zu halten. Er würde natürlich keinen echten Raubüberfall zulassen. Der Plan war ein Köder, um an das Trio heranzukommen und hoffentlich etwas über den Verbleib von Bernie Johns’ Millionen zu erfahren. Er war sich nicht sicher, ob Gray und Co. ihm auf den Leim gehen würden - und es beunruhigte ihn, dass Gray so großes Interesse gezeigt hatte. Wieso zog es jemand wie Gray, der mehr Geld gebunkert haben musste, als der Drogenraub je einbringen konnte, in Betracht, bei Rebus’ Plan mitzumachen? Rebus hatte mit seiner Geschichte dem Trio beweisen wollen, dass auch er bereit war, der Versuchung nachzugeben, und, genau wie sie, zum Verbrecher zu werden.
Nun musste er möglicherweise damit rechnen, dass die drei den Plan wirklich durchführen würden.
Und warum sollten diese Männer, die ihr unrechtmäßig erworbener Besitz stinkreich gemacht hatte, so etwas tun? Rebus fiel nur eine Antwort ein: Sie waren überhaupt nicht stinkreich. Und damit stand er wieder am Anfang. Schlimmer noch: Er stand als der Urheber des Plans da, seinen Kollegen Drogen im Wert von einigen hunderttausend Pfund zu klauen.
Doch wenn Gray und Co. beim ersten Mal nicht erwischt worden waren, glaubten sie vielleicht, es erneut riskieren zu können. Hatte die Gier ihnen den Verstand vernebelt? Rebus wurde mit Erschrecken klar, dass sie es wirklich schaffen könnten. Die Sicherheitsvorkehrungen in der Lagerhalle waren nicht besonders streng. Claverhouse wollte bestimmt nicht, dass es so aussah, als sei das Gelände stark bewacht. Das würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Ein Tor, ein paar Wachtposten, ein Vorhängeschloss. Und wenn es eine Alarmanlage gab? Mit der könnte man fertig werden. Auch mit den Wachtposten. Die Drogen würden bequem in einen Mittelklassekombi passen.
Worüber denkst du da eigentlich nach, John?
Die ganze Angelegenheit hatte eine Wendung genommen. Er hatte immer noch nicht sehr viel über die drei Männer herausgefunden, aber Gray wusste inzwischen, dass Rebus etwas über Dickie Diamond wusste. John weiß, wo die Leichen begraben sind. Der Schlag auf die Schulter war eine Warnung gewesen.
Plötzlich stand Linford hinter ihm. »Wollen Sie was trinken oder zählen Sie nur Ihre Ersparnisse?«
Rebus fiel keine Antwort ein, also trat er zur Seite.
»Steht demnächst wieder ein Boxkampf auf dem Programm?«, fragte Linford, während er die Münzen durch den Schlitz schob.
»Wie bitte?«
»Haben Sie und Allan Ward etwa Frieden geschlossen?« Linford drückte die Taste für Tee, dann schimpfte er: »Mist, ich hätte Kaffee nehmen sollen. Bei Tee muss man hier immer Angst haben, dass er im nächsten Moment durch die Gegend fliegt.«
»Tun Sie mir den Gefallen, und kriechen Sie zurück in das Loch, aus dem Sie gekommen sind«, sagte Rebus.
»Beim CID ist es viel angenehmer ohne Sie. Ließe es sich einrichten, dass Sie dauerhaft wegbleiben?«
»Wohl kaum«, meinte Rebus. »Ich hab nämlich versprochen, erst dann in Rente zu gehen, wenn jemand Sie entjungfert.«
»Bis das passiert, bin sogar ich in Rente«, sagte Siobhan und kam auf die beiden Männer zu. Sie lächelte, ohne dabei besonders amüsiert zu wirken.
»Und wer hat Ihnen die Unschuld geraubt, DS Clarke?« Linford erwiderte ihr Lächeln und sah dann Rebus an. »Oder ist das ein Thema, um das Sie lieber einen großen Bogen machen?«
Er ging weg. Rebus trat näher an Siobhan heran. »Genau dasselbe sagen die Frauen über Dereks Bett«, sagte er so laut, dass Linford es hören musste.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Siobhan mit gespielter Ahnungslosigkeit.
»Dass sie darum lieber einen großen Bogen machen.«
Als Linford verschwunden war, holte sich Siobhan etwas zu trinken aus dem Automaten. »Wollen Sie nichts?«, fragte sie.
»Hab’s mir anders überlegt«, antwortete Rebus und steckte die Münzen wieder in die Tasche. »Wie geht es Ihnen?«
»Gut.«
»Wirklich?«
»Na ja, mehr oder weniger«, gab sie zu. »Und ich will nicht darüber reden.«
»War auch nicht meine Absicht.«
Sie richtete sich auf, den heißen Plastikbecher vorsichtig zwischen den Fingern haltend. »Das mag ich so an Ihnen«, sagte sie. »Haben Sie eine Minute Zeit? Ich würde gern Ihre Meinung hören.«
Sie gingen hinaus auf den Parkplatz, und Rebus steckte sich eine Zigarette an. Siobhan vergewisserte sich, dass keine anderen Raucher in der Nähe waren, die sie belauschen konnten.
»Scheint ja ungeheuer wichtig zu sein«, sagte Rebus.
»Nicht unbedingt. Ich hab mir bloß ein paar Gedanken über Ihre Freunde aus VR 2 gemacht.«
»Weshalb?«
»Allan Ward ist gestern mit Phyllida ausgegangen.«
»Und?«
»Und es ist nichts passiert.Ward war ganz Gentleman, hat sie nach Hause gefahren und wollte trotz ihres Angebots nicht mit hochkommen.« Sie überlegte. »Ist er verheiratet?« Rebus schüttelte den Kopf. »Eine feste Freundin?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Phyl sieht ziemlich gut aus, finden Sie nicht?« Rebus nickte zustimmend. »Und er hat ihr den ganzen Abend seine ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt -«
Ihr Tonfall ließ Rebus stutzig werden. »Inwiefern?«
»Er hat sich ausgiebig nach dem Fall Marber erkundigt.«
»Das ist doch nicht weiter ungewöhnlich. Steht denn in den Frauenzeitschriften nicht immer, dass die Männer den Frauen öfter zuhören sollten?«
»Keine Ahnung, ich lese solche Zeitschriften nicht.« Sie sah ihn spöttisch an. »Ich wusste gar nicht, dass Sie ein Experte auf diesem Gebiet sind.«
»Sie wissen genau, was ich meine.«
Sie nickte. »Außerdem habe ich mich daran erinnert, dass DI Gray neulich in unserem Büro herumgelungert hat, genau wie dieser McCullen oder wie er heißt.«
»McCullough«, korrigierte Rebus sie. Jazz,Ward und Gray im CID-Büro?
»Wahrscheinlich hat es gar nichts zu bedeuten«, sagte Siobhan.
»Was könnte es denn bedeuten?«, fragte er.
Sie zuckte mit den Achseln. »Vielleicht haben sie nach etwas gesucht, sich für jemanden interessiert?« Ihr fiel etwas anderes ein. »Der Fall, an dem Sie arbeiten, ist da gestern Abend was passiert?«
Er nickte. »Jemand, mit dem wir reden wollten, wurde ins Krankenhaus eingeliefert.« Ein Teil von ihm wollte ihr mehr erzählen... alles erzählen. Er wusste, dass er ihr vorbehaltlos vertrauen konnte, aber er entschied sich dagegen, weil er nicht abschätzen konnte, ob er sie dadurch irgendwie in Gefahr bringen würde.
»Ward ist nicht mit in Phyls Wohnung gegangen«, erklärte sie, »weil ihn jemand auf dem Handy angerufen und nach Tulliallan beordert hat.«
»Vielleicht hat er in dem Moment von dem Vorfall erfahren.«
Rebus erinnerte sich, dass Gray, Jazz und Ward, als er nach Mitternacht in Tulliallan angekommen war, noch in der Kneipe vor ihren ausgetrunkenen Gläsern saßen. Der Barkeeper hatte schon Feierabend gemacht.
Rebus überlegte, ob Gray und McCullough Ward herbeizitiert hatten, damit sie gemeinsam bereden konnten, wie sie auf Rebus’ Gespräch mit Jazz reagieren sollten.Vielleicht hatte Gray die Idee gehabt, mit ihm nach Glasgow zu fahren, um ihm ein bisschen auf den Zahn zu fühlen. Als Rebus in die Bar gekommen war, hatte Gray ihm von Chib Kelly erzählt und noch einmal betont, dass er ihn unbedingt mitnehmen wolle. Rebus hatte nichts dagegen gehabt. Er erinnerte sich, dass er Ward nach seinem Rendezvous mit Phyllida Hawes gefragt und dieser darauf nur mit den Achseln gezuckt und ausweichend geantwortet hatte. Es sah nicht so aus, als würde es eine Wiederholung geben.
Siobhan nickte nachdenklich. »Mir fehlt ein Teil des Puzzles, stimmt’s?«
»Und das wäre?«
»Das weiß ich erst, wenn Sie mir erzählen, was hier läuft.«
»Es läuft hier überhaupt nichts.«
Sie musterte ihn. »O doch. Es gibt da etwas, das Sie über Frauen wissen sollten, John: Wir können in euch Männern lesen wie in einem Buch.«
Er wollte gerade etwas erwidern, da klingelte sein Handy. Er sah auf das Display und hob einen Finger, um Siobhan zu bedeuten, dass er ungestört reden wolle.
»Hallo«, sagte er, während er über den Parkplatz lief. »Ich habe gehofft, dass du dich irgendwann meldest.«
»Bei der Laune, die ich hatte, kannst du froh sein, dass ich mich nicht eher gemeldet habe.«
»Dann freue ich mich umso mehr, dass du anrufst.«
»Hast du viel zu tun?«
»Ja, wie immer, Jean. Neulich in der High Street - ich hatte mich dazu breitschlagen lassen.Von den Typen aus meinem Lehrgang.«
»Reden wir nicht darüber«, sagte Jean Burchill. »Ich rufe an, weil ich mich für die Blumen bedanken möchte.«
»Hast du sie bekommen?«
»Ja. Und zwei Anrufe. Einen von Gill, einen von Siobhan Clarke.«
Rebus blieb stehen und drehte sich um, aber Siobhan war bereits im Gebäude verschwunden.
»Sie haben beide dasselbe gesagt«, fuhr Jean fort.
»Was denn?«
»Dass du ein ungehobelter Dickkopf bist, aber ein gutes Herz hast.«
»Ich hab versucht, dich zu erreichen, Jean -«
»Ich weiß.«
»Ich möchte es wieder gutmachen. Wie wär’s, wenn wir heute Abend essen gehen?«
»Wo?«
»Entscheide du.«
»Wie wär’s mit dem Number One? Falls du es schaffst, einen Tisch zu kriegen.«
»Das werde ich.« Er stockte. »Ein teures Restaurant, vermute ich?«
»John, wenn mich jemand so mies behandelt, kommt ihn das teuer zu stehen. Sei froh, dass es dieses Mal nur dein Portemonnaie trifft.«
»Halb acht?«
»Und sei bitte pünktlich.«
»Klar.«
Sie beendeten das Gespräch. Er ging zurück ins Gebäude, nahm sich ein Telefonbuch und rief in dem Restaurant an. Er hatte Glück, gerade war eine Reservierung storniert worden. Das Restaurant befand sich im Balmoral Hotel in der Princess Street. Rebus fragte lieber nicht, wie viel er ungefähr würde veranschlagen müssen. Das Number One war was Besonderes; viele Leute sparten, um einmal dort essen zu können. Die Wiedergutmachung würde ihn einiges kosten. Dennoch war er gut gelaunt, als er den Vernehmungsraum betrat.
»Da ist aber jemand aufgekratzt«, stellte Tam Barclay fest.
»Hab ich nicht eben die entzückende DS Clarke vom Parkplatz kommen sehen?«, fügte Allan Ward hinzu.
Lautes Pfeifen und Lachen. Rebus sparte sich eine Antwort. Einer im Raum war jedoch ernst geblieben: Francis Gray. Er saß am Tisch, hatte einen Stift zwischen den Zähnen und tippte rhythmisch mit den Fingern dagegen. Er sah Rebus nicht einfach nur an, sondern musterte ihn regelrecht.
John weiß genau, wo in Edinburgh die Leichen begraben sind.
Im übertragenen Sinn gemeint? Das bezweifelte Rebus …