6. Kapitel

Als Nicholas in der Klinik ankam, war Nell nicht in ihrem Zimmer.

»Sie ist im Fitneßraum«, sagte Joel hinter ihm. »Komm, ich bringe dich hin.«

Nicholas drehte sich zu ihm um. »Ich dachte, sie würde heute entlassen. Habe ich mich vielleicht im Tag geirrt? «

»Ich habe ihr gesagt, daß ich sie erst um die Mittagszeit gehen lasse, und sie vergeudet bestimmt nicht den ganzen Vormittag hier oben, wenn sie trainieren kann. Der Fitneßraum ist nicht mehr so viel benutzt worden, seit die russische Turnerin bei uns war.«

Nicholas folgte ihm. »Wie geht es ihr? «

»Körperlich könnte sie nicht fitter sein. Und psychisch...«

»Ja? «

Er zuckte mit den Schultern. »Sie benimmt sich vollkommen normal. Hin und wieder macht sie sogar einen kleinen Scherz.

Falls sie depressive Phasen hat, dann behält sie das für sich.«

»Sie spricht noch nicht einmal mit Tania darüber, wie es ihr geht? Du hast doch gesagt, die beiden stünden einander sehr nahe? «

»Soweit ich weiß, hat sie sich noch nicht einmal ihr anvertraut.«

»Du fürchtest also, daß sie alles für sich behält? «

»Ganz bestimmt sogar, aber ich kann einfach nichts dagegen tun. Wir müssen eben einfach hoffen, daß sie nicht im falschen Augenblick zusammenbricht.« Er sah Nicholas an. »Aber du hast mein Werk ja noch gar nicht gesehen. Ich denke, es wird dir gefallen.«

»Ich weiß, daß es das wird. Bisher war die Arbeit, die du geleistet hast, immer gut.«

»Aber Tania sagt, daß Nell einfach außergewöhnlich geworden ist. Natürlich gratuliert sie mit dieser Feststellung vor allem sich selbst.« Er öffnete die Tür zum Fitneßraum. »Sie hat mir die Blaupause gemacht.«

Nell war allein in dem höhlenartigen Raum. Da sie an der Sprossenwand an der gegenüberliegenden Wand mit

Klimmzügen beschäftigt war, hatte sie ihnen den Rücken zugewandt. Sie trug weiße Shorts und ein loses Sweatshirt und wirkte größer als in seiner Erinnerung. Nein, nicht größer.

Geschmeidiger, schlanker, kräftiger. Sie hatte sie nicht gehört, und er spürte geradezu die Konzentration, mit der sie sich hochzog und dann wieder sinken ließ.

»Himmel, ist sie immer so angespannt? « fragte Nicholas im Flüsterton.

»Nein, meistens ist sie noch angespannter. Offenbar hat sie heute ihren lockeren Tag.« Joel hob die Stimme. »Nell.«

»Sofort«, rief sie zurück. Sie beendete die Übung und ließ sich weich auf den Boden fallen. Dann drehte sie sich um.

Nicholas rang nach Luft: »Was für eine höllische Blaupause hat Tania dir denn da aufgeschwatzt? « murmelte er.

»Helena von Troja. Unvergeßlich und doch verletzlich.« Er lächelte zufrieden, während er beobachtete, wie Nell sich ihnen näherte. »Ich habe gute Arbeit geleistet, was? «

»Gute Arbeit? Vielleicht hast du mit ihr dein erstes Monster kreiert.«

»Ich glaube nicht, daß es irgendeine nachteilige Auswirkung auf ihre Psyche hatte. Ganz offenbar bedeutet ihr die Veränderung nicht viel. Tania hat gesagt, sie brauchte ein Gesicht, das ihr neue Türen öffnet.«

»Kommt drauf an, was hinter diesen Türen liegt.«

Er trat ihr entgegen. »Hallo, Nell. Sie wirken sehr erholt.«

Nell zog ihr Handtuch aus den Shorts und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich bin erholt. Und ich werde von Tag zu Tag kräftiger.« Sie wandte sich an Joel. »Sie haben mir gar nicht gesagt, daß er kommt.«

»Er will mit Ihnen reden.« Joel lächelte. »Und für heute morgen haben Sie genug getan.« Er machte kehrt und ging zur Tür zurück. »Wir sehen uns dann nach dem Essen.«

»Ich wollte auch mit Ihnen reden«, sagte sie, sobald die Tür hinter Joel ins Schloß gefallen war. »Mr. Kabler war hier.«

»Ich weiß. Joel hat es mir erzählt. Hat er Sie geärgert? «

»Nein, er war sehr höflich. Er hat mir noch nicht einmal besonders viele Fragen gestellt.«

Diese Erklärung überraschte Nicholas. »Nein? Das ist eigenartig. Normalerweise gräbt Kabler wie ein Frettchen, wenn er eine Spur zu haben glaubt.«

»Er schien sich lediglich vergewissern zu wollen, daß ich nicht von Ihnen ermordet worden bin.« Sie machte eine Pause. »Und außerdem wollte er mich vor Ihnen warnen. Er sagte, Sie wären ein Verbrecher und man könnte Ihnen nicht trauen.«

Er zog eine Braue hoch. »Ach ja? «

»Es ist mir egal, ob Sie ein Verbrecher sind, aber es ist mir nicht egal, ob ich Ihnen trauen kann. Tania sagt, wenn Sie einem Ihr Wort geben, halten Sie es auch. Tun Sie das? «

Er lächelte schwach. »Schreiben Sie mir lieber keine fa lschen Tugenden zu. Ich war schon immer der Ansicht, daß man mit Ehrlichkeit besser fährt.«

»Ehrlichkeit? «

»Mit meiner Version von Ehrlichkeit. Ich halte mein Wort und befolge die Regeln des laufenden Spiels. Es ist wichtig, daß jeder der Beteiligten weiß, woran er bei mir ist.«

»Und woran bin ich bei Ihnen? « Sie begegnete seinem Blick.

»Sie sind kein Menschenfreund, und trotzdem haben Sie sich die

Mühe gemacht, mich hierher zu bringen Sie haben sogar versucht, meine Rechnungen zu begleichen. Es würde einen Sinn ergeben, wenn Sie dächten, ich könnte Ihnen von Nutzen sein, aber stattdessen weigern Sie sich, meine Hilfe anzunehmen.«

»Ich brauche Ihre Hilfe nicht.«

»Tja, aber ich brauche Ihre«, sagte sie geradeheraus. »Vielleicht ist brauchen ein zu starkes Wort. Wenn Sie mir nicht helfen, finde ich einen anderen Weg, aber mit Ihrer Hilfe wäre es einfacher.« Sie ballte die Fäuste. »Ich werde mich nicht wie eine Ziege zur Schlachtbank führen lassen, und ich werde Ihnen auch nicht im Weg sein. Wenn Sie mir trotzdem nicht helfen wollen, erzählen Sie mir, was ich wissen muß. Dann erledige ich den Rest.«

Wieder spürte er die gräßliche Anspannung, die von ihr ausging.

»Wissen Sie, mit wie vielen Männern sich Gardeaux für gewöhnlich umgibt? «

»Ich weiß, daß einer von ihnen Maritz ist.«

»Der allein mehr Männer getötet hat, als er selbst noch weiß.

Nein, das nehme ich zurück. Er erinnert sich an jeden einzelnen, denn das Töten macht ihm Spaß. Und dann ist da noch Rivil, der seine eigene Mutter getötet hat, nur weil sie ihm verbieten wollte, einer Jugendgang in Rom beizutreten. Ken Brady betrachtet sich selbst als großartigen Liebhaber.

Unglücklicherweise vögelt er Frauen nicht nur gern, sondern er tut ihnen auch gerne weh. Gardeaux mußte ein ganz schönes Sümmchen berappen, um ihn davor zu bewahren, daß er für lange Zeit hinter Gittern verschwindet, nachdem er seiner letzten Geliebten die Brustwarzen abgeschnitten hat.«

»Versuchen Sie, mich zu schockieren? «

»Verdammt, ich versuche, Ihnen klarzumachen, daß die Sache ein paar Nummern zu groß für Sie ist.«

»Sie machen mir nur klar, daß Sie Gardeaux und seine Männer sehr gut kennen. Und, erzählen Sie mir mehr über sie? «

Er bedachte sie mit einem verzweifelten Blick. »Nein.«

»Dann muss ich es eben alleine tun. Ein paar Dinge über Gardeaux und Bellevigne weiß ich bereits.«

»Kabler? «

»Nein, ich war in der Stadtbücherei und habe mir über Nexus ein paar Artikel zusammengesucht.«

»Darum also haben Sie Phil all die Fragen über Computer gestellt. Er wird enttäuscht sein, wenn er erfährt, daß er von Ihnen nur benutzt worden ist. Er mag Sie.«

»Ich mag ihn auch. Aber ich mußte es wissen.« Sie wandte sich zum Gehen. »Ich muß duschen und mich umziehen. Tania holt mich in einer Stunde ab und nimmt mich dann mit zu Joel.«

Entlassen. Er war ihr nicht länger von Nutzen, also durfte er gehen. Er stellte fest, daß er eine Mischung aus Verärgerung und Belustigung empfand. Aber so leicht ließ ihn niemand stehen.

»Sie ziehen zu Joel? Das hat er mir gar nicht erzählt.«

»Nur für ein paar Tage.«

Und dann würde sie nach Bellevigne fliegen, wo Maritz sie bestimmt schon erwartete. »Können Sie schießen? «

»Nein.«

»Können Sie mit einem Messer umgehen? «

»Nein.«

»Karate? Tae-Kwon-Do? «

»Nein.« Mit blitzenden Augen fuhr sie zu ihm herum.

»Versuchen Sie, mir das Gefühl zu vermitteln, unzulänglich zu sein? Ich weiß, daß ich unzulänglich bin. Als ich mit Maritz gerungen habe, mußte ich eine gottverdammte Lampe nach ihm werfen. Nie zuvor in meinem Leben habe ich mich derart hilflos gefühlt. Als wir auf dem Balkon gekämpft haben, hat er mich ohne Probleme überwältigt und über die Brüstung gehievt. Aber jetzt hätte er schon größere Schwierigkeiten damit. Ich werde täglich kräftiger. Und wenn Stärke allein nicht reicht, dann werde ich eben lernen, was ich lernen muss.«

»Aber nicht von mir«, stellte er grimmig fest.

»Dann finde ich eben jemand anderen.«

»Eigentlich wollte ich nicht sagen, daß Sie sich in eine Art Ein-Frau-Kommando verwandeln sollen. Ich habe lediglich versucht, Ihnen klarzumachen, wie machtlos Sie Gardeaux gegenüber sind.«

»Das haben Sie mir klargemacht. Keine Angst, ich werde Sie nicht noch einmal um etwas bitten.« Abermals wandte sie sich ab, doch dann blieb sie stehen. »Außer um eins. Wissen Sie, wo meine Tochter und mein Mann begraben sind? «

»Ja, ich glaube, die Mutter Ihres Mannes wollte, daß die sterblichen Überreste an seinen Geburtsort in Des Moines, Iowa, zurückgebracht werden.«

»Jill auch? «

»Ja. Sie wirken überrascht.«

»Edna Calder hat Jill nie geliebt. Richard war ihr Leben, und für jemand anderen gab es darin keinen Platz.«

»Noch nicht einmal für Sie? «

»Vor allem nicht für mich.« Sie machte eine Pause. »Wissen Sie, auf welchem Friedhof sie...« Sie brach ab und fing noch einmal an. »Ich will die Gräber sehen. Wissen Sie, wo sie sind?«

»Ich kann es herausfinden«, sagte er. »Aber ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist.«

»Es ist mir egal, was Sie denken«, entgegnete sie

leidenschaftlich. »Das ist allein meine Sache. Ich hatte keine Möglichkeit, mich von ihnen zu verabschieden, und bevor ich irgendetwas anderes mache, muß ich das tun.«

Er musterte sie. »Dann tun wir es.« Er wandte sich ab. »Ziehen Sie sich an. Ich werde die Flüge reservieren und Joel sagen, daß ich Sie morgen früh bei Tania abliefere.«

Sie starrte ihn an. Sein plötzliches Einverständnis brachte sie aus dem Gleichgewicht. »Jetzt sofort? «

»Des Moines ist nur einen Katzensprung von hier entfernt. Sie haben gesagt, Sie müssen die Gräber sehen.«

»Aber Sie brauchen mich nicht zu begleiten.«

»Nein, das brauche ich nicht, nicht wahr? « Er ging den Korridor hinauf. »Ich muß noch ein paar Telefonanrufe erledigen. In einer Stunde hole ich Sie ab.«

Peaceful Gardens, Friedvolle Gärten.

Das verschnörkelte Schild bildete einen Bogen zwischen den steinernen Stützpfeilern links und rechts des Friedhofseingangs.

Warum trat man, wenn man auf einen Friedhof kam, immer unter einem Bogen hindurch? fragte sich Nell. Wahrscheinlich, damit man sich an die perlenbesetzte Pforte erinnerte, durch die man angeblich in den Himmel kam.

»Alles in Ordnung? « fragte Nicholas, während er den Mietwagen durch das Tor lenkte.

»Ja.« Es war eine Lüge. Sie hatte gewußt, daß sie es tun mußte und hatte auf das rechtzeitige Einsetzen einer inneren Taubheit gehofft, die nicht gekommen war. Nun hatte sie das Gefühl, in einem ihrer Alpträume gefangen zu sein. Roh. Gräßlich.

Unentrinnbar.

Er brachte den Wagen neben dem Pförtnerhäuschen zum Stehen.

»Warten Sie hier. Ich bin sofort zurück.«

Er würde fragen, wo die Gräber lagen. Jill.

Er kam zum Wagen zurück. »Gleich hinter dem Hü gel.«

Ein paar Minuten später führte er sie zwischen den Grabreihen hindurch, und vor einem Bronzestein blieb er stehen. »Hier.«

Jill Meredith Calder.

Auf, auf, auf , in den blauen Himmel hinauf...

Tanek griff nach Nells Ellbogen, als sie zu schwanken begann.

»Verdammt, sie ist nicht hier«, sagte er mit zorniger Stimme.

»Sie ist in Ihrem Herzen und Ihrer Erinnerung. Das ist Ihre Jill.

Sie ist nicht hier.«

»Ich weiß.« Sie schluckte. »Sie können mich loslassen. Ich falle nicht um.«

Sie straffte die Schultern und ging ein paar Schritte, bis sie vor einem größeren, reicher verzierten Grabstein stand.

Richard Andrew Calder.

Geliebter Sohn von Edna Calder.

Keine Erwähnung von Nell oder Jill. Im Tod hatte Edna ihren Sohn zurückgefordert. Obwohl er für sie niemals wirklich verloren gewesen war. Er hatte niemals wirklich zu Nell gehört.

Auf Wiedersehen, Richard.

»Ganz schön viele Blumen«, stellte Nicholas fest.

Richards Grab war mit Bouquets aus allen nur erdenklichen Blumen überhäuft. Frischen Bouquets. Ihr Blick wanderte zu Jills Grab zurück. Nichts.

Zur Hölle mit dir, Edna.

Nicholas sah sie an. »Sie scheint keine besonders liebevolle Großmutter gewesen zu sein.«

»Sie war nicht ihre Großmutter.« Sie überließe dieser Hexe keinen Anspruch an Jill. »Jill war nicht Richards Tochter.«

Sie wandte sich ab und ging davon.

Auf Wiedersehen, Jill. Es tut mir leid, daß ich ihr diese Aufgabe überlassen mußte, Baby. Es tut mir alles leid. Himmel, es tut mir so leid...

»Ich will, daß sie jede Woche frische Blumen auf ihr Grab bekommt«, sagte sie vehement. »Viele Blumen. Werden Sie dafür sorgen, Tanek? «

»Ja.«

»Ich habe im Augenblick nicht viel Geld. Ich muß den Anwalt meiner Mutter kontaktieren und sehen, ob ich...«

»Seien Sie still«, sagte er rauh. »Ich habe ja gesagt.«

Seine Rauheit war tröstlicher als jede Höflichkeit. Tanek gegenüber mußte sie sich nicht verstellen. Sie bezweifelte, daß er sich überhaupt jemals von ihr täuschen ließ. »Ich will fort von hier. Gibt es heute abend noch einen Flug zurück? «

»Ich habe schon zwei Plätze bestellt.«

»Ich dachte, Sie hätten gesagt, wir fliegen erst morgen früh zurück? «

»Nicht, wenn es mir gelingen sollte, Sie früher von hier fortzubringen. Abschiede machen einen fertig. Deshalb verabschiede ich mich nicht mehr. Ich wußte, daß dieser Besuch ein Fehler war.«

»Sie irren sich. Ich mußte es tun.«

Langsam wich die Verärgerung aus seinem Gesicht.

»Vielleicht«, sagte er erschöpft und öffnete die Autotür. »Was weiß ich? «

Sie erreichten Minneapolis nach Mitternacht und wurden vor dem Flughafen abgeho lt.

»Jamie Reardon, Nell Calder«, sagte Nicholas. »Danke, daß du uns abholen konntest.«

»Es war mir ein Vergnügen.« Sein überraschter Blick haftete an Nells Gesicht. »Ah, Sie sind eine echte Schönheit, nicht wahr? «

Sein irischer Akzent war ebenso beruhige

nd wie sein

zerklüftetes Gesicht. Sie lächelte. »Keine echte Schönheit. Wohl eher Joel Liebers Kreation.«

»Trotzdem.« Er lief neben ihnen her. »Wenn Sie in meinen Pub kämen, würden die Jungs sicher zahllose Gedichte auf Sie verfassen.«

»Gedichte? Ich dachte, Poesie wäre eine verlorene Kunst.«

»Nicht für die Iren. Sie brauchen uns nur ein bißchen zu inspirieren, und schon kreieren wir Gedichte, die einem zu Herzen gehen.« An Nicholas gewandt sagte er: »Ich habe einen Anruf von unserem Mann in London erhalten. Vielleicht hat er was für uns. Er sagt, daß du dich bei ihm melden sollst.«

»Wird gemacht« Nicholas trat auf den Parkplatz hinaus. »Aber erst setzen wir Nell bei Joel Lieber ab.«

»Heute abend nicht mehr«, sagte Nell. »Es ist zu spät, und sie rechnen nicht vor morgen früh mit mir. Ich gehe in ein Hotel.«

Er nickte. »Wir besorgen Ihnen ein Zimmer in unserem Hotel.«

»Egal.« London. Wahrscheinlich sollte sie Tanek nach dem Tele fonanruf fragen. Nein, sie war zu erschöpft, und außerdem wäre er bestimmt sowieso zu keiner Auskunft bereit. Inzwischen hatte die Taubheit von ihr Besitz ergriffen, aber nun war es zu spät. »Ihr Hotel ist in Ordnung. Vielen Dank.« Jamie öffnete schwungvoll die Wagentür. »Sie sehen ein bißchen müde aus.

Aber keine Angst, in einer Stunde liegen Sie gemütlich in Ihrem Bett.«

»Ich bin wirklich müde.« Sie lächelte angestrengt. »Danke, daß Sie uns zu so später Stunde noch abgeholt haben, Mr. Reardon.«

»Jamie«, verbesserte er. »Kein Problem. Ich hole Nicholas ab, so oft es mir möglich ist. Er mag keine Taxis. Man weiß schließlich nie, wer hinter dem Steuer sitzt.«

Ein kalter Schauder rann Nells Rücken hinab. Wie mußte es sein, in einer Welt zu leben, in der einem jeder Mensch verdächtig war? »Ich verstehe.«

Nicholas sah sie an. »Nein, Sie verstehen nicht. Sie haben nicht die geringste Ahnung, wie es ist.«

Seine Worte enthielten eine solche nur mühsam gezügelte Wildheit, daß sie überrascht zusammenfuhr. Nur kein Streit.

Einen Konflikt ertrüge sie im Augenblick einfach nicht. Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und klappte die Augen zu.

»Falls es Ihnen nichts ausmacht, unterhalte ich mich im Augenblick lieber nicht.«

»Wie höflich Sie doch sind. Gardeaux hat ebenfalls hervorragende Manieren. Zweifellos wird er selbst dann noch die passenden Worte wählen, wenn er Maritz befiehlt, Ihnen an die Gurgel zu gehen.«

»Nick, sie sieht nicht gerade so aus, als ob sie...«, setzte Jamie an. »Meinst du nicht, daß das noch warten kann? «

»Nein«, erwiderte Nicholas barsch.

Sie war ein Feigling. Sie zwang sich, ihn anzusehen. »Sagen Sie nur alles, was Ihnen auf dem Herzen liegt.«

Er musterte sie kühl. »Später.« Dann wandte er sich ab und blickte zum Fenster hinaus.

Nicholas besorgte ihr ein Zimmer, das drei Türen neben seiner und Jamies Suite gelegen war.

Nachdem Jamie seine Tür aufgeschlossen hatte, wandte er sich mit einem Lächeln um. »Schlafen Sie gut. Was mir

unglücklicherweise wohl kaum passieren wird. Ich werde die Reime des Gedichts erproben, das ich Ihnen morgen früh vor die Füße legen will.«

»Lassen Sie sich von ihm nicht blenden«, sagte Nicholas und schob sie den Flur hinab. »In spätestens zehn Minuten schläft er wie ein Murmeltier.«

»Er hat einfach keine Seele«, seufzte Jamie und öffnete die Tür.

»Das kommt davon, daß er mit Schafen und anderen rauhen Geschöpfen zusammenlebt.«

Nell lächelte. »Gute Nacht, Jamie.«

Nicholas schloss die Tür zu ihrem Zimmer auf und trat vor ihr ein. Er machte Licht und drehte am Thermostat der Heizung herum. »Haben Sie etwas gegessen, bevor wir heute mittag aufgebrochen sind? «

»Nein.«

Er ging zum Telefon und gab eine Nummer ein. »Gemüsebrühe.

Milch. Obst.« Er sah sie an. »Sonst noch was? «

»Ich habe keinen Hunger.«

»Das ist alles.« Mit einem leicht verzerrten Lächeln hängte er den Hörer ein. »Aber Sie werden alles aufessen. Denn wenn Sie nicht anständig essen, verlieren Sie Kraft. Und Kraft ist doch Ihre neue Religion, nicht wahr? «

»Ich werde essen. Gehen Sie jetzt? «

»Wenn der Zimmerservice dagewesen ist.«

Sie lächelte schwach. »Man weiß schließlich nie, wer den Servierwagen schiebt.«

Er antwortete nicht, und sie sah sich in dem großen, luftigen Zimmer um. Grauer Teppich, eine elegante, golden gestreifte Couch, goldene Damastvorhänge vor der Flügeltür zum Balkon.

Balkon.

Sie hörte, wie Nicholas zischend einatmete. »Ich habe vergessen, daß alle Räume auf dieser Seite mit Balkonen ausgestattet sind. Wollen Sie, daß ich Ihnen ein anderes Zimmer besorge? «

O Gott, nach dem Tag, den sie hinter sich gebracht hatte, war sie einfach nicht bereit für eine weitere Erprobung ihrer nervlichen Belastbarkeit. Am liebsten hätte sie sich schluchzend unter dem Bett versteckt. Aber sie konnte sich nicht verstecken. Mit dem Versteckspiel war es ein für alle Male vorbei. »Nein, natürlich nicht.« Sie holte Luft und trat an die gläserne Tür. »Kann man die aufmachen? «

»Ja.«

»Ich war schon oft in Hotels, in denen die Türen abgeschlossen waren. Ich nehme an, auf diese Weise sollten Unfälle vermieden werden, aber Richard war immer vollkommen außer sich.« Sie

sprach schnell, sprach irgendetwas, um nicht daran zu denken, was sie hinter dieser Tür erwartete. »Er hat die Aussicht, die einem ein Balkon bietet, geliebt. Er sagte, wenn er von einem Balkon runtersähe, bekäme er jedesmal ein regelrechtes Hochgefühl.«

»Wahrscheinlich hat er dabei an Peron oder Mussolini gedacht, wie sie dem Pöbel winken, der sich zu ihren Füßen versammelt hat.«

»Das ist nicht nett.«

»Ich habe auch nicht das Bedürfnis, nett zu sein. Verdammt, bleiben Sie...«

Sie öffnete die Tür, und kalter Wind blies ihr ins Gesicht. Nicht wie auf Medas, sagte sie sich. Dieser Balkon war winzig und zweckmäßig, sonst nichts. Auch der Blick hielt dem von Medas nicht stand. Man sah weder Felsen noch eine wogende Brandung unter sich. Sie trat dicht an das hohe Geländer und blickte auf die Lichter und die Autos, die sich tief unter ihr wie Glühwürmchen über die Straßen bewegten, hinab.

Zwei Minuten. Sie gäbe sich zwei Minuten, und dann dürfte sie wieder in das Zimmer zurück.

Die Spieluhr klimperte...

Ab, ab, ab...

»Es reicht.« Er packte ihren Arm und zerrte sie in das Zimmer zurück. Dann warf er die Tür ins Schloß und drehte den Schlüssel um.

Sie atmete zitternd ein und mußte einen Augenblick warten, um ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen. »Wie gewalttätig Sie doch manchmal sind. Dachten Sie etwa, ich wollte springen? «

»Nein, ich denke, Sie haben sich selbst auf die Probe gestellt, um zu sehen, ob Sie in der Lage sind, den Schmerz durchzustehen. Sie mußten sich beweisen, wie stark Sie sind.

Hat der Besuch des Grabes Ihrer Tochter nicht gereicht? Warum halten Sie nicht einfach die Hand in eine offene Flamme und warten ab, was passiert? «

Sie lächelte angestrengt. »Ich habe leider keine Flamme da.«

»Das ist nicht lustig.«

»Nein.« Sie kreuzte die Arme vor der Brust, damit er ihr Zittern nicht sah. »Ich habe mich nicht auf die Probe gestellt. Sie verstehen mich nicht.«

»Dann erklären Sie es mir.«

»Ich hatte Angst. Ich war noch nie besonders mutig. Aber ich kann es mir nicht mehr leisten, ängstlich zu sein. Der einzige Weg, um seine Angst zu überwinden, ist, der Sache, die man fürchtet, ins Auge zu sehen.«

»Haben Sie deshalb die Gräber besucht? «

»Nein, das war etwas anderes.«

Tut mir leid, Jill. Verzeih mir, Baby.

Panik wallte in ihr auf, und sie hatte das Gefühl, als löse sie sich langsam, aber sicher auf. Sie wandte ihm den Rücken zu und sagte eilig: »Ich will, daß Sie jetzt gehen. Ich habe keine Angst vor dem armen Kerl, der den Zimmerservice macht, und ich verspreche Ihnen, ich gehe nicht noch mal auf den Balkon hinaus.«

Er legte seine Hände auf ihre Schultern, und obgleich sie erstarrte, drehte er sie zu sich um. »Ich gehe nicht.«

Sie starrte blind auf seine Brust. »Bitte«, flüsterte sie.

»Schon gut.« Er zog sie in seine Arme. »Sie haben das Gefühl, als wären Sie aus Glas gemacht. Lassen Sie sich gehen. Ich bin nicht wichtig. Ich bin einfach da.«

Sie stand stocksteif da und starrte blind geradeaus.

Auf, auf, auf...

Langsam sank ihr Kopf an seine Brust, und er legte seine Arme enger um sie. Wie er gesagt hatte, war er einfach da. Und statt Intimität gab er ihr Nähe. Leben. Trost.

Sie lehnte lange Zeit an seiner Brust, doch dann zwang sie sich, einen Schritt zurückzugehen. »Ich wollte mich Ihnen nicht aufdrängen. Bitte entschuldigen Sie.«

Er lächelte. »Schon wieder dieses vorzügliche Benehmen. Das war eins der ersten Dinge, die mir an Ihnen aufgefallen sind.

Haben Sie das von Ihrer Mutter gelernt? «

»Nein, meine Mutter war Professorin für Mathematik und hatte viel zuviel zu tun. Eigentlich bin ich bei meiner Großmutter aufgewachsen.«

»Und die starb, als Sie dreizehn waren? «

Sie war überrascht, doch dann erinnerte sie sich an die Akte, von der zuvor einmal die Rede gewesen war. »Sie haben ein gutes Gedächtnis. Dieser Bericht über mich muß ziemlich vollständig gewesen sein.«

»Aber er enthielt nichts darüber, daß Jill nicht Calders Tochter war.«

Sie spannte sich automatisch an, doch dann fiel ihr ein, daß es nicht länger von Bedeutung war. Es gab keine Jill mehr, die es zu schützen, keine Eltern mehr, denen es zu gefallen galt.

Warum also erzählte sie es ihm nicht ? Alles andere wußte er ja bereits. »Nein, das denke ich mir. Meine Eltern haben diese Tatsache geschickt kaschiert. Sie wollten, daß ich eine Abtreibung vornehmen lasse, und als ich mich weigerte, haben sie sich die größte Mühe gegeben, um der ganzen Sache einen legitimen Anstrich zu verleihen.«

»Wer war der Vater? «

»Bill Wazinski, ein Kunststudent, dem ich während meiner Zeit auf dem William & Mary-College begegnete.«

»Haben Sie ihn geliebt? «

Hatte sie ihn geliebt? »Damals habe ich mir eingeredet, daß ich ihn liebe. Auf jeden Fall habe ich große Lust empfunden mit ihm.« Sie schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht. Wir haben beide das Leben und Sex und all die wunderbaren Bilder geliebt, von denen wir sicher waren, daß sie einst als Meisterwerke gelten würden. Es war das erste Mal, daß ich nicht zu Hause bei meinen Eltern lebte, und die neue Freiheit hat mich geradezu berauscht.«

»Und dieser Wazinski war nicht bereit, die Verantwortung für das Kind zu übernehmen? «

»Ich habe ihm gar nicht gesagt, daß ic h schwanger war. Es war meine Schuld. Ich hatte ihm erzählt, ich nähme die Pille. Sein Vater war Bergmann in West Virginia, und er konnte das College nur besuchen, weil ihm ein Stipendium bewilligt worden war. Warum hätte ich unser beider Leben kaputtmache n sollen? Sobald ich merkte, daß ich schwanger war, ging ich zu meinen Eltern zurück.«

»Eine Abtreibung wäre bestimmt einfacher gewesen.«

»Ich wollte nicht. Ich wollte das College zu Ende machen und arbeiten gehen.« Verbittert fügte sie hinzu: »Aber meine Eltern sahen das anders als ich. Eine ledige Mutter war eine Peinlichkeit, mit der sie nicht leben konnten.«

»In unserer Zeit? «

»Oh, sie haben sich immer eingebildet, Freidenker zu sein. Aber das wichtigste für sie war, daß immer alles nach Plan verlief.

Kinder brauchten eine geordnete Familienstruktur. Das Leben mußte immer zivilisiert und wohlgeordnet verlaufen, und ich hatte mich nicht ordnungsgemäß verhalten, indem ich schwanger zu ihnen gekommen war. Ich hätte entweder eine Abtreibung machen lassen sollen oder aber den Vater meines Babys heiraten.«

»Aber Jill kam erst im Jahr nach Ihrer Rückkehr nach Greenbriar auf die Welt.«

»Sieben Monate. Wie gesagt, meine Eltern haben meinen

Fehltritt geschickt kaschiert. Zwei Monate nach meiner Rückkehr vom College habe ich Richard geheiratet. Er war der Assistent meines Vaters, und er wußte, daß ich schwanger war.«

Sie lächelte ohne jeden Humor. »Es blieb nicht aus, daß er es erfuhr. Ich habe ein Riesentheater veranstaltet, und meine Eltern waren es nicht gewohnt, daß ich mich ihnen in irgendeiner Sache widersetze. Er hat dann den rettenden Vorschlag gemacht.

Ich könnte das Baby behalten, und er würde mich heiraten und ginge mit mir fort.«

»Und was hat er als Gegenleistung bekommen? «

»Nichts.« Sie begegnete seinem Blick. »Richard war nicht der berechnende Emporkömmling, als den Sie ihn offenbar sehen.

Ich war verzweifelt, und er bot mir seine Hilfe an. Für ihn kam nichts dabei heraus als das Kind eines anderen Mannes und eine Frau, die manchmal peinlich für ihn war. Ich hatte den passenden familiären Hintergrund, aber mein Temperament entsprach sicher nicht den Anforderungen, die man an die Frau eines leitenden Angestellten stellt.«

»An dem Abend, als ich Ihnen zum ersten Mal begegnet bin, haben Sie sich doch durcha us geschickt angestellt.«

»Unsinn«, widersprach sie ihm voller Ungeduld. »Selbst ein Blinder hätte gesehen, daß ich furchtbar schüchtern und in dieser Gesellschaft so gut aufgehoben wie Godzilla war. Tun Sie doch nicht so, als wüßten Sie das nicht mehr.«

Er lächelte. »Ich erinnere mich nur noch an eine sehr nette Frau.« Er machte eine Pause. »Und das faszinierendste Lächeln, das mir je vor die Augen gekommen ist.«

Sie sah ihn verwundert an.

»Zimmerservice.« Er wandte sich ab und ging zur Tür.

Der Zimmerservice kam in Gestalt einer Frau mittleren Alters lateinamerikanischer Abstammung, die mit einem Tablett hereinmarschiert kam, dieses auf den Tisch neben der Flügeltür stellte und lächelnd darauf wartete, daß Nell den Bestellzettel unterschrieb.

»Nicht allzu furchteinflößend«, stellte Nell trocken fest, nachdem die Frau wieder gegangen war.

»Das weiß man nie.« Nicholas ging zur Tür. »Schließen Sie ab, und machen Sie außer Jamie oder mir niemandem auf. Ich hole Sie um neun Uhr ab.«

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.

Sein plötzlicher Abgang überraschte sie ebenso wie alles andere, was er an diesem Tag getan hatte.

»Schließen Sie ab«, sagte Nicholas durch die Tür.

Mit einer Spur von Verärgerung ging sie durch den Raum und schob den Riegel vor.

»Gut.«

Er war nicht mehr da. Sie hörte zwar nicht, daß er ging, aber ebensowenig spürte sie, daß er noch in der Nähe war. Um so besser, daß er sie endlich alleine ließ, sagte sie sich. Sie hatte nicht gewollt, daß er sie heute begleitete. Sie hatte sehen wollen, ob sie das Grauen alleine ertrug.

Und auf gar keinen Fall hatte sie vorgehabt, sich ihm anzuvertrauen. Hätte er ihr auch nur das geringste Mitleid entgegengebracht, hätte sie ihn sofort zurückgewiesen, doch stattdessen hatte er sich so unpersönlich und unverwüstlich wie ein Kissen gezeigt. Ein dynamischer Mann wie Nicholas sähe den Vergleich mit einem Kissen bestimmt nicht als

Kompliment, dachte sie. Ach, vielleicht war es gar nicht so schlecht, daß das lange Schweigen über ihre Tochter endlich gebrochen war. Als die Worte aus ihr herausgebrochen waren, hatte sie das Gefühl gehabt, als träte sie aus der Dunkelheit in den Sonnenschein hinaus. Sie hatte keine Scham empfunden.

Kein Bedürfnis nach Heimlichkeit. Nur Erleichterung.

Sie kehrte an den Tisch zurück. Sie hatte keinen Hunger, aber trotzdem äße sie. Dann würde sie duschen, und anschließend ginge sie ins Bett. Vielleicht schliefe sie, erschöpft wie sie war, ja umgehend ein. Vielleicht träumte sie noch nicht einmal.

Entschlossen setzte sie sich, das Gesicht dem Balkon zugewandt, an den Tisch und tauchte den Löffel in die Suppe ein.