6
Am Montagmorgen traf Rebus rechtzeitig zum
Frühstück in Tulliallan ein. Den Samstag hatte er größtenteils in
der Oxford Bar verbracht, wo er nacheinander mit unterschiedlichen
Gästen getrunken hatte. Schließlich war er nach Hause gegangen, in
seinem Sessel eingenickt und gegen Mitternacht mit höllischem Durst
und pochendem Schädel aufgewacht. Danach konnte er bis zum
Morgengrauen nicht mehr einschlafen, weshalb er dann erst gegen
Mittag wieder aufgewacht war. Nachmittags hatte ein Besuch im
Waschsalon angestanden, und abends war er wieder in der Oxford Bar
gewesen.
Also alles in allem gar kein schlechtes
Wochenende.
Wenigstens hatte er schon lange keinen Black-out
mehr gehabt. Er erinnerte sich noch genau an die Unterhaltungen in
der Oxford Bar, an die Witze, die erzählt wurden, und an die
Fernsehshows, die im Hintergrund liefen. Zu Beginn der Ermittlungen
im Fall Marber war er an einem Tiefpunkt angelangt, hatten ihn
Erinnerungen an die Vergangenheit genauso
niedergedrückt wie die Gegenwart. Er dachte an seine Ehe zurück
und an den Tag, an dem er und seine junge Frau in der Arden Street
eingezogen waren. In der ersten Nacht hatte er durchs Fenster
beobachtet, wie sich ein Betrunkener um die fünfzig auf der anderen
Straßenseite mit letzter Kraft an einen Laternenpfahl klammerte und
dann im Stehen einzuschlafen schien. Rebus hatte Sympathie für
diesen Mann empfunden, so wie für die meisten Dinge damals - frisch
verheiratet, die erste Eigentumswohnung und Rhona, die Kinder
wollte …
Und dann, ein oder zwei Wochen vor dieser Sache mit
dem Becher Tee, war Rebus selbst dieser Mann geworden, um die
fünfzig, mit glasigem Blick, der sich an denselben Laternenpfahl
klammerte und dem das Überqueren der Straße wie ein schier
unüberwindliches Hindernis erschien. Eigentlich war er bei Jean zum
Abendessen verabredet gewesen, hatte sich dann aber in der Oxford
Bar so wohl gefühlt, dass er kurz vor die Tür gegangen war, um Jean
am Telefon etwas vorzulügen. Er vermutete, dass er später zu Fuß in
die Arden Street zurückgelaufen war, konnte sich aber nicht mehr
daran erinnern. Hielt irgendwann den Laternenpfahl umklammert und
lachte bei der Erinnerung an den anderen Mann. Ein Nachbar wollte
ihm helfen, aber Rebus packte den Pfahl nur noch fester und
brüllte, er sei nutzlos, er tauge nur noch dazu, am Schreibtisch zu
sitzen und zu telefonieren.
Seitdem konnte er dem Nachbarn nicht mehr in die
Augen schauen.
Nach dem Frühstück ging er auf eine Zigarette vor
die Tür und bemerkte die Menschenmenge auf dem Trainingsplatz. Ein
Großteil des Polizeinachwuchses hatte sich dort versammelt. Die
CID-Kollegen in spe hatten die Hälfte ihres fünfwöchigen Lehrgangs
hinter sich. Zu den Aufgaben während ihrer Ausbildung gehörte es
auch, Spenden für wohltätige Zwecke zu sammeln, und einer von ihnen
hatte
für neun Uhr fünfzehn einen Fallschirmsprung auf dem
Trainingsplatz angekündigt. Ein großes X markierte die Stelle. Es
bestand aus zwei leuchtend roten Kunststoffbahnen, die mit Steinen
beschwert waren. Ein paar Polizeianwärter blinzelten in den Himmel,
die Hand schützend über den Augen.
»Vielleicht hat er sich ein paar Leute von der
Royal Air Force in Leuchars geholt?«, überlegte einer von
ihnen.
Rebus stand mit den Händen in den Taschen da. Er
hatte sich auf einer Spendenliste eingetragen und zu einer Stiftung
von fünf Pfund verpflichtet, wenn der Sprung gelang. Gerüchten
zufolge sollte angeblich ein Landrover mit dem Kennzeichen der
Streitkräfte in der Einfahrt parken. Hinter einem der Fenster des
Gebäudes, das die Stirnseite des Platzes bildete, waren zwei Männer
in hellgrauen Uniformen zu sehen.
»Sir.« Einer der Anwärter ging an Rebus vorbei und
grüßte. Das war so üblich; es gehörte zur Ausbildung. Manchmal kam
Rebus ein halbes Dutzend von ihnen auf dem Gang entgegen, und alle
sagten gleichzeitig »Sir«. Er versuchte es zu ignorieren. Eine Tür
öffnete sich, und aller Augen wandten sich dorthin. Ein junger Mann
in einem Fliegeroverall mit Fallschirmgurt um seinen Brustkorb trat
heraus. Er trug einen Stahlrohrstuhl, nickte und strahlte die Menge
an, die schweigend beobachtete, wie er auf das X zuging und den
Stuhl energisch in dessen Mitte stellte. Rebus schnaubte leise und
schüttelte den Kopf, als er begriff, was jetzt kommen würde. Der
künftige CIDler stieg auf den Stuhl, beugte sich vor und legte die
Handflächen aneinander, als wollte er einen Kopfsprung machen. Und
dann sprang er. Staub wirbelte auf, als er den Boden berührte. Er
reckte sich und breitete die Arme aus, wie um den Beifall des
Publikums entgegenzunehmen. Es gab einiges Getuschel und verwirrte
Blicke. Der Rekrut nahm den Stuhl vom Boden. Die Offiziere der
Royal Air Force lächelten hinter ihrer Fensterscheibe.
»Was war das?«, fragte jemand ungläubig.
»Das, mein Lieber, war ein Fallschirmsprung«, sagte
Rebus, dessen Bewunderung nur durch die Erkenntnis getrübt wurde,
soeben fünf Pfund verloren zu haben. Er erinnerte sich, dass er
während seines CID-Lehrgangs Spendengelder gesammelt hatte, indem
er an einem ganztägigen Staffellauf auf der Hindernisstrecke
teilnahm. Heutzutage könnte er von Glück sagen, wenn er im
Schritttempo eine einzige Runde schaffen würde.
Oben im Gruppenraum teilte er den anderen mit, der
Sprung sei erfolgreich verlaufen, erntete aber nur Stirnrunzeln und
Schulterzucken. Jazz McCullough, der zum Leiter des
Ermittlungsteams ernannt worden war, sprach gerade mit Francis
Gray. Tam Barclay und Allan Ward waren damit beschäftigt, ein
Verzeichnis der Akten anzulegen, und Stu Sutherland versuchte,
einem reizbar wirkenden DCI Tennant den Ablauf der Ermittlung zu
erläutern. Rebus setzte sich und griff nach einem Stapel
Unterlagen. Er arbeitete eine gute halbe Stunde und blickte nur hin
und wieder auf, um zu sehen, ob Gray ihm etwas signalisieren
wollte. Als eine Pause verkündet wurde, zog Rebus unauffällig ein
Blatt Papier aus der Tasche und steckte es zwischen die Unterlagen.
Mit einem Becher Tee in der Hand fragte er McCullough, ob er Lust
habe, die Aktenstapel mit ihm zu tauschen.
»Andere Perspektive, na, du weißt schon«, erklärte
er. McCullough nickte und ging auf den Vorschlag ein. Gray kam
gerade von einem kurzen Gespräch mit Tennant zurück.
»Er wirkt irgendwie nervös«, bemerkte Rebus.
»Es sind ein paar hohe Tiere im Haus«, erklärte
Gray.
»Was für hohe Tiere?«
»Chief Constables. Ein halbes Dutzend. Irgendeine
Konferenz. Ich glaube nicht, dass sie sich für uns interessieren,
aber Archie ist da nicht so sicher.«
»Vielleicht möchte er ihnen die Begegnung mit
seinen Sonderschülern ersparen?«
»Glaub ich auch«, meinte Gray mit einem
Zwinkern.
In diesem Moment rief McCullough nach Rebus und
hielt ihm das Blatt Papier hin. Rebus tat so, als würde er es
aufmerksam lesen.
»Ach Gott, das hab ich doch glatt vergessen«, sagte
er und hoffte, dass es überrascht klang. Gray blickte ihm über die
Schulter.
»Was ist denn los?«
Rebus wandte den Kopf zu ihm. »Jazz ist gerade auf
das hier gestoßen. Zwei Glasgower Kollegen waren in Edinburgh, um
einen von Ricos Kumpeln zu suchen, einen Kerl namens Dickie
Diamond.«
»Und?« Das kam von Tennant, der sich zu ihnen
gesellt hatte.
»Ich war ihr Ansprechpartner vor Ort, mehr nicht.«
Tennant überflog das Papier. »Die beiden scheinen von Ihnen nicht
sehr angetan gewesen zu sein.«
»Die wollten bloß von sich selbst ablenken«,
erklärte Rebus. »Wenn ich mich recht erinnere, haben sie die meiste
Zeit in irgendwelchen Pubs gesessen.«
Tennant sah ihn an. »Und das ist Ihnen gerade erst
wieder eingefallen?«
Rebus nickte. Tennant starrte ihn unverwandt an,
aber Rebus gab keine weitere Erklärung.
»Wer ist dieser Dickie Diamond?«, wollte McCullough
wissen.
»Ein kleiner Gauner aus Edinburgh«, antwortete
Rebus. »Ich kannte ihn kaum.«
»Vergangenheitsform?«
»Möglich, dass er sich immer noch in der Stadt
rumtreibt.«
»Hat man ihn seinerzeit verdächtigt?«, fragte
McCullough.
Gray wandte sich an die anderen im Raum. »Ist einem
von euch schon mal ein Richard Diamond untergekommen?« Achselzucken
und Kopfschütteln waren die Antwort.
Tennant wies mit einem Nicken auf die Unterlagen,
die vor McCullough lagen. »Und da steht auch nichts über ihn
drin?«
»Sieht nicht so aus.«
»Tja, aber irgendwo in den Akten muss doch etwas zu
finden sein.« Tennant sprach jetzt an alle im Raum gewandt. »Und
wenn diese Akten korrekt geordnet wären, müsste es gleich hinter
diesem Bericht zu finden sein. Da dem nicht so ist, sollten wir den
Namen auf unsere Liste setzen und die Augen offen halten.«
Von einigen war ein gemurmeltes »Ja, Sir« zu hören.
Francis Gray fügte den Namen der Liste auf der Tafel hinzu.
»Meinst du, deine Kumpels von Lothian and Borders
könnten uns vielleicht was über diesen Typen erzählen?«, fragte
Allan Ward, der nach einer Möglichkeit suchte, das Procedere
abzukürzen.
»Fragen kostet nichts«, meinte Rebus. »Warum hängst
du dich nicht gleich mal ans Telefon?«
Ward runzelte die Stirn. »Das ist deine Truppe«,
erklärte er.
»Und die von Stu«, erinnerte ihn Rebus. Ward sah zu
Sutherland hinüber. »Außerdem sollen wir hier doch auch die
Vorteile der so genannten überregionalen Zusammenarbeit lernen.«
Das war eine von Tennants Formulierungen, weshalb der DCI jetzt
auch zustimmend grunzte.
Ward wirkte nicht gerade begeistert. »Schon gut«,
knurrte er. »Gib mir die Nummer.«
Rebus sah Sutherland an. Ȇbernimmst du das
Vorstellungszeremoniell, Stu?«
»Mit Vergnügen.«
Es klopfte.Tennant erstarrte. Als die Tür sich
jedoch einen Spaltbreit öffnete, stand dort nicht, wie befürchtet,
eine Horde Chief Constables, sondern Andrea Thomson.Tennant winkte
sie herein.
»Es geht darum, dass ich eigentlich heute
Nachmittag
einen Termin mit DI Rebus hatte«, sagte sie, »aber mir ist etwas
dazwischengekommen.«
Klasse!, dachte Rebus.
»Deshalb wollte ich fragen, ob Sie ihn stattdessen
vielleicht jetzt sofort entbehren könnten.«
Auf dem Weg durch den Flur war sie ungewöhnlich
einsilbig. Vor ihrer Bürotür zögerte sie kurz.
»Gehen Sie schon mal rein«, sagte sie dann. »Ich
komme gleich.«
Rebus suchte ihren Blick, aber sie wich ihm aus. Er
legte die Hand auf die Klinke, während sie sich zum Gehen wandte.
Rebus sah ihr nach, und als er die Tür öffnete, nahm er aus dem
Augenwinkel eine Bewegung wahr. Auf Andrea Thomsons Stuhl saß die
Person, die er hatte treffen wollen. Rebus trat ein und schloss
rasch die Tür.
»Sehr schlau«, sagte er anerkennend. »Wie viel weiß
sie?«
»Andrea wird den Mund halten«, sagte der Mann. Dann
streckte er Rebus die Hand zur Begrüßung entgegen. »Wie ist es
Ihnen ergangen, John?«
»Gut, Sir«, sagte er und nahm gegenüber dem Chief
Constable Sir David Strathern, seinem Polizeipräsidenten,
Platz.
»Also dann«, begann Strathern und lehnte sich
zurück, »was gibt es für Probleme, John?«
Ihr erstes Treffen lag etwas mehr als zwei Wochen
zurück. Rebus hatte in St. Leonard’s an seinem Schreibtisch
gesessen, als er einen Anruf aus dem Big House erhielt - man bat
ihn, hinüber ins Restaurant »Blonde« zu gehen.
»Wozu?«, hatte er gefragt.
»Das werden Sie schon sehen.«
Aber als Rebus die Straße überqueren wollte, hörte
er jemanden hupen. Der Wagen parkte an der Ecke St. Leonard’s und
Rankeillor Street, und eine Hand winkte durch das Fahrerfenster. Er
erkannte den Mann hinter dem Steuer
auch ohne seine übliche Uniform sofort. Es war Sir David
Strathern. Die beiden waren sich bisher nur bei offiziellen
Anlässen begegnet, und auch das eher selten. Rebus war kein großer
Freund von Wohltätigkeitsdinners und Promi-Boxabenden. Und ihm war
auch noch nie eine Auszeichnung für Tapferkeit oder vorbildliches
Betragen verliehen worden. Aber egal, Sir David schien ihn
jedenfalls zu kennen.
Das Auto, ein schwarzer, glänzender Rover, war mit
ziemlicher Sicherheit kein Dienstwagen, sondern der Privatwagen des
Chief Constable. Vor dem Beifahrersitz lag ein Fensterleder auf dem
Boden, auf dem Rücksitz ein Stapel Zeitschriften und eine
Einkaufstasche. Rebus stieg ein, und der Wagen fuhr los.
»Entschuldigen Sie die kleine List«, sagte
Strathern mit einem Lächeln, das die Falten um seine Augen tiefer
erscheinen ließ. Er war ungefähr Ende fünfzig, nicht sehr viel
älter als Rebus. Aber er war der Boss, der Präsident, der
Häuptling. Und Rebus wusste immer noch nicht, was zum Teufel er von
ihm wollte. Strathern hatte eine bequeme graue Freizeithose und
einen dunklen Pullover mit rundem Halsausschnitt an, trug diese
Kleidung jedoch wie eine Uniform. Sein silbergraues Haar war über
den Ohren sorgfältig gestutzt, und die große kahle Stelle sah man
erst, als er an der nächsten Kreuzung den Kopf drehte, um nach
rechts und links zu schauen.
»Dann laden Sie mich also nicht zum Mittagessen
ein?«, sagte Rebus.
Das Lächeln wurde breiter. »Zu nahe bei St
Leonard’s. Ich möchte vermeiden, dass uns jemand zusammen
sieht.«
»Ich bin Ihnen wohl nicht gut genug, Sir?«
Strathern warf Rebus einen Blick von der Seite zu.
»Nicht schlecht, diese Nummer«, bemerkte er, »aber Sie feilen ja
auch schon seit Jahren dran, stimmt’s?«
»Von was für einer Nummer reden Sie, Sir?«
»Lockere Sprüche, unterschwellige Aufsässigkeit.
Ihre Art, auf eine unbekannte Situation zu reagieren, bis Sie
wissen, was Sache ist.«
»Wenn Sie meinen, Sir.«
»Keine Sorge, John. Für das, worum ich Sie bitten
will, ist Aufsässigkeit eine Grundvoraussetzung.«
Womit er Rebus noch mehr verblüffte.
Sie fuhren zu einem Pub am südlichen Stadtrand, der
dicht beim Krematorium lag. Da er viel für Trauerfeiern benutzt
wurde, hatte er um diese Zeit eher wenig Kundschaft. Die beiden
setzten sich in eine ruhige Ecke. Strathern bestellte Sandwiches
und zwei kleine Gläser IPA und begann dann eine Unterhaltung, so
als wären sie zwei Kollegen, die gemeinsam Mittagspause
machten.
»Trinken Sie gar nichts?«, fragte Strathern
irgendwann, als er das noch unberührte Glas von Rebus
bemerkte.
»Ich rühr das Zeug kaum an«, sagte Rebus.
»Das entspricht aber gar nicht Ihrem Ruf«, wunderte
sich Strathern.
»Vielleicht hat man Sie falsch informiert,
Sir.«
»Das glaube ich nicht. Meine Informanten sind in
der Regel äußerst zuverlässig.«
Darauf konnte man nicht viel sagen, obwohl Rebus
gern gewusst hätte, mit wem der Chief wohl gesprochen hatte.
Vielleicht mit seinem Stellvertreter, Assistant Chief Constable
Colin Carswell, der Rebus nicht ausstehen konnte; oder mit
Carswells Schützling, DI Derek Linford? Beide würden Rebus’
Charakter sicher nur in den düstersten Farben schildern.
»Mit Verlaub, Sir«, sagte Rebus und lehnte sich
zurück, Sandwich und Bier immer noch unberührt vor sich, »aber wenn
Sie nichts dagegen haben, können wir das Vorspiel gern
weglassen.«
Er beobachtete, wie sein Chef sich bemühte, den in
ihm aufsteigenden Ärger hinunterzuschlucken.
»John«, begann Strathern schließlich, »ich bin zu
Ihnen gekommen, weil ich Sie um einen Gefallen bitten
möchte.«
»Der ein gewisses Maß an Aufsässigkeit
erfordert.«
Der Chief Constable nickte. »Ich möchte, dass Sie
es bewerkstelligen, von Ihren momentanen Ermittlungen
ausgeschlossen zu werden.«
»Den Ermittlungen im Fall Marber?« Rebus’ Augen
verengten sich.
»Der Fall hat nichts damit zu tun«, erklärte
Strathern, der Rebus’ Argwohn spürte.
»Aber Sie wollen, dass ich ausgeschlossen
werde?«
»Ja.«
»Warum?« Ohne nachzudenken setzte Rebus das Glas
mit dem schaumlosen Bier an die Lippen.
»Weil ich Sie anderswo brauche. In Tulliallan, um
genau zu sein. Dort beginnt in Kürze ein Bewährungslehrgang.«
»Und ich werde zum Lehrgang müssen, weil ich von
den Ermittlungen ausgeschlossen worden bin?«
»DCS Templer wird das vermutlich verlangen.«
»Sie weiß also Bescheid?«
»Sie wird zustimmen, wenn ich ihr davon
erzähle.«
»Wer weiß noch Bescheid?«
»Niemand. Warum fragen Sie?«
»Weil ich vermute, dass Sie mich bitten wollen,
verdeckt zu ermitteln. Ich weiß bisher nicht, warum, und auch noch
nicht, ob ich es machen werde, aber das ist jedenfalls mein
Eindruck.«
»Und?«
»Und es gibt ein paar Leute in der Fettes Avenue,
die mich nicht leiden können. Der Gedanke, dass die -«
Strathern schüttelte den Kopf. »Niemand würde
eingeweiht außer Ihnen und mir.«
»Und DCS Templer.«
»Sie wird nur so viel erfahren, wie unbedingt
nötig.«
»Was zu der entscheidenden Frage führt, Sir
-«
»Nämlich?«
»Nämlich«, fuhr Rebus fort und stand auf, das leere
Glas in der Hand, »worum es überhaupt geht.« Er hob das Glas. »Ich
würde Sie gern zu einem zweiten einladen, Sir, aber Sie müssen ja
noch fahren.«
»Und Sie haben behauptet, Sie rühren das Zeug kaum
an.«
»Da hab ich wohl gelogen«, meinte Rebus mit dem
Anflug eines Lächelns. »So jemand suchen Sie doch, oder? Jemand,
der gut lügen kann.«
Die Version der Geschichte, die Strathern ihm
erzählte, lautete wie folgt: Es gab einmal einen Drogendealer an
der Westküste namens Bernard Johns.
»Bernie Johns, wie die meisten ihn nennen. Oder
vielmehr nannten, bis zu seinem vorzeitigen Tod.« Während er
sprach, spielte der Chief Constable mit seinem fast leeren Glas.
»Er starb im Gefängnis.«
»Und beteuerte bis zum Schluss seine Unschuld,
stimmt’s?«
»Nein, nicht ganz. Aber er behauptete steif und
fest, man hätte ihn übers Ohr gehauen. Uns hat er das natürlich
nicht erzählt.Wäre auch kaum in seinem Interesse gewesen, oder?
›Man hat mich für acht Kilo eingelocht, aber in Wahrheit hatte ich
noch viel mehr gebunkert.‹«
»Stimmt, das wäre taktisch unklug gewesen.«
»Trotzdem ging das Gerücht, ihm sei ziemlich viel
abhanden gekommen. Drogen oder Geld - das variierte, je nachdem,
mit wem man sprach.«
»Und?«
»Sie erinnern sich vielleicht, dass gegen Johns ein
Großeinsatz lief, vom Winter 94 bis zum Frühjahr 95. Drei
Einheiten, Dutzende von Beamten, ein logistischer Albtraum.«
Rebus nickte. »Aber Lothian and Borders war nicht
daran beteiligt.«
»Stimmt, das waren wir nicht.« Er machte eine
Pause. »Damals jedenfalls.«
»Und was hat sich seitdem geändert?«
»Folgendes ist passiert, John: Drei Namen sind
immer wieder aufgetaucht.« Der Chief Constable beugte sich vor und
senkte die Stimme. »Vielleicht kennen Sie den einen oder anderen
der Herren.«
»Schießen Sie los.«
»DI Francis Gray. Arbeitet in Govan. Kennt das
Viertel wie seine Westentasche; in dieser Hinsicht ist er
unbezahlbar. Aber er hat Dreck am Stecken, und jeder weiß
das.«
Rebus nickte. Er hatte von Gray gehört, kannte
seinen Ruf: nicht viel anders als sein eigener. Er fragte sich, wie
viel davon Bluff war. »Wer noch?«, fragte er.
»Ein junger Detective Constable namens Allan Ward
aus Dumfries. Sehr gelehrig.«
»Nie von ihm gehört.«
»Der Dritte ist James McCullough, ein DI aus
Dundee. Scheint, nach allem, was wir wissen, im Großen und Ganzen
sauber zu sein, allerdings brennt bei ihm ab und zu eine Sicherung
durch. Die drei haben gemeinsam an dem Fall gearbeitet, John. Haben
sich dabei kennen gelernt.«
»Und Sie glauben, die drei haben Bernie Johns
ausgenommen?«
»Wir halten das für sehr wahrscheinlich.«
»Wer ist wir?«
»Meine Kollegen.« Womit Strathern die anderen
schottischen Chief Constables meinte. »So eine Geschichte macht
keinen guten Eindruck. Selbst wenn es nur ein Gerücht ist. So was
bringt die gesamte Führungsebene in Verruf.«
»Und welche Rolle spielen Sie bei dem Ganzen, Sir?«
Rebus hatte sein zweites, selbst bezahltes Glas mittlerweile zur
Hälfte geleert. Das Bier schien seine Eingeweide nach unten zu
ziehen, als hätten sich alle Flüssigkeiten in seinem Körper
plötzlich verfestigt. Er dachte an den Fall Marber, die elenden
Routinetelefonate. Daran, wie seine Hände den kalten Laternenpfahl
umklammert hatten.
»Drei Bezirke sind in die Angelegenheit
verwickelt... einen Kollegen aus einem dieser Bezirke auf die Sache
ansetzen, kam nicht in Frage.«
Rebus nickte:Womöglich würden die drei Betroffenen
davon Wind bekommen. Also hatte man Strathern gefragt, ob er
jemanden wüsste.
Und offenbar war ihm Rebus eingefallen.
»Diese drei«, fragte Rebus, »werden also in
Tulliallan sein?«
»Ja, zufällig sind alle drei im gleichen Lehrgang.«
Sein Tonfall verriet Rebus jedoch, dass es alles andere als ein
Zufall war.
»Und Sie möchten, dass ich auch mit von der Partie
bin?« Rebus sah, wie Strathern nickte. »Um was genau zu tun?«
»Um so viel wie möglich herauszufinden... um das
Vertrauen der drei zu gewinnen.«
»Und Sie glauben, sie werden ausgerechnet einem
völlig Fremden etwas erzählen?«
»Sie werden kein Fremder für sie sein, John. Ihnen
eilt ein gewisser Ruf voraus.«
»Heißt das, ich bin auch ein korrupter
Bulle?«
»Das heißt, Ihnen eilt ein gewisser Ruf voraus«,
wiederholte Strathern.
Rebus dachte einen Moment lang nach. »Sie und Ihre
… ›Kollegen‹… haben Sie überhaupt irgendwelche Beweise in der
Hand?«
Strathern schüttelte den Kopf. »Die wenigen
Nachforschungen, die wir anstellen konnten, haben keine Hinweise
auf Geld oder Drogen erbracht.«
»Sie verlangen wirklich nicht viel von mir,
Sir.«
»Ich bin mir durchaus bewusst, dass dieser Auftrag
eine harte Nuss ist, John.«
»An der ich mir voraussichtlich die Zähne ausbeißen
werde.« Rebus kaute an seiner Unterlippe. »Nennen Sie mir nur einen
Grund, warum ich das tun sollte.«
»Weil Sie die Herausforderung reizt. Außerdem hoffe
ich,
dass Sie korrupte Beamte genauso wenig leiden können wie
wir.«
Rebus sah ihn an. »Sir, es gibt eine Menge Leute,
die mich für einen korrupten Beamten halten.« Er dachte an
Francis Gray, war neugierig auf diesen Mann.
»Aber wir beide wissen doch, dass Sie sich irren,
stimmt’s, John?«, sagte der Chief Constable und stand auf, um Rebus
noch ein Bier zu holen.
Tulliallan, das bedeutete: keine weiteren
Ermittlungen im Fall Marber... Urlaub von den Blackouts... und die
Gelegenheit, jenen Mann kennen zu lernen, den jemand einmal den
»Glasgower Rebus« genannt hatte. Der Chief Constable beobachtete
ihn von der Theke aus. Rebus wusste, dass Strathern in nicht allzu
ferner Zukunft in Pension gehen würde. Vielleicht war er immer noch
ehrgeizig, wollte nichts Unerledigtes zurücklassen.
Vielleicht würde Rebus es trotz allem tun.
Jetzt, in Andrea Thomsons Zimmer, saß Strathern
mit gefalteten Händen da. »Was war denn so dringend?«, fragte
er.
»Ich hab noch nicht viel erreicht, falls das Ihre
Hoffnung war. Gray, McCullough und Ward benehmen sich, als würden
sie sich kaum kennen.«
»Sie kennen sich ja auch kaum. Sie haben nur bei
diesem einen Fall zusammengearbeitet.«
»Sie benehmen sich nicht, als hätten sie ein
Vermögen in der Hinterhand.«
»Was hatten Sie denn erwartet? Dass sie einen
Bentley fahren?«
»Sind ihre Konten überprüft worden?«
Der Chief Constable nickte. »Auf ihren Konten ist
nichts.«
»Vielleicht auf den Namen der Ehefrauen?«
»Auch nicht.«
»Wie lange wird schon gegen sie ermittelt?«
Strathern sah ihn an. »Ist das für Sie irgendwie
von Bedeutung?«
Rebus zuckte mit den Achseln. »Ich hab mich nur
gefragt, ob ich vielleicht Ihr letzter Strohhalm bin.«
»Uns läuft die Zeit davon«, räumte Strathern
schließlich ein. »Gray wird nächstes Jahr pensioniert; McCullough
ist auch bald dran. Und Allan Wards Strafregister -«
»Glauben Sie, er legt es auf einen Rausschmiss
an?«
»Gut möglich.« Der Chief Constable sah auf die Uhr
und schob das Metallgehäuse auf seinem Handgelenk hin und her. »Ich
muss wieder zurück.«
»Eine Sache noch, Sir.«
»Na endlich.« Strathern atmete tief durch. »Ich
höre.«
»Man hat uns einen alten Fall vorgelegt.«
»Den Sie als Team lösen sollen, richtig? Klingt,
als wäre Archie Tennant Ihr Dozent.«
»Stimmt. Das Problem ist nur -« Rebus unterbrach
sich und überlegte, wie viel er seinem Chef erzählen sollte. »Na
ja, Gray und ich, wir hatten beide mit dem Fall zu tun.«
Stratherns Interesse war geweckt.
»Gray war an den Ermittlungen vor Ort beteiligt und
ich unser Ansprechpartner für zwei Idioten aus Glasgow, die nach
Edinburgh gekommen sind, um jemanden zu suchen. Das war 95, in dem
Jahr, in dem auch Bernie Johns...«
Strathern sah ihn nachdenklich an. »Das muss ein
Zufall sein«, sagte er. »Reiner Zufall.«
»Tennant weiß also nichts über -«
Strathern schüttelte den Kopf.
»Und hat auch keine Anweisung bekommen, diesen
speziellen Fall aufzurollen?«
Erneutes Kopfschütteln. »Wollten Sie mich deshalb
sprechen?«
»Gray könnte auf den Gedanken kommen, dass es nicht
bloß Zufall ist.«
»Stimmt, das ist etwas unglücklich. Andererseits,
wenn
Sie Ihre Karten richtig ausspielen, könnten Sie ihm dadurch näher
kommen. Immerhin haben Sie jetzt etwas gemeinsam. Verstehen Sie,
was ich meine?«
»Ja, Sir.Wäre es vielleicht möglich, dass jemand
ihn fragt?«
»Wen was fragt?«
»DCI Tennant fragt, warum er ausgerechnet diesen
Fall ausgesucht hat.«
Strathern machte wieder ein nachdenkliches Gesicht
und schürzte die Lippen. »Ich werde sehen, was ich tun kann.
Zufrieden?«
»Natürlich, Sir«, antwortete Rebus, aber er war
nicht sicher, ob er selbst seinen Worten glaubte.
Strathern wirkte zufrieden und stand auf. Die
beiden Männer erreichten gleichzeitig die Tür. »Nach Ihnen«, sagte
der Chief Constable. Er klopfte Rebus auf die Schulter. »Templer
ist stinksauer auf Sie, wissen Sie das?«
»Weil der Fall Marber ohne mein profundes Wissen
nicht gelöst werden kann?«
Strathern lächelte über den Scherz. »Weil Sie den
Becher mit solcher Wucht geworfen haben. Das nimmt sie
persönlich.«
»Gehörte eben zu meiner Nummer, Sir«, sagte Rebus
und öffnete die Tür.
Er ging über den Flur zurück, überlegte es sich
aber plötzlich anders und schlenderte stattdessen nach unten in die
Lounge. Er brauchte jetzt eine Zigarette, hatte aber keine dabei.
Ein Blick vor die Tür bestätigte ihm, dass sich dort zur Zeit kein
einziger Nikotinjunkie herumtrieb. Es lag noch eine Schachtel auf
seinem Zimmer, er musste sich bloß aufraffen, sie zu holen. Er
konnte aber auch genauso gut ein bisschen hier herumlungern und auf
einen barmherzigen Samariter hoffen.
Das Gespräch mit Strathern hatte ihn nicht
beruhigt. Er wollte sicher sein, dass der Fall Rico Lomax wirklich
nur zufällig ausgewählt worden war. Und er wurde den Verdacht
nicht los, dass an der ganzen Sache weniger dran war, als es auf
den ersten Blick schien.
Kein Geheimplan besorgter Chief Constables.
Kein Drogengeld.
Keine Verschwörung zwischen Gray, McCullough und
Ward.
Nur der Fall Rico Lomax … und seine eigene
Verwicklung darin. Denn John Rebus wusste mehr über Rico Lomax, als
er zugegeben hatte.
Sehr viel mehr.
Ob Strathern das wusste? Ob Gray für
Strathern arbeitete?
Rebus rannte immer zwei Stufen auf einmal nehmend
die Treppe hinauf und lief schwer atmend den Flur entlang. Ohne
anzuklopfen stieß er die Tür auf, aber Andrea Thomsons Zimmer war
leer. Der Chief Constable war nicht mehr da.
Strathern wollte vermutlich zurück zum
Hauptgebäude, ins Herrenhaus. Rebus kannte den Weg. Beeilte sich,
ignorierte die jungen Uniformierten und ihr zackiges »Sir«.
Strathern war vor einem der Schaukästen stehen geblieben, die den
Hauptflur säumten, dessen Fenster auf den jetzt menschenleeren
Übungsplatz hinausgingen. Kein Stuhl und kein Fallschirm mehr; kein
X auf dem Boden.
»Einen Moment noch bitte, Sir«, sagte Rebus
leise.
Strathern hob die Augenbrauen. Er stieß die
nächstbeste Tür auf. Sie führte in einen Konferenzraum, in dem
lediglich ein paar Reihen von Stühlen mit Schreibpult
standen.
»Wollen Sie Ihre Tarnung auffliegen lassen?«,
zischte Strathern.
»Ich brauche mehr Informationen«, erklärte Rebus.
»Über jeden der drei.«
»Ich dachte, das hätten wir alles schon besprochen.
Je mehr Sie wissen, desto eher werden die drei Verdacht
schöpfen.«
»Wann haben sie das Geld geklaut? Woher wussten sie
davon?
Wie kam es, dass sie bei den Ermittlungen zusammengearbeitet
haben?«
»John, nichts davon ist in den offiziellen
Berichten dokumentiert.«
»Aber es muss doch Aufzeichnungen geben.
Irgendetwas muss es doch geben.«
Strathern blickte sich nervös um, als fürchtete er,
belauscht zu werden. Eines wusste Rebus genau: Wenn die ganze
Geschichte mit Bernie Johns nur ein Vorwand war, dann würde es
keine Aufzeichnungen, keine Hintergrundinformationen geben.
»In Ordnung.« Strathern flüsterte beinahe. »Ich
schicke Ihnen alles, was ich besorgen kann.«
»Bis heute Abend«, fügte Rebus hinzu.
»John, das dürfte nicht -«
»Ich brauche es heute Abend, Sir.«
Strathern zuckte fast zusammen. »Spätestens
morgen.«
Die beiden Männer sahen sich lange in die Augen.
Schließlich nickte Rebus. Er fragte sich, ob er Strathern damit
genügend Zeit ließ, sich einen Fantasiefall auszudenken. Wohl
kaum.
Morgen würde er endlich Klarheit haben.
»Wenn möglich, noch heute Abend«, sagte er, während
er zur Tür ging. Diesmal begab er sich geradewegs auf sein Zimmer,
um sich endlich die Zigaretten zu holen.