14. Kapitel

»Brauchen Sie irgendwas aus dem Supermarkt? « Phil stand schnüffelnd in der Küchentür. »Das riecht aber gut. Was kochen Sie denn da? «

»Gulasch.« Tania blickt lächelnd über die Schulter zurück. »Ich habe Ihnen eine Portion für das Abendessen reserviert.«

»Großartig.« Er trat näher an den Herd heran. »Aber hätten Sie vielleicht jetzt schon einen kleinen Happen für mich? «

Trotz seines Alters war er ein Junge geblieben, dachte Tania nachsichtig, als sie den Schöpflöffel in den Topf tauchte und an ihn weiterreichte. Er probierte das Gulasch, schloss die Augen und stieß einen genießerischen Seufzer aus. »Köstlich.«

»Ein altes Familienrezept. Meine Großmutter hat es mir gezeigt.« Sie drehte die Hitzezufuhr der Platte herab. »Es ist noch besser, wenn es erst ein paar Stunden gezogen hat.«

»Unmöglich.« Phil sah aus dem Fenster. »Es schneit ganz schön. In ein paar Stunden sind die Straßen bestimmt dicht. Ich dachte, Sie brauchten vielleicht Milch oder Brot oder so.«

»Milch. Ich habe den letzten Rest beim Frühstück verbraucht.«

Sie sah ebenfalls auf die Straße hinaus. »Aber deshalb brauchen Sie nicht extra loszufahren. Draußen ist es bestimmt spiegelglatt.«

»Ich muss sowieso los. Ich muss das Auto in die Werkstatt bringen. Irgendetwas stimmt nicht daran.«

»Was? «

»Keine Ahnung. Vorgestern war noch alles in Ordnung, aber gestern abend fing der Motor plötzlich zu stottern an.«

Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war das Benzin, das ich getankt habe, nicht ganz sauber.« Er wandte sich zum Gehen.

»In ein paar Stunden bin ich wieder da. Kommen Sie mit zur Tür, und stellen Sie die Alarmanlage an, wenn ich draußen bin.

Was nützt einem ein Alarmsystem, wenn man es nicht anstellt?

Eben bin ich einfach so hier hereinspaziert.«

»Ich stelle es immer an. Joel muss es vergessen haben, als er heute morgen zur Arbeit gefahren ist.« Sie folgte ihm in den Flur und drückte den Knopf der Alarmanlage, nachdem er vor die Tür getreten war. Inzwischen schneite es so stark, dass man kaum noch die Hand vor Augen sah. »Widerlich. Müssen Sie wirklich los? «

»Ohne mein Auto bin ich nur ein halber Mensch.« Er grinste.

»Außerdem bin ich es gewohnt, bei solchem Wetter zu fahren.«

Er winkte, während er vorsichtig die vereisten Stufen hinunterging. »Und ich denke an die Milch.«

Als er hinter dem dichten Schneeschleier verschwunden war, schloss sie die Tür und machte kehrt, um in die Küche zurückzugehen. Nach ein paar Metern blieb sie stirnrunzelnd stehen. Auf dem Eichenparkett war eine deutliche Wasserlache zu sehen. Normalerweise putzte Phil seine Schuhe immer ab, aber offenbar hatte ihn die entsicherte Alarmanlage tatsächlich aus dem Konzept gebracht. Sie musste sofort ein Handtuch holen und das Wasser aufwischen, ehe es auf dem hübschen Holzboden einen Fleck hinterließ.

Sie spürte nicht, dass er in der Nähe war, dachte Maritz enttäuscht.

Er beobachtete, wie sie sich bückte und das Wasser aufwischte, das von seinen Schuhen getropft war, als er hinter dem jungen Mann ins Haus geschlichen war. Er hätte es selbst aufgewischt, aber er hatte nicht gewusst, wieviel Zeit ihm bliebe, ehe der Kerl erneut das Haus verließ. Also hatte er einfach die nassen Schuhe ausgezogen, war die Treppe hinaufgerannt und hatte sich hinter dem Geländer versteckt.

Ich bin ganz in deiner Nähe, hübsche Tania. Du brauchst nur den Kopf zu heben, um mich zu sehen.

Aber sie hielt den Kopf gesenkt, wischte den Boden zu Ende und kehrte in die Küche zurück.

Was an und für sich kein Grund zur Enttäuschung war, denn diese Blindheit hatte er bereits des öfteren erlebt. Die Wachsamkeit der Menschen ließ nach, wenn sie sich an einem Ort befanden, der ihrer Meinung nach sicher war.

Aber er hätte gedacht, dass es bei ihr anders war.

Vielleicht war es allerdings besser so. Die Überraschung wäre größer und die Furcht intensiver, wenn er mit einem Mal vor ihr stand.

Wo sollte er sie nehmen?

Er hörte ihr Summen, das aus der Küche drang. Sie schien glücklich zu sein.

Die Küche, Grundstein des Familienlebens, Mittelpunkt des Heims.

Warum nicht?

Langsam ging er die Treppe hinab.

Phil drehte das Lenkrad in die Richtung, in die der Wagen glitt und rutschte ohne Probleme auf die Straße hinaus. Er genoss das Gefühl von Kontrolle, das ihm das Lenken eines Fahrzeugs verlieh. Es war fast wie eine Surftour durch das Internet, während der man in Computerprogramme einstieg und sie wieder verließ, während der man in Texte eintauchte und diverse Seiten überflog, bis man etwas fand, was für einen von Interesse war.

Ach, hätte er doch soviel Ahnung von Autos wie von Computern, dachte er betrübt. Für die Reparatur des Wagens würde er sicher ein Vermögen los.

Aber vielleicht auch nicht. Er hatte in der Acme-Werkstatt einen

Ölwechsel durchführen lassen, und die Jungs dort schienen durchaus in Ordnung zu sein. Während des Ölwechsels war er dort geblieben und hatte ein nettes Gespräch mit Irving Jessup, dem Besitzer geführt, und er...

Acme-Autoreparatur.

Das Schild auf der hohen Säule war nicht zu übersehen.

Vorsichtig bog er in den Hof der Tankstelle ein und stellte den Motor ab.

Trotz des widrigen Wetters hatte sich noch ein anderer Autofahrer mit seinem Gefährt hierher gewagt. Wahrscheinlich müsste er ein wenig warten. Aber das war egal. Viel Kundschaft war immer ein Zeichen dafür, dass ein Unternehmen lief. Kein Problem.

Er hatte jede Menge Zeit.

Tania beschloss, dass es dem Gulasch noch an Pfeffer mangelte.

Sie legte den Löffel zur Seite und griff nach der gläsernen Pfeffermühle auf dem Tisch. Phil hatte gesagt, dass das Essen köstlich war, aber er hatte auch nicht das Gulasch ihrer Großmutter probiert. Es stimmte sie immer froh, wenn sie eine Mahlzeit nach einem alten Familienrezept bereitete, denn die Essensdüfte brachten von jenen letzten Jahren ungetrübte Erinnerungen zu ihr zurück. An ihre Großmutter, wie sie am Tisch saß, Kartoffeln schälte und Geschichten aus der alten Zeit erzählte, in der sie noch über Land gefahren war, an ihre Mutter, die mit ihrem Vater von der Arbeit nach Hause kam, lachend und erzählend, wie...

»Hallo, Tania. Es ist soweit.«

Sie wirbelte herum.

In der Küchentür stand ein Mann, ein Messer in der Hand. Er lächelte.

Ihr Herz machte einen Satz, und dann erstarrte sie.

Er. Er musste es sein.

Er nickte, als hätte sie ihre Gedanken laut formuliert. »Du wusstest, dass ich kommen würde. Du hast auf mich gewartet, nicht wahr? «

»Nein«, flüsterte sie. Er sah so gewöhnlich aus, wie ein ganz normaler Mann. Braunes Haar, braune Augen, mittelgroß. Er hätte der Angestellte des Supermarkts sein können oder der Versicherungsvertreter, der letzte Woche da gewesen war. Dies war nicht die gesichtslose Bedrohung, von der sie seit Wochen verfolgt worden war.

Aber er hielt das Messer in der Hand.

»Das wollen Sie nicht tun.« Sie befeuchtete ihre trockenen Lippen. »Sie kennen mich doch gar nicht. Bis jetzt ist nichts passiert. Sie können immer noch gehen.«

»Natürlich kenne ich dich. Niemand kennt dich besser als ich.«

Er trat einen Schritt näher an sie heran. »Und ich will es tun. Ich will es schon lange tun.«

»Warum? «

»Weil du etwas Besonderes bist. Das weiß ich, seit ich dir zum ersten Mal nachgegangen bin.«

Die Tür?

Nein, er blockierte ihr den Weg, während er näher kam.

Sie musste dafür sorge n, dass er weitersprach, während sie überlegte, wie sie ihm am besten entkam.

»Warum sind Sie mir gefolgt? «

»Wegen der Calder. Ich hatte gehofft, sie käme vielleicht hierher zurück oder riefe wenigstens an.« Er trat noch einen Schritt auf sie zu. »Aber dann wurde mir klar, dass du etwas Besonderes bist, und seither macht mir die Sache richtig Spaß.«

»Ich weiß nicht, wo Nell ist.«

»Ich dachte mir, dass du das sagst. Aber ich werde herausfinden, ob du es tatsächlich nicht weißt oder ob du nur so tust.« Er lächelte. »In der Tat hoffe ich, dass du es mir noch lange Zeit nicht sagen wirst. Es wird mir leid tun, wenn ich den Spaß beenden muss.«

Die Schublade mit den Schlachtermessern?

Bis sie sie erreicht und aufgezogen hätte, stünde er längst neben ihr.

»Wer sind Sie? «

»Oh, ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen. Ich fühle mich dir so nahe, Tania, dass es mir vorkommt, als wären wir schon eine Ewigkeit miteinander bekannt. Ich bin Paul Maritz.«

O Gott. Nells Monster war zu ihrem Monster geworden, und es kam mit jeder Minute näher an sie heran. Was sollte sie nur tun?

»Ich habe gelogen. Ich weiß, wo sie ist, aber Sie werden es nie erfahren, wenn Sie mich umbringen.«

»Wie gesagt, je länger es dauert, um so lieber ist es mir.«

Er war kaum noch zwei Meter von ihr entfernt. »Aber wir können darüber reden, wenn ich...«

Sie zerbrach die gläserne Pfeffermühle an der Ecke des Tischs, schleuderte ihm den Pfeffer in die Augen und die spitzen Scherben direkt hinterher.

Er fluchte und fuchtelte blind mit dem Messer in der Luft herum.

Sie griff nach dem Gulaschtopf und kippte ihm den Inhalt ins Gesicht.

Er schrie und tastete an seinen verbrannten Wangen herum.

Sie rannte an ihm vorbei durch die Tür in den Flur. Fluchend stürzte er hinter ihr her.

Sie erreichte die Haustür und fummelte am Schloss herum.

Seine Hand fiel auf ihre Schulter und zog sie von der Tür zurück.

Sie stolperte rückwärts gegen die Wand und klammerte sich am Flurtisch fest, ehe sie fiel.

»Blöde Kuh.« Tränen rannen über sein rotes, verquollenes Gesicht. »Bildest du dir etwa ein, ich würde dich...«

Sie schleuderte eine Messingvase in seine Richtung und rannte zur Tür.

Sie drückte die Klinke herunter, schlug auf den Alarmknopf an der Wand und stürzte hinaus.

Sie rutschte aus und stolperte die Treppe hinab.

An das Eis auf den Stufen hatte sie nicht gedacht.

Er kam die Treppe herunter, langsam und vorsichtig, um nicht denselben Fehler zu begehen.

Die Alarmsirene heulte, und sie rappelte sich verzweifelt auf.

Irgendjemand würde sie sicher hören. Irgendjemand käme ihr zu Hilfe geeilt. Ein stechender Schmerz zuckte durch ihren linken Knöchel, als sie über den Rasen in Richtung der Straße humpelte.

»Wohin gehst du, Tania? « rief er hinter ihr. »Zu den Nachbarn?

Mit deinem Knöchel kommst du nicht so weit, und bei dem Schneesturm wird dich niemand sehen. Die Wachgesellschaft?

Sie sind niemals rechtzeitig hier.«

Sie humpelte weiter, als hätte sie nichts gehört.

»Ich bin direkt hinter dir.«

Halt's Maul, du Schwein.

»Gib auf. Du kannst sowieso nichts mehr tun.«

Sie hörte seinen schweren Atem an ihrem Ohr.

»Du weißt, dass es passieren wird. Du hast es all die Wochen gewusst.«

Ihr Knöchel gab nach, und sie fiel hin.

Sie rollte sich auf den Rücken und blickte zu ihm auf.

»Gut so, Tania.« Er kniete sich neben sie und strich ihr beinahe zärtlich über das Haar. »So hatte ich es nicht für dich geplant.

Ich wollte etwas Hübscheres für dich als dieses Herumgewälze im Schnee. Aber du hast den Alarm ausgelöst, und jetzt muss ich mich beeilen.«

»Aber ich habe Ihnen noch nichts von Nell erzählt«, flüsterte sie in verzweifeltem Ton.

»Dann erzähl mir jetzt von ihr.«

»Sie ist in Florida. Lassen Sie mich gehen, dann erzähle ich...«

Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, dass du lügst. So etwas spüre ich. Ich glaube nicht, dass du mir die Wahrheit sagen wirst. Also frage ich wohl besser den Onkel Doktor, wo sie ist.«

»Nein! «

»Aber du lässt mir keine Wahl.« Seine Finger schlossen sich fester um ihr Haar, und er hob das Messer an ihren Hals. »Ich werde dir nicht so wehtun wie du mir. Ein schneller Stich, und alles ist vorbei.«

Sie würde sterben. Denk nach. Bestimmt gab es eine Fluchtmöglichkeit. Sie hatte nicht die Hölle von Sarajevo überlebt, um hier zugrunde zu gehen.

Zu ihrem Entsetzen wurde ihr klar, dass es keinen Ausweg gab.

Das Messer näherte sich ihrem Hals.

Es gab keine Möglichkeit...

Jamie Reardon war in seinem Hotel, als sein Piepser zu schrillen begann.

Nach zwanzig Minuten hatte er das Haus erreicht. Ein mit Radar versehener Wagen der Wachgesellschaft stand am Straßenrand, aber er war leer. Immer noch heulte die Sirene von der offenen Haustür her. Warum in aller Welt hatte man sie noch nicht abgestellt?

Er stieg aus seinem Auto und ging die Einfahrt hinauf.

Den ersten blutigen Fußabdruck sah er am oberen Ende des Wegs. Die dunkle Flüssigkeit war mit Eiskristallen versehen und hob sich leuchtend von der weißen Schneedecke ab.

Sein Magen machte einen Satz. O Gott, nein. Blutstropfen bildeten eine Spur im Schnee, und er folgte ihr. Zwei uniformierte Wachmänner standen mit dem Rücken zu ihm auf dem Rasen und blickten auf den Boden. Er wusste, was dort zu sehen war. Er war zu spät.

»Ich muss mit Nick reden. Sofort.«

»Er ist heute nachmittag auf der Bar X, Jamie.« Nell warf einen Blick auf ihre Uhr. »Aber ich bezweifle, dass Sie ihn dort erreichen können. Wahrscheinlich ist er bereits auf dem Rückweg hierher, aber ich habe keine Ahnung, wie lange er bei diesem Wetter braucht. Soll ich ihm sagen, dass er Sie anrufen soll? «

»Ja. Sobald er nach Hause kommt.«

»Sind Sie in einem Hotel? «

»Nein. Schreiben Sie die Nummer auf.«

Sie notierte die Nummer auf dem Block neben dem Telefon.

»Was ist los? Kann ich ihm irgendetwas ausrichten? «

Schweigen und dann: »Nein.«

Sie erstarrte. Sie fühlte sich ebenso ausgeschlossen wie an jenem Abend, als Nicholas von Jamie die verschlüsselte Botschaft bezüglich Nigel Simpson übermittelt worden war.

Aber damals hatte ihr Nicholas auch noch nicht versprochen, ihr gegenüber immer offen und ehrlich zu sein. »Ich will wissen, was los ist, Jamie.«

»Dann fragen Sie Nick«, sagte Jamie matt. »Er würde mir den Kopf abreißen, wenn ich erzählen würde, worum es geht.«

Mit diesen Worten hängte er ein.

Sie sank auf den Stuhl neben dem Telefon. Übelkeit überfiel sie.

Die Bedeutung des Gesagten war klar. Sie wurde hintergangen.

Nicholas hatte Jamie angewiesen, ihr irgendetwas zu verheimlichen. Wie viele Dinge es wohl gab, die Nicholas vor ihr verbarg?

Sie blickte auf die Nummer auf dem Block. Irgendwie erschien sie ihr bekannt. Welche Stadt hatte nur diese Vorwahl...

Minneapolis?

Sie hatte die Nummer schon einmal gewählt, sie wusste, wessen Anschluss das war.

Mit zitternder Hand wählte sie.

»Hallo.«

»Was machen Sie in Liebers Haus, Jamie? «

»Himmel.«

»Was machen Sie dort? « Als er nicht antwortete, sagte sie:

»Holen Sie mir Tania an den Apparat.«

»Das kann ich nicht.«

Furcht überfiel sie. »Was soll das heißen, das können Sie nicht...«

»Hören Sie zu, ich kann nicht länger mit Ihnen reden. Sagen Sie Nick, dass er mich anrufen soll.«

Als er die Verbindung unterbrach, warf sie den Hörer auf die Gabel zurück, sprang hoch und rannte in ihr Schlafzimmer hinauf.

Erst knappe acht Stunden später hatte sie das Liebersche Haus erreicht. Gelbes Plastikband. Es war mit gelbem Plastikband abgesperrt. Plastikband, wie man es zur Markierung von Orten verwendete, an denen ein Verbrechen geschehen war, dachte sie, als sie den Taxifahrer bezahlte und aus dem Wagen stieg. Wie oft schon hatte sie dieses gelbe Plastikband in den Abendnachrichten gesehen? Aber dort hatte man immer fremde Häuser abgesperrt, nicht das Haus, das von Tania zu ihrem Heim erkoren worden war.

Vor der Absperrung stand ein stämmiger Polizist, der zu frieren schien. Fast so sehr, wie sie selber fror.

»Nell.« Jamie stieg aus einem Wagen, der neben der Einfahrt stand. »Sie hätten nicht kommen sollen«, sagte er sanft. »Genau das hat Nick zu vermeiden versucht.«

»Was ist hier passiert? «

»Maritz. Er hat Tania verfolgt, um zu sehen, ob Sie vielleicht wiederkommen.«

Sie hatte das Gefühl, als hätte er ihr einen Hieb in den Magen versetzt. Es war ihre Schuld. Sie hatte dieses Unglück über Tania gebracht. Sie und Joel hatten nur versucht, ihr zu helfen, und als Dank hatte sie das Monster in ihrer beider Leben gebracht. »Ist sie tot? «

Er schüttelte den Kopf. »Sie liegt mit einem gebrochenen Knöchel im Krankenhaus.«

Vor Erleichterung zitterten ihr die Knie. »Gott sei Dank.« Sie blickte auf das gelbe Band, und abermals stieg Furcht in ihr auf.

»Joel? «

»Er war gar nicht hier.« Pause. »Aber Phil. Maritz hatte seinen Wagen manipuliert, und er war damit in der Werkstatt. Der Mechaniker sagte ihm, jemand hätte an einem der Schläuche unter dem Vergaser herumgespielt, worauf er sich den Laster des Tankstellenbesitzers lieh und rechtzeitig zurückkam, um Tania zu retten.« Jamies Mund war nur noch als grimmige schmale Linie zu sehen. »Sich selbst allerdings nicht. Maritz hat ihn umgebracht. Aber sie haben so lange gekämpft, bis die Männer von der Wachgesellschaft hier waren, so dass Maritz verschwinden musste, ehe er Tania fertigmachen konnte.«

Phil. Der liebe, freund liche Phil. Tränen stiegen hinter ihren Augen auf, als sie sich daran erinnerte, wie sanft er im Krankenhaus mit ihr umgegangen war. Mit erstickter Stimme flüsterte sie: »Ich habe ihn sehr gern gehabt.«

»Ich auch.« Jamie räusperte sich, aber in seinen Auge n lag ein verräterischer Glanz. »Er war ein großartiger Bursche.«

»Ich möchte Tania sehen. Bringen Sie mich hin? «

»Darum bin ich hier.« Er nahm ihren Arm und führte sie zum Auto. »Nick sagte mir, dass ich Sie nicht aus den Augen lassen soll, bis er selbst hier sein kann.«

»Sie haben mit ihm gesprochen? «

»Drei Stunden, nachdem Sie zum Flughafen aufgebrochen waren. Am liebsten hätte er mich... und Sie erwürgt.«

»Sie waren bereits hier? Sie wussten, dass Maritz den beiden auf den Fersen war? «

Er zuckte mit den Schultern. »Der Inhaber des

Bestattungsinstituts war verschwunden. Wir wollten einfach sichergehen, dass Joel und Tania nichts passiert.«

»Aber es ist ihnen etwas passiert.« Sie setzte sich auf den Beifahrersitz. »Genau wie Phil.«

»Meinen Sie, ich mache mir nicht schon genug Vorwürfe deshalb? « fragte er mit rauher Stimme. »Phil war mein Freund.«

»Es ist mir egal, was für Vorwürfe Sie sich machen. Maritz hat Phil umgebracht und versucht, Tania umzubringen, weil er es immer noch auf mich abgesehen hat. Und Nicholas hat es mir nicht erzählt.«

»Weil wir wussten, dass Sie dann hierher zurückgekommen wären. Nick wollte nicht, dass Ihnen etwas passiert.«

»Mit welchem Recht hat er...« Sie brach ab. Es war sinnlos, mit Jamie zu streiten, während Nick der Schuldige war. »Ich will nicht mehr reden. Bringen Sie mich einfach zu Tania ins Krankenhaus.«

»Sie liegt im fünften Stock«, sagte Jamie, als der Wagen vor dem Krankenhaus zum Stehen kam. »Soll ich mitkommen? «

»Nein.« Sie stieg aus und warf die Tür hinter sich ins Schloss.

Joel stand im Flur vor Tanias Zimmertür.

»Sie sehen furchtbar aus«, sagte Nell. »Wie geht es Tania? «

»Sie hat einen gebrochenen Knöchel, ein paar Schürfwunden und einen Schock«, sagte Joel. »Sie hat zugesehen, wie er Phil erstochen hat.« Ein verbittertes Lächeln umspielte seinen Mund.

»Davon abgesehen geht es ihr gut.«

»Das Ganze ist meine Schuld.«

»Ich war derjenige, der vergessen hat, die Alarmanlage anzustellen, als ich aus dem Haus gegangen bin. Das Schwein ist einfach ins Haus spaziert.« Er schüttelte den Kopf.

»Es tut mir leid, Joel.«

»Um ein Haar wäre sie gestorben.« Er bedachte sie mit einem eisigen Blick. »Halten Sie sich von ihr fern. Ich will Sie nicht in ihrer Nähe sehen.«

Sie fuhr zusammen. Sie konnte ihm seine Ablehnung nicht verübeln, aber trotzdem tat seine Kälte weh. »Ich verspreche Ihnen, dass ich sie nicht noch einmal besuchen werde, bis das alles vorüber ist. Ich möchte ihr nur sagen, dass - darf ich sie sehen? «

Er zuckte mit den Schultern. »Wenn Kabler mit ihr fertig ist.«

Sie senkte den Blick. »Kabler ist hier? «

»Er kam vor wenigen Minuten. Er sagte, er hätte ein paar Fragen über Maritz an sie.«

»Meinen Sie, dass man Maritz erwischen wird? «

»Kabler sagt, dass er wahrscheinlich längst außer Landes ist.«

»Aber Tania hat ihn gesehen. Wie steht's mit einer Auslieferung? «

»Eine Auslieferung ist ja wohl nur dann möglich, wenn man weiß, wo er ist.«

»Er wird zu Gardeaux zurückkehren, damit der ihn beschützt.«

Joel schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich will nur, dass er nicht noch mal in Tanias Nähe kommt.«

»Das will ich auch.« Sie berührte seinen Arm. »Aber nun, da er identifiziert worden ist, traut er sich bestimmt nicht noch mal hierher zurück.«

»Nein? Dieser Kerl ist wahnsinnig. Ihm ist alles zuzutrauen. Er hat sie beobachtet, hat sie verfolgt, ist einfach in unser Haus spaziert und...« Er brach ab. »Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, und dann verschwinden Sie von hier. Sie hat genug...«

»Ich hatte Sie bereits erwartet, Mrs. Calder«, sagte Kabler und schloss die Tür des Krankenzimmers hinter sich. »Wo ist Tanek? «

»Ich bin alleine gekommen.« Sie wandte sich an Joel. »Darf ich jetzt hinein? «

»Erst sehe ich nach, ob Kabler keinen Schaden angerichtet hat.«

Mit diesen Worten betrat Joel das Zimmer, in dem Tania lag.

»Das mit dem jungen Phil ist wirklich bedauerlich«, sagte Kabler. »Kannten Sie ihn gut? «

»Ja, das heißt nein, ich glaube nicht. Was machen Sie denn hier?«

»Seit wir von Birnbaums Verschwinden erfahren hatten, hatte ich ständig einen Mann hier in Minneapolis postiert. Sie erinnern sich doch sicher daran, dass ich schon bei unserer ersten Begegnung neugierig war, zu erfahren, welches seine Rolle in der ganzen Sache war? «

Sie lehnte sich an die Wand. »Offenbar hat Ihr Mann die Situation ebenfalls nicht besonders gut im Griff gehabt.«

»Sie wussten nicht, dass Maritz hinter Ms. Viados her war? «

»Natürlich wusste ich es nicht«, stellte sie hitzig fest. »Denken Sie etwa, ich hätte nichts dagegen unternommen, wenn ich...«

»Schon gut.« Er hob besänftigend die Hand. »Ich habe ja nur gefragt. Da Reardon innerhalb weniger Minuten am Tatort war, scheint Tanek gewusst zu haben, was da vor sich ging.« Er schüttelte den Kopf. »Ich sagte Ihnen ja, dass man ihm nicht trauen kann. Wenn er Ms. Viados als Köder benutzt hat, meinen Sie, dann benutzt er Sie nicht ebenfalls? «

»Er hat sie nicht als Köder benutzt.«

»Warum hat er es Ihnen dann nicht erzählt? « Als sie nichts erwiderte, schüttelte er verzweifelt den Kopf. »Sie glauben ihm immer noch.«

Sie konnte nicht glauben, dass sie derart von Nicholas hintergangen worden war. »Er würde Tania nicht in Gefahr bringen.«

»Hat er Ihnen erzählt, was er von Nigel Simpson erfahren hat? «

»Ja.«

»Nein, das hat er nicht. Wenn er es hätte, wären Sie nicht so ruhig.« Er presste die Lippen zusammen, denn sie wandte sich wortlos ab. »Aber ich lasse nicht zu, dass es noch einmal passiert. Nach Ihrem Gespräch mit Ms. Viados erwarte ich Sie unten im Foyer.«

»Warum? «

»Ich werde Ihnen beweisen, dass Tanek nicht zu trauen ist.

Nicht eine Minute lang.«

Er ging den Flur hinunter, und sie sah ihm nach. Sie war wütend auf Nicholas, aber instinktiv verteidigte sie ihn. Was für eine Närrin sie doch war. Sie klammerte sich an ihr Vertrauen, als wäre es der einzige Rettungsanker, den es für sie gab, Nie zuvor hatte sie sich so allein gefühlt.

»Sie können jetzt reingehen.« Joel stand in der offenen Zimmertür. »Aber nur für ein paar Minuten. Sie braucht Ruhe.«

Vor den weißen Kissen sah Tania furchtbar bleich und zerbrechlich aus.

Ihre Worte allerdings hatten nichts von der für sie typischen rauhen Herzlichkeit eingebüßt. »Sieh mich nicht so an. Mir fehlt nicht viel. Mein Knöchel wächst schon wieder zusammen.«

»Ich nehme an, du weißt, wie leid mir die ganze Sache tut.« Nell trat an ihr Bett. »Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass so etwas passiert. Es hätte mich treffen sollen. Schließlich hatte er es auf mich abgesehen.«

»Schmeichel dir lieber nicht allzu sehr. Vielleicht hatte er es zu Anfang auf dich abgesehen, aber dann kam er zu dem Schluss, dass ich ein ganz reizendes Opfer war.« Sie lächelte ohne jeden Humor. »Er denkt, dass ich etwas Besonderes bin. Ist das nicht nett? «

»Wie kannst du darüber noch Witze machen? «

Tanias Lächeln schwand. »Das ist die einzige Art, auf die ich damit zurechtkomme«, flüsterte sie. »Ich glaube, ich hatte noch nie solche Angst wie in dem Augenblick. Er kam einfach immer näher. Ich konnte nichts dagegen tun. So war es bei dir doch auch, nicht wahr? «

Nell nickte, und hinter Tanias Augen stiegen Tränen auf. »Er hat Phil umgebracht.«

»Ich weiß.«

»Phil hat mich gerettet, und Maritz hat ihn umgebracht. Ich habe einmal einen dieser Horrorfilme über einen ›Schwarzen Mann‹

gesehen, den nur seine Boshaftigkeit am Leben hielt. Egal, was geschah.« Tanias Finger umklammerten Nells Hand mit schmerzliche r Festigkeit. »Er hat einfach einen nach dem anderen umgebracht. In Sarajevo war es anders. Sie hatten keine Gesichter. Maritz hat ein Gesicht. Aber er sieht so gewöhnlich aus wie jeder andere.«

»Ich rege dich auf. Vielleicht sollte ich gehen. Joel wird mir den Kopf abreißen, wenn es dir nach meinem Besuch schlechter geht.«

Tania versuchte zu lächeln, aber es war nur ein kläglicher Versuch. »Ja, er ist sehr fürsorglich, nicht wahr? Vielleicht solltest du wirklich gehen. Ich bin im Augenblick keine allzu gut e Gesellschafterin. Aber melde dich mal wieder bei mir.«

»Das verspreche ich.« Sie beugte sich vor und küsste Tania auf die Wange. »Gute Besserung.«

Tania nickte. »Nell.«

In der Tür wandte sie sich noch einmal um. , »Sei vorsichtig«, flüsterte Tania. »Er ist wirklich der ›Schwarze Mann‹.«

Draußen vor der Tür wartete Tanek auf sie. »Wie geht es ihr? «

»Nicht gut«, war Nells kühle Erwiderung. »Was hattest du denn gedacht? Um ein Haar wäre sie erstochen worden, und Phil wurde vor ihren Augen umgebracht.« Sie wandte sich zum Gehen.

»Wo willst du hin? «

»Jetzt? Ich brauche einen Kaffee. Der Besuch bei Tania war nicht gerade angenehm.« Sie brauchte mehr als einen Kaffee.

Sie zitterte, doch das durfte er nicht sehen. Sie wusste, wie gut sich Nicholas auf das Ausnut zen jeder Schwäche verstand. Sie betrat das Wartezimmer und suchte in ihrem Geldbeutel nach einer Münze für den Kaffeeautomat. »Nicht, dass es dich etwas angeht.«

»Den Teufel geht es mich nichts an.« Er warf eine

Vierteldollarmünze in den Schlitz und beobachtete, wie die schwarze Flüssigkeit in den Pappbecher rann. »Warum hast du nicht gewartet, bis ich zurück war? Ich hätte dich hierher gebracht.«

Sie nahm ihm den Becher ab. »Ich konnte ja wohl nicht sicher sein, dass du das tust. Immerhin hast du mir gar nicht erst erzählt, dass Maritz ihr auf den Fersen war.«

»Wir wussten es nicht. Nicht mit Sicherheit.«

»Aber du warst dir sicher genug, um Jamie herzuschicken.«

»Das war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Ich wollte nicht, dass es zu einem zweiten Medas kommt.«

Sie nippte an dem schwarzen Kaffee. »Tja, und trotzdem hast du eins gekriegt. Phil ist tot.«

Er nickte. »Und was meinst du, wie es mir dabei geht?

Schließlich war ich derjenige, der ihn hierher beordert hat.«

»Offen gestanden ist es mir egal, wie es dir dabei geht.«

Er presste die Lippen zusammen. »Also gut, ich habe dir nicht alles erzählt. Ich wollte nicht, dass du Hals über Kopf hierher zurückgeflogen kommst.«

»Diese Entscheidung stand dir nicht zu.«

»Aber ich habe sie trotzdem getroffen. Verdammt, ich wollte nicht, dass dir etwas passiert.«

»Wenn ich hier gewesen wäre, hätte Maritz es auf mich statt auf Tania abgesehen.«

»Genau.«

»Und wer hat dich zum Gott ernannt, Nicholas? Mit welchem Recht maßt du dir derartige Entscheidungen an? «

»Ich habe getan, was ich tun musste.«

»Und ich tue, was ich tun muss.« Sie leerte den Becher, warf ihn in den Papierkorb, verließ das Wartezimmer und ging den Flur in Richtung der Fahrstühle hinab.

Er folgte ihr. »Wohin gehst du? «

Sie antwortete nicht.

»Hör zu. Ich kann verstehen, dass du erregt bist, aber das, was passiert ist, ändert nichts an der Ausgangsposition. Vielleicht ist Maritz inzwischen längst zu Gardeaux zurückgekehrt. Wir sollten weitermachen wie geplant.«

Sie drückte auf den Fahrstuhlknopf. »Ich glaube nicht mehr, dass der Plan funktionieren wird. Dazu wäre ein gewisses Maß an Vertrauen erforderlich.«

Er sah sie an. »Vielleicht glaubst du es jetzt nicht, aber du wirst mir wieder vertrauen.«

»Ich hoffe, so dumm bin ich nicht.« Sie betrat den Lift, und als er ebenfalls einsteigen wollte, hielt sie ihn zurück. »Nein ich will nicht, dass du mich begleitest.«

Er nickte und trat zurück. »O.k., ich verstehe. Du brauchst ein bisschen Zeit für dich.«

Seine Reaktion überraschte sie. Dass er so leicht aufgeben würde, hätte sie nicht gedacht. Die Tür schloss sich zwischen ihnen, und sie lehnte sich an die Wand. Sie fühlte sich erschöpft und zerschlagen wie nach einem langen Kampf, und unten wartete noch Kabler auf sie.

Als sie den Fahrstuhl verließ, kam Kabler gerade aus dem Geschenkshop heraus. »Mighty Morphin, the Red Ranger«, sagte er, als ihr Blick auf die Tüte in seinen Händen fiel. »Für meinen Sohn. Bei uns zu Hause findet man die Dinger so gut wie nirgendwo.«

»Ich glaube nicht, dass Sie mir ein Spielzeug zeigen wollten«, sagte sie.

»Ich habe Tanek raufgehen sehen. Was hat er...«

»Sie sagten, Sie wollten mir etwas zeigen.«

»Nicht hier.« Er nahm ihren Arm und führte sie auf den Parkplatz hinaus. »Sie sehen müde aus. Entspannen Sie sich, und vertrauen Sie mir.«

Warum nicht? Sie nahm an, dass ihm zu trauen war.

Irgendjemandem musste doch zu trauen sein. Sie stieg in seinen Wagen, lehnte sich im Beifahrersitz zurück und machte die Augen zu. »Ich werde mich ein wenig entspannen, aber Sie tun das besser nicht. Nicholas hat viel zu wenig Widerstand geleistet, als ich gesagt habe, dass ich allein sein will. Ich wette, irgendwo hier in der Nähe treibt sich Jamie Reardon herum. Er ist mit einem grauen Taunus unterwegs.«

»Er ist fünf Autos hinter uns. Aber das ist egal. Gleich hängen wir ihn ab.«

»Sie ist mit Kabler zusammen? « Nur mit Mühe unterdrückte Nicholas einen Fluch. »Verlier sie nicht aus den Augen. Was, zum Teufel, hat er mit ihr vor? «

»Ich kann sie nicht länger verfolgen. Ich rufe vom Flughafen aus an. Sie haben einen Privatjet bestiegen, der bereits auf dem Rollfeld steht.«

»Kannst du rausfinden, wohin sie fliegen? «

»Bei einem Charterflug der Drogenbehörde? Dazu brauche ich ein bisschen Zeit. Einfach nachfragen ist da nicht drin.«

Nicholas hatte gewusst, dass es nicht ging, aber inzwischen klammerte er sich an jedem Strohhalm fest. Davon abgesehen konnte er sich denken, wohin die Reise ging. Er hätte nur nicht gedacht, dass Kabler zu einer derart verzweifelten Maßnahme griff. »Bin schon unterwegs. Sieh zu, dass du ein

Charterflugzeug bekommst, das bei meiner Ankunft aufgetankt und startklar auf der Rollbahn steht.«

»Ich glaube, ich weiß, welchen Flug du buchen willst.«

»Bakersfield, Kalifornien.«

Das große viktorianische Haus lag ein wenig abseits der Straße und war hinter der ausgedehnten Rasenfläche und den turmhohen Eichen kaum zu sehen. Im abendlichen Zwielicht wirkte es zeitlos, elegant und würdevoll.

»Los«, sagte Kabler zu Nell.

»Ich glaube Ihnen nicht«, flüsterte sie. »Das ist nicht wahr.«

Kabler kam um den Wagen herum und öffnete ihr die Tür.

»Überzeugen Sie sich selbst.«

Langsam stieg Nell die Stufen zu der großen, rund um das Haus verlaufenden Veranda hinauf und klingelte an der Tür.

Durch die aufgemalten Blumen auf der Glastür sah sie kaum die Frau, die die Treppe in den Flur herunterkam.

Mit einem Mal wurde die Veranda ins Licht der Kutschenlaterne neben der Tür getaucht, die Frau spähte durch das bemalte Glas hinaus, öffnete und fragte: »Kann ich etwas für Sie tun? «

Nell war wie erstarrt. Sie brachte keinen To n heraus.

Eine winzige Falte verunzierte die ansonsten perfekte Stirn der Frau. »Haben Sie etwas zu verkaufen? «

»Was ist los, Maria? « Ein Mann kam die Treppe herab.

Gleich würde sie in Ohnmacht fallen. Nein, gleich würde ihr schlecht.

O Gott. O Gott.

Der Mann legte der Frau liebevoll den Arm um die Schultern und lächelte. »Was können wir für Sie tun? «

»Richard.« Etwas anderes brachte sie nicht heraus.

Das Lächeln des Mannes schwand. »Sie irren sich. Offenbar haben Sie das falsche Haus erwischt. Ich bin Noel Tillinger, und das hier ist meine Frau Maria.«

Nell schüttelte den Kopf, ebenso sehr um ihn frei zu bekommen wie um die Worte des Mannes zu negieren. »Nein.« Ihr Blick wanderte zu der Frau. »Warum, Nadine? «

Mit einem Mal starrte Nadine sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Wer...«

»Halt du dich aus dieser Sache heraus, Maria. Ich werde schon fertig mit ihr.«

»Ich glaube, man hat sie bereits fertig genug gemacht«, sagte Kabler und trat hinter sie. »Und zwar auf eine nicht allzu freundliche Art.«

Richard riss die Augen auf. »Kabler? Was in aller Welt machen Sie denn hier? «

Kabler ignorierte ihn und wandte sich an Nell. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Mrs. Calder? «

Nichts war in Ordnung mit ihr. Sie wusste nicht, ob je wieder etwas in Ordnung wäre nach diesem Tag. »Ich habe Ihnen nicht geglaubt.«

Richards Blick schwang zu ihr zurück. »Mein Gott. Nell? «

»Ich denke, wir gehen besser ins Haus«, schlug Kabler vor.

Richard trat zur Seite, ohne auch nur für eine Sekunde von Nell fortzusehen. »Er hat mir gesagt, man hätte dein Gesicht operiert, aber - ich fasse es einfach nicht... Großer Gott, du siehst einfach hinreißend aus.«

Fast hätte sie hysterisch gelacht. War ihr verändertes Äußeres alles, worüber nachzudenken er in der Lage war?

Kabler schob sie sanft über die Schwelle in den Flur. »Wir sollten nicht länger auf der Veranda herumstehen. Die oberste Regel in einem Zeugenschutzprogramm ist, dass man niemals Aufmerksamkeit erregen darf.«

Nadine zwang sich zu einem Lächeln. »Dann kommen Sie vielleicht besser in den Salon.« Sie führte sie aus der Eingangshalle durch eine Bogentür in einen Raum, der mit seinen riesigen Farnen und Palmen und dem dunklen, geschnitzten Holz aussah wie aus einem Edith-Wharton-Roman.

Sie wies auf die mit Gobelinkissen versehene Couc h. »Setz dich doch, Nell.«

Sie war die perfekte Hausherrin, schön und selbstbewusst wie eh und je. »Warum, Nadine? «

»Ich liebe ihn. Als er mich rief, bin ich zu ihm gegangen«, war Nadines schlichte Erwiderung. »Ich wollte nicht, dass das passiert. Ich mochte dich. Niemand wollte, dass dir etwas geschieht.«

Nell befeuchtete ihre trockenen Lippen. »Seit wann? «

»Wir waren seit über zwei Jahren ein Paar.«

Seit über zwei Jahren. Er hatte seit Jahren mit Nadine das Bett geteilt, und sie hatte nie auch nur den geringsten Verdacht gehegt. Wie clever er doch gewesen war. Oder vielleicht war nicht er clever gewesen, sondern sie dumm.

»Warum haben Sie sie hierher gebracht, Kabler? « fragte Richard. »Sie sagten, Sie erführe niemals etwas davon. Sie sagten, niemand erführe jemals etwas davon.«

»Ich musste ihr etwas beweisen. Hätte ich es nicht getan hätte sie sich in größte Schwierigkeiten gebracht.«

»Und was ist mit mir? « fragte Richard. »Was, wenn sie jemandem davon erzählt? «

»Ich bezweifle ernsthaft, dass sie sich den Menschen anvertrauen würde, von denen ihre Tochter ermordet worden ist.

Was meinen Sie? «

Richard errötete. »Nein, wahrscheinlich nicht«, murmelte er.

»Aber trotzdem hätten Sie sie nicht herbringen sollen.«

»Ich verstehe das Ganze einfach nicht«, stellte Nell mit heiserer Stimme fest. »Kabler, erklären Sie es mir.«

»Der Überfall auf Medas galt Ihrem Ehemann«, sagte Kabler.

»Er hatte in seiner Bank eine Zeitlang als Geldwäscher für Gardeaux fungiert. Als sich die Gelegenheit mit Kavinski bot, sagte er Gardeaux, er hätte genug. Nicht sonderlich intelligent.

Niemand steigt bei Gardeaux aus, solange der es nicht will.

Gardeaux brauchte ihn, also beschloss er, ihm eine Warnung zukommen zu lassen.«

»Was für eine Warnung? «

»Den Tod seiner Frau. Sie waren das eigentliche Ziel.«

»Sie wollten mich töten, um ihn zu bestrafen.«

»Was in diesen Kreisen eine nicht unübliche Praxis ist.«

»Und Jill? Sollten sie Jill auch umbringen? « fragte sie in leidenschaftlichem Ton.

»Das wissen wir nicht. Aber wir denken nein. Es könnte sein, dass Maritz die Ermordung Ihrer Tochter selbst beschlossen hat.

Er ist kein sonderlich stabiler Mensch.«

Kein sonderlich stabiler Mensch. Er kam einfach immer näher.

Der ›Schwarze Mann‹.

»Wenn ich die Zielperson war, warum wurde dann auf Richard geschossen? « Doch dann fand sie die Antwort von allein. »Auf ihn wurde gar nicht geschossen, nicht wahr? Das haben Sie nur vorgetäuscht.«

Kabler nickte. »Ein paar Stunden vor der Party fanden wir heraus, dass die Information, die wir über Sie als Zielperson bekommen hatten, richtig war.« Er machte eine Pause. »Aber es gab einen Anhang, in dem auch Calder als Zielperson aufgeführt war. Offenbar hatte Gardeaux herausgefunden, weshalb Calder so bereitwillig seinen beachtlichen Anteil an dem

Geldwäschegeschäft sausen ließ. Er hatte einiges für sich abgezweigt und auf einem Schweizer Bankkonto versteckt. Ich hatte nicht mehr viel Zeit, so dass mir nur die Möglichkeit blieb, ein paar Männer auf die Insel zu schicken.«

»Warum waren Sie nicht dort, um Jill zu retten? « fragte sie in hitzigem Ton. »Warum waren Sie nicht dort? «

Richards Mund wurde von einem spöttischen Lächeln umspielt.

»Ja, sagen Sie es ihr. Sagen Sie ihr, was für Sie das Wichtigste war.« Er wandte sich an Nell. »Das ist der Grund, weshalb er dich hergebracht hat. Seine Männer hatten Anweisung, mich zuerst zu kontaktieren, um mir ein Geschäft vorzuschlagen.

Meinen Hals und ein neues Leben dafür, dass ich gegen Gardeaux aussage, wenn es soweit ist.«

»Ich dachte, wir hätten Zeit«, sagte Kabler an Nell gewandt.

»Ich dachte, Sie wären unten im Ballsaal wie alle anderen. Ich hatte extra einen Mann zu Ihrer Bewachung abgestellt.«

»Aber Gardeaux zu erwischen, war Ihnen noch wichtiger«, warf Richard ein. »Sie hatten sich sogar einen passenden Plan zurechtgelegt. Sie hatten einen Arzt auf die Insel geschickt, der sich als einer der Gäste ausgab. Ich sollte einen Herzanfall bekommen und zurück aufs Festland geschafft werden, ehe es zu irgendwelchen Komplikationen kam.« Richard verzog das Gesicht. »Aber Sie haben sich verrechnet, nicht wahr? «

»Immerhin haben wir Sie von der Insel runtergeschafft.«

»Und mich in dieses verschlafene Nest gesetzt. Ich wollte nach New York.«

»Dort war es nicht sicher für Sie.«

»Sie hatten mir ein neues Gesicht versprochen. Das hätte es sicher gemacht.«

»Alles zu seiner Zeit.«

»Verdammt, die ganze Sache ist inzwischen sechs Monate her.«

»Halten Sie den Mund, Calder.« Kabler wandte sich erneut an Nell. »Haben Sie jetzt genug gehört? «

Zu viel. Lügen. Hässlichkeit. Verrat.

Sie wandte sic h zum Gehen.

»Nell.« Richard umfasste ihren Arm und hielt sie zurück. »Ich weiß, dass dich die ganze Sache durcheinander gebracht hat, aber es ist von größter Bedeutung, dass niemand erfährt, wo ich bin.«

Er hatte sein charmantes Jungenlächeln aufgesetzt, mit dem er immer so mühelos durchs Leben gekommen war.

»Lass mich los.«

»Ich habe Jill auch geliebt«, sagte er sanft. »Du weißt, dass ich nichts getan hätte, wodurch sie oder du zu Schaden gekommen wäre.«

»Lass mich los.«

»Nicht ehe du mir versprichst, dass du niemandem meinen Aufenthaltsort verrätst. Du weißt, dass ich recht habe. Es ist nur so, dass...«

»Um Gottes willen, lass die arme Frau endlich gehen, Richard«, sagte Nadine.

»Halt den Mund, Nadine«, sagte er, ohne seine Freundin anzusehen. »Das hier geht nur uns beide etwas an. Es ist nicht meine Schuld, dass Jill gestorben ist. Ich war unten. Ich war nicht in der Suite, um sie zu beschützen, so wie du es warst, Nell.«

Sie starrte ihn ungläubig an. Wieder einmal versuchte er, sie zu manipulieren, indem er ihr Schuldgefühle vermittelte.

Aber warum auch nicht, dachte sie erbost. Schließlich hatte er es seit ihrer Hochzeit immer so gemacht. »Du verdammter Hurensohn.«

Er errötete, doch sein Griff um ihren Arm verstärkte sich. »Ich wollte nur weiterkommen. Ich kam einfach zu langsam voran.

Immerhin habe ich immer gut für dich und Jill gesorgt.«

»Lass mich los«, knurrte sie. »Du weißt, dass ich...«

Sie versetzte ihm einen Schlag in den Bauch, und als er sich vor Schmerzen krümmte, krachte ihre Hand auf seinen Nacken herab. Er ging zu Boden, und sie stürzte sich auf ihn und trommelte mit den Fäusten auf ihn ein. Er hatte alles in Gang gesetzt, er war das erste Glied der Kette der Ereignisse, die für Jills Tod verantwortlich war. Ein gut platzierter Hieb, und er wäre tot. Sie hob den Arm. Ein Hieb und...

»Nein.« Kabler zerrte sie zurück. »Das wollen Sie nicht tun.«

Sie kämpfte verzweifelt gegen ihn an. »Und ob ich es will.«

»Aber ich kann es nicht zulassen. Er wird noch als Zeuge gebraucht.« Kabler verzog das Gesicht. »Obwohl ich Sie durchaus verstehen kann.«

Sich seinem Griff zu entwinden wäre ihr ein leichtes gewesen, aber dann hätte sie Kabler wehgetan, und das hatte er nicht verdient. Nicht, nachdem er versucht hatte, ihr behilflich zu sein.

Sie atmete tief ein. »Sie können mich loslassen. Ich werde ihm nichts tun... zumindest jetzt noch nicht.«

Sofort ließ Kabler von ihr ab.

Richard setzte sich mühsam auf und tastete vorsichtig an seinem Bauch herum. »Was, zum Teufel, ist nur mit dir passiert, Nell? «

»Du bist mir passiert. Du und Maritz und...« Sie machte auf dem Absatz kehrt. »Wenn Sie ihn noch ganz wollen, dann bringen Sie mich besser von hier weg, Kabler.«

»Ich will ihn nicht ganz, aber ich brauche ihn. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich ihn mit einem Bus überfahren.« Er nahm ihren Arm, doch sie schüttelte ihn ab und drehte sich noch einmal zu Richard um. »Eins will ich noch wissen. Warum hast du mich geheiratet? «

Ein boshaftes Lächeln verzerrte sein Gesicht. »Was meinst du wohl, warum ich ein hässliches, kleines, namenloses Entlein geheiratet habe, das dumm genug war, sich von irgendeinem dahergelaufenen Hinterwäldler ein Kind andrehen zu lassen?

Dein Vater hat mir einen fetten Scheck und ein prächtiges Empfehlungsschreiben an Martin Brenden gegeben, darum habe ich es getan.«

Er dachte, er hätte sie verletzt, und ahnte nicht, dass er auf diese Weise nur das letzte zarte Band zwischen ihnen zerschnitten hatte, so dass sie endlich vollkommen frei war von ihm.

»Das hättest du nicht sagen müssen«, sagte Nadine, während sie ihm vorsichtig auf die Füße half. »Manchmal bist du wirklich ein Schwein, Richard.«

Kabler führte Nell sanft aus dem Raum. »Es tut mir leid, dass ich Ihnen das antun musste«, sagte er, während er die Haustür öffnete. »Aber eine andere Möglichkeit, um Ihnen zu beweisen, dass Sie von Tanek die ganze Zeit über angelogen worden sind, hatte ich nicht.«

»Er wusste darüber Bescheid? «

»Durch Nigel Simpson.«

»Wie können Sie da sicher sein? «

»Reardon war in Athen und hat mit dem Arzt gesprochen, der für uns auf Medas Calders Totenschein unterschrieben hat. Er hat herumgeschnüffelt, um herauszufinden, wo Calder von uns hingebracht worden war.«

»Nicholas wusste, dass er lebt, und hat es mir nicht erzählt? «

»Ich sagte ja, in diesen Kreisen sind alle Kerle gleich.« Auf dem Weg zum Auto blickte er noch einmal zum Haus zurück. »Sie waren ganz schön beeindruckend. Taneks Verdienst? «

Sie hörte die Frage kaum. »Warum hat er es mir nicht gesagt? «

»Ich schätze, er hatte andere Pläne mit Ihnen, in denen die Ablenkung durch eine Nebensächlichkeit wie einen lebenden Ehemann nicht vorgesehen war.«

Wieder sprach er davon, dass sie für Nicholas nichts als ein potentieller Köder war, und zum ersten Mal fragte sie sich, ob er mit dieser Vermutung vielleicht richtig lag. Nicholas war ein äußerst cleverer Mann. Hatte er sie derart manipuliert, dass sie sich nur einbildete, diejenige zu sein, nach deren Willen der Rachefeldzug verlief? So dumm war sie doch sicher nicht, aber...

Später. Im Augenblick war sie für derartige Überlegungen viel zu wütend und schockiert.

»Kann ich darauf vertrauen, dass Sie niemandem von dieser Angelegenheit erzählen? « fragte Kabler sie. »Ich habe meinen Job aufs Spiel gesetzt, indem ich Sie hierher gebracht habe, und jetzt schicken Sie doch hoffentlich nicht irgendwelche anonymen Mitteilungen über Calders Aufenthaltsort an Gardeaux? «

»Weshalb denken Sie, dass Gardeaux überhaupt weiß, dass er noch am Leben ist? «

»Reardon ist nicht der einzige, der sich in Griechenland umgesehen hat, und Simpson hatte die Information bestimmt nicht von uns.«

Wieder wallte schmerzlicher Zorn in ihr auf. »Ich verspreche, dass ich Gardeaux keinen Hinweis geben werde.« Und kalt fügte sie hinzu: »Aber ich verspreche nicht, dass ich den Bastard nicht eigenhändig erledige.«

»Das hatte ich befürchtet.« Er stieß einen Seufzer aus. »Das heißt, dass ich Calder noch einmal woanders hin...«

»Können wir jetzt gehen? «

Sie fuhr herum, als sie die Stimme von Nicholas vernahm, der sich ihr von der Straße her näherte.

»Sie wollten den Beweis, dass er wusste, was mit Calder ist.

Hier haben Sie ihn«, murmelte Kabler an Nell gewandt. »Sie kommen zu spät, Tanek. Ich glaube nicht, dass sie mit Ihnen gehen wird.«

»Du hast es gewusst«, flüsterte sie. Bis zu diesem Augenblick war ihr nicht klar gewesen, wie verzweifelt sie sich gewünscht hatte, er hätte ihr nicht auch in dieser Beziehung eine Lüge aufgetischt. »Du hast alles gewusst und mir nichts davon erzählt.«

»Irgendwann hätte ich es getan.«

»Wann? Nächstes Jahr? In fünf Jahren? «

»Wenn es sicher gewesen wäre.« Er sah Kabler an. »Sie mussten sie ja unbedingt hierher bringen, nicht wahr? Sie wissen, dass Calder immer noch eine Zielperson ist, und trotzdem haben Sie sie hergebracht. Sie sollte nicht in seiner Nähe sein.«

»Hier in Bakersfield ist er gut versteckt. Sie sollte nicht in Ihrer Nähe sein. Und das weiß sie jetzt. Sie können sie nicht...«

Wie von einem gigantischen Fausthieb getroffen ging Nell in die Knie.

»Mein Gott.«

Auch Nicholas hatte der übermächtige Hieb erwischt, aber jetzt lag er über ihr und schützte sie vor umherfliegendem Geröll.

Geröll von wo? überlegte sie verwirrt. Was war passiert?

Dann sah sie über Nicholas' Schulter hinweg das Haus.

Das, was vom Haus noch übrig war. Keine Fenster. Keine Veranda. Die südliche Wand war fortgerissen und aus der Ruine stiegen Flammen auf. Flammen, die alles fraßen, was nicht bereits durch die Explosion vernichtet worden war.

»Was ist passiert? « fragte sie verwirrt.

»Eine Bombe...« Kabler war auf den Knien und blutete aus mehreren Schnittwunden im Gesicht. Die Fäuste geballt, starrte er in hilflosem Zorn auf das Haus zurück. »Verdammt, jetzt haben sie ihn erwischt.«

Er sprach von Richard. Richard war im Haus gewesen. Richard war tot. Ebenso wie Nadine.

Gerade noch hatte sie mit ihnen gesproche n, und nun waren sie tot.

Verschwommen bemerkte sie, dass Nicholas sich erhob und sie auf die Füße zog. »Komm. Wir müssen fort von hier.«

Mit schmerzverzerrtem Gesicht hievte auch Kabler sich hoch.

»Zur Hölle mit ihnen. Verdammt.«

Nicholas packte ihren Arm und zog sie die Straße hinunter dorthin, wo sein Auto stand.

»Wo wollen Sie hin? « Kabler eilte ihnen nach.

»Fort von hier. Oder wollen Sie, dass man sie auch noch erwischt? «

»Vielleicht war es ja gar nicht Gardeaux. Sie sind genau zur richtigen Zeit hier aufgetaucht, finden Sie nicht? Vielleicht waren Sie es ja.«

»Das würde Ihnen so passen. Dann gäbe man wenigstens nicht Ihnen die Schuld daran, dass die Kerle wussten, wo Calder zu finden war.« Er sah Kabler an. »Aber Sie denken ja gar nicht, dass ich es war. Sie wissen, dass es ein Fehler war, sie hierher zubringen. Wahrscheinlich stand sie bereits seit ihrer Rückkehr in Liebers Haus unter Beobachtung. Sie sind ihr und Ihnen hierher gefolgt und haben die Bombe neben der Hauptgasleitung deponiert, während Sie im Haus nett mit Calder geplaudert haben.«

»Sie sind uns bestimmt nicht bis hierher gefolgt. Ich habe Anweisung erteilt, dass jeder Flugplan unserer Behörde versiegelt wird.«

»Sie wollten Calder. Sie brauchten nur genug Geld zu bieten, damit irgendwer ein Siegel bricht. Das wissen Sie ebenso gut wie ich.«

Kabler öffnete den Mund, um zu protestieren, doch dann klappte er ihn wieder zu. »Ja, das weiß ich ebenso gut wie Sie«, sagte er, und mit einem Mal wirkte er wie ein alter, gebrochener Mann.

»Nun, erlauben Sie jetzt vielleicht, dass ich sie aus der Gefechtszone bringe, ehe man sie ebenfalls erwischt? «

Einen Augenblick lang sagte Kabler nichts, doch dann nickte er.

»Verschwinden Sie.« Er wandte sich an Nell: »Ich muss noch ein wenig Schadensbegrenzung betreiben, aber anschließend melde ich mich bei Ihnen. Wenn Sie schlau sind, denken Sie an das, was Sie heute abend hier erlebt haben, und lassen nicht zu, dass er Sie benutzt.« Er blickte auf das brennende Haus zurück.

»Sonst sind Sie bald ebenso tot, wie Calder es ist.«

»Ich sorge bereits seit fünf Monaten dafür, dass ihr nichts passiert.« Halb zog und halb schob Nicholas Nell zur Beifahrertür.

Wie betäubt registrierte sie, dass sich auf der Straße Menschen aus den umliegenden Häusern versammelten. Aus einiger Entfernung drang das Heulen einer Sirene an ihr Ohr.

Nicholas öffnete die Tür. »Steig ein.«

Sie zögerte und wandte sich noch einmal zu Kabler um.

Er starrte nicht länger auf das Haus, sondern hatte sich über die offene Tür seines Wagens gebeugt und sprach eilig in das Autotelefon.

Schadensbegrenzung, hatte er gesagt.

Was für eine Begrenzung ließ ein solches Inferno denn zu?

Richard und Nadine waren beide tot.

Sie stieg ein, und hinter ihr warf Nicholas die Tür ins Schloss.