12. Kapitel

Jamie beobachtete, wie Nell den Fitnessraum verließ. »Sie ist gut.«

»Sie wird es schaffen.« Tanek wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß aus dem Gesicht.

Jamie grinste. »Aggressiv wie der Teufel. Einmal hätte Sie dich fast zu Fall gebracht.«

»Wie gesagt, sie wird es schaffen.«

»Es war interessant, dir zuzusehen. Wenn du sonst auf einer Frau liegst, dann tust du das nicht aus...«

»Hast du was rausgefunden? «

Jamie schüttelte den Kopf. »Ich habe ein paar Hinweise, aber die meisten Spuren hat er verwischt. Es wird noch ein bisschen dauern.« Er machte eine Pause. »Aber ich habe etwas, was dich vielleicht interessiert. Ich habe Phil angerufen, um zu fragen, ob alles in Ordnung ist, und er sagte, vor ein paar Wochen hätte er in der Zeitung gelesen, dass John Birnbaum verschwunden ist.«

Birnbaum. Tanek brauchte eine Minute, bis er wusste, von wem die Rede war. Der Leiter des Bestattungsinstituts, den er bestochen hatte, damit er ihm einen falschen Totenschein mit Nells Namen gab. »Irgendein Zusammenhang? «

»Von außen betrachtet, nein. Es gibt kein Anzeichen dafür, dass unser Gegner dahintersteckt. Im Safe fehlte ein größerer

Geldbetrag, aber er wurde von jemandem geöffnet, der die Zahlenkombination gekannt haben muss. Und Birnbaums Wagen ist ebenfalls verschwunden. Offenbar hat Birnbaum gerade eine ziemlich hässliche Scheidung hinter sich, so dass er vielleicht einfach vor den Unterhaltsverpflichtungen abgehauen ist.« Er machte eine Pause. »Aber sein Sohn meinte, dass einer der Kiefernholzsärge, die zur Einäscherung benutzt werden, verschwunden ist.«

»Einäscherung. Gardeaux hat schon immer einen ausgesprochenen Hang zur Ordnung gehabt.«

»Und in Minnesota gibt es genügend Seen, in denen man problemlos ein Auto versenken kann.« Jamie zuckte mit den Schultern. »Natürlich sind das alles Hypothesen, und vielleicht stimmt ja einfach die Theorie, dass Birnbaum abgehauen ist.«

»Vielleicht aber auch nicht. Aus Sicherheitsgründen sollten wir davon ausgehen, dass Gardeaux oder Maritz dahintersteckt und dass Birnbaum alles gestanden hat. Hast du Phil gesagt, dass er Tania und Joel nicht aus den Augen lassen soll? «

»Unnötig. Das macht er auch so. Schließlich ist er kein Vollidiot. Er sagt, ihm wäre nichts Besonderes aufgefallen, aber Tania hätte vor ein paar Wochen einmal erwähnt, sie hätte das Gefühl, als würde sie von irgendjemandem verfolgt. Seitdem hat sie allerdings nichts mehr gesagt.«

»Schlecht.«

»Das sehe ich anders. In diesem Fall ist es wohl besser, wenn es keine Neuigkeiten gibt.«

»Das Haus wurde nicht durchsucht? «

Jamie schüttelte den Kopf. »Und sie haben ein ausgezeichnetes Alarmsystem.«

»Trotzdem gefällt mir die ganze Sache nicht.«

»Du kannst sie ja wohl nicht mit bewaffneten Leibwächtern umgeben, nur, weil etwas passieren könnte.«

»Ich habe Joel versprochen, ihn zu beschützen, wenn er mir hilft. Ich habe schon auf Medas einen Fehler gemacht, und das passiert mir kein zweites Mal.« Er dachte nach. »Warum rufst du nicht Phil an und bittest ihn, sich bei uns zu melden, falls irgendetwas...«

»Habe ich schon gemacht.«

»Natürlich hast du das.« Er verzog das Gesicht. »Tut mir leid.«

»Und ich kehre nach Minneapolis zurück, sobald du mir gestattest, diese Wildnis wieder zu verlassen und meine beachtliche Intelligenz in den Dienst der guten Sache zu stellen, damit wir endlich herausfinden, ob unsere Befürchtungen begründet sind oder nicht.«

Soviel zu Abgrenzung und Distanz. Nun, Nicholas hatte es versucht. Es schien Schicksal zu sein. Mist, sagte er sich. Er hatte nur nach einer Entschuldigung gesucht, und hier bot sie sich. »Drei Tage. Bring ihr in der Zeit soviel wie möglich bei.

Sie soll nicht merken, dass etwas nicht in Ordnung ist, denn sonst nimmt sie bestimmt den nächsten Flug nach Minneapolis zurück.«

Jamie nickte. »In der Zeit kann ich ihr zumindest die Grundlagen beibringen. Der Rest ist sowieso nur Übung.« Er seufzte erleichtert auf. »Ich gebe zu, dass ich froh bin, dass ich nicht länger hier bleiben muss. Hier ist alles zu groß, und die Stille ist mir unheimlich.«

»Woher willst du das denn wissen? Seit du angekommen bist, hast du schließlich unaufhörlich irgendwelchen Lärm gemacht.«

»Deine Undankbarkeit trifft mich zutiefst.« Er wandte sich zum Gehen. »Ich gehe wieder zu Nell. Sie weiß es wenigstens zu schätzen, dass ich gekommen bin.«

Nell verzog das Gesicht. »Schon wieder daneben.«

»Aber Sie haben jedes Mal die Scheibe getroffen«, sagte Jamie zu ihr. »Der Rest kommt mit der Zeit.«

»Wann? «

»Sie sind einfach zu ungeduldig. Sie können wohl kaum erwarten, dass nach nur einem Tag Training jeder Schuss sofort ins Schwarze trifft.« Er trat vor und rückte die Scheibe auf dem Zaun zurecht. »Sie haben einen guten Blick und eine ruhige Hand. Nutzen Sie sie. Konzentrieren Sie sich.«

Sie runzelte die Stirn. »Ich konzentriere mich.«

Er grinste. »Dann konzentrieren Sie sich weniger. Vielleicht wollen Sie es einfach zu sehr.«

Das war möglich. Sie wollte es mehr als alles andere. Ihr Griff um den Damencolt, den Jamie ihr gegeben hatte, verstärkte sich.

»Man sollte meinen, dass ich es allmählich begriffen hätte.«

»Nicht jeder ist der geborene Schütze, und ein Mann ist ein größeres Ziel als das Schwarze einer Scheibe. Wenn Sie lernen, aus jeder Position schnell auf die Scheibe zu zielen, reicht das vollkommen aus.«

»Ich will nicht mittelmäßig sein, sondern gut.«

»Wohl eher perfekt.«

Lächelnd nickte sie. »Ja, perfekt.«

»Und Sie werden trainieren, bis Sie es sind.« Er seufzte. »Gott bewahre mich vor den Besessenen.« Er nahm ihr die Waffe ab.

»Kommen Sie. Wir machen eine Pause und trinken einen Kaffee.«

»Ich bin noch nicht müde.«

»Aber ich.« Er nahm ihren Arm und führte sie entschlossen über den Hof. »Die frische Luft hier ist eindeutig zu viel für mich.

Kein Wunder, dass der liebe Gott die Pubs erfunden hat.«

»Ich dachte, das hätte der Mensch getan.«

»Das ist ein weit verbreiteter Irrglaube. Nein, ich bin sicher, dass Gott die Pubs geschaffen hat.« Er winkte in Richtung der Ebene und der Berge im Hintergrund. »Nachdem er diese Wildnis verlassen hat.«

»Wenn Sie Ihren Pub so vermissen, warum sind Sie dann immer noch hier? «

»Weil Nick mich gerufen hat.« Er zuckte mit den Schultern.

»Und ich bin selbst ein Besessener. Terence war ein sehr guter Freund von mir.«

»Terence O'Malley? «

»Nick hat Ihnen von ihm erzählt? «

»Er hat mir erzählt, dass Gardeaux ihn getötet hat. Waren die beiden ebenfalls befreundet? «

»Terence war fast so etwas wie ein Vater für Nick. Er hat ihn aus der Gosse geholt. Nick war ein ungebildeter kleiner Wilder, der ständig ums Überleben kämpfte, aber Terence mochte ihn.

Er nahm ihn zu sich, päppelte ihn auf und unterrichtete ihn. Was nicht allzu schwierig war. Nick war wissbegierig. Er wollte alles lernen, was man ihm bot. Innerhalb kürzester Zeit hatte er Terence überholt, ging los und nahm sich mehr. Er machte Karriere und zog Terence dabei mit.« Er nickte. »Ebenso wie meine bescheidene Wenigkeit.«

»Und was für eine Karriere hat er gemacht? «

»Aus der Gosse heraus, und zwar auf die einzig mögliche Art.«

»Durch kriminelle Handlungen? «

»Etwas anderes kannten wir nicht. Terence und ich waren kleine Fische, wir haben ein bisschen Schmuggel betrieben und hier und da mal was geklaut, aber Nick... Ah, Nick war ein echter Künstler. Er wusste immer, was er wollte und wie er es bekam.«

»Und was wollte er.«

»Raus. Mit genug Geld, um sicher zu sein, dass er nie wieder dort landen würde, wo er hergekommen war.«

»Was ihm offenbar gelungen ist.«

Jamie nickte. »Und zugleich versuchte er, uns dasselbe zu ermöglichen. Ich nahm, was er mir gab, und eröffnete meinen Pub, aber Terence war nicht der Typ, der sich ruhig irgendwo niederließ. Er war einfach zu lange dabei gewesen. Er mochte die Aufregung, die ihm sein Leben bot. Als Nick die Ranch kaufte, hat sich Terence wieder auf die Socken gemacht.«

»Und? «

»Dabei trat er Gardeaux auf die Füße.« Er presste die Lippen zusammen. »Er kam erst zu Nick zurück, als er bereits im Sterben lag.«

»Was war passiert? «

»Gardeaux ha tte an ihm ein Exempel statuiert.« Er öffnete die Haustür und trat zurück. »Er hatte die Degenspitze seines Fechters mit einer winzigen Menge einer Colona-Kultur präpariert, was in siebenundneunzig Prozent aller Fälle tödlich ist, und zwar auf eine unvorstellbar grausame Art. Und Nick stand da und musste hilflos mit ansehen, wie Terence starb.«

»Colona? Davon habe ich noch nie etwas gehört.«

»Es kommt vom Amazonas. Seit sie angefangen haben, den Regenwald abzuholzen, sind dort alle möglichen neuen Krankheiten aufgetaucht. Das Zeug wird nur durch Blut übertragen, so dass es nicht ansteckend ist, aber wenn man es einmal hat, dann treten ganz ähnliche Symptome wie beim Ebola-Virus auf.«

Sie erschauderte. Sie hatte in der Zeitung von dieser Krankheit gelesen, die im wahrsten Sinne des Wortes die Organe ihres Opfers fraß. »Ja.«

»Das Kartell verfügt über einen Vorrat dieser Viren, um Leute zu beseitigen, die ihnen lästig sind. Und die Drohung hat bisher noch immer funktioniert. Gardeaux erhält regelmäßig Lieferunge n von dem Zeug.«

»Teuflisch.«

»Allerdings. Lassen Sie sich also gewarnt sein.« Er sah sie an.

»Denken Sie etwa, wenn Gardeaux ein leichter Gegner wäre, ginge Nick die Sache so vorsichtig an? «

Nein. Es musste furchtbar schmerzlich gewesen sein zuzusehen, wie der Freund langsam und qualvoll zu Grunde gegangen war.

»Ich bin immer noch hier, oder vielleicht nicht? Also übe ich mich ja wohl offensichtlich in Geduld.«

»Außer wenn Sie nicht ins Schwarze treffen.«

Sie lächelte. »Genau.«

»Ich dachte, er bliebe länger hier.« Nell beobachtete enttäuscht, wie der von Michaela gelenkte Jeep mit Jamie auf dem Beifahrersitz auf die Straße fuhr. »Ich habe noch nicht genug gelernt.«

»Er hat noch andere Dinge zu tun. Und er meinte, Sie wären gut genug, um selbst weiterzumachen«, sagte Nicholas. »Außerdem ist es hier für seinen Geschmack zu unkultiviert.«

»Es ist nicht unkultiviert.« Sie sah zu den Bergen auf. »Es ist einfach.«

»Allerdings.« Er sah dem Jeep hinterher, der sich dem ersten Tor näherte. »Gefällt es Ihnen hier? «

Darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. Bisher war dies für sie lediglich der Ort gewesen, in der sie ihre Arbeit machte, aber unmerklich hatte sie sich an den Frieden und die Behaglichkeit der Umgebung gewöhnt. Sie fühlte sich zu Hause hier. »Ja. Man hat das Gefühl, dass hier alles irgendwie... verwurzelt ist.«

»Darum habe ich die Ranch auch gekauft.« Er schwieg einen Augenblick, und dann machte er plötzlich kehrt. »Ziehen Sie Jeans und eine warme Jacke an, und kommen Sie dann in den Stall.«

Sie starrte ihn verwundert an. »Warum? «

»Können Sie reiten? «

»Ich habe schon mal auf einem Pferd gesessen, aber ein Cowgirl bin ich wohl kaum.«

»Das brauchen Sie auch nicht zu sein. Schließlich sollen Sie nicht irgendwelche Stiere mit dem Lasso einfangen. Wir reiten nur ins Tafelland am Fuß der Hügel und besuchen Peter und Jean. Ich denke, dass sie inzwischen mit der Herde so weit runtergekommen sind.«

»Aber warum besuchen wir sie? «

»Weil ich es will.« Mit einem Mal wurde sein Mund von einem fröhlichen Lächeln umspielt. »Ich habe beschlossen, endlich damit aufzuhören, immer nur langweilig und pflichtbewusst zu sein, und stattdessen zu tun, was mir gefällt. Wollen Sie nicht sehen, wie sich Peter als Schafhirte macht? «

»Doch, aber ich - wie lange wird es dauern? «

»Am späten Nachmittag werden wir an der Stelle sein, an der sie normalerweise ihr Lager aufschlagen. Wir werden mit ihnen bei der Herde übernachten, und morgen früh reiten wir dann zurück.« Sein Lächeln verriet unverhohlenen Spott. »Früh genug, damit Sie mit Ihrem neuen Spielzeug weiterüben können.«

»Ich könnte die Waffe mitnehmen.«

»O nein. Dazu sind Sie noch nicht gut genug. Sie könnten ein Schaf treffen oder einen Hund.«

»Dann sollte ich vielleicht hier bleiben und...«

»Um Gottes willen, wollen Sie nun mit oder nicht? « fragte er entnervt.

Sie wollte mit. Sie wollte Jean Etchbarras kennen lernen und Peter wieder sehen. Eine kurze Pause wäre sicher nicht schlimm.

Wenn sie zurückkäme, würde sie einfach doppelt so hart an sich arbeiten wie bisher. Sie ging die Treppe hinauf. »Warten Sie auf mich.«

Jean Etchbarras war höchstens einen Meter siebzig groß, untersetzt, muskulös, und sein faltiges, rundes Gesicht wurde von einem humorvollen Lächeln erhellt. Hätte sie nicht genau gewusst, dass er der Mann der Haushälterin war, dann hätte Nell ihn mit der statuenhaften Michaela ebenso wenig in Verbindung gebracht wie mit Cleopatra.

»Freut mich, Sie kennen zu lernen.« Er strahlte über das ganze Gesicht. »Meine Michaela sagt, Sie sind ein feiner Mensch.«

Nell blinzelte. »Ach ja? «

Er nickte und wandte sich dann Tanek zu. »Wir haben ein Schaf an einen Wolf verloren. Aber das ist immer noch ein guter Schnitt.«

Tanek lächelte. »Allerdings. Nell wollte Peter sehen. Wo treibt der Junge sich denn rum? «

Jean winkte ans andere Ende der Herde. »Dort drüben. Er macht sich wirklich gut.«

Peter hatte sie bereits entdeckt, doch obwohl er fröhlich winkte, rührte er sich nicht vom Fleck.

»Sehen Sie? Er bewacht die Schafe. Manchmal vergisst er Dinge, aber nach den Schafen zu sehen, vergisst er nie.« Jeans stolzes Lächeln führte dazu, dass sich die Fältchen um seine dunklen Augen herum vertieften. »Er hat sehr schnell gelernt.«

»Darf ich zu ihm gehen? « fragte Nell.

Jean nickte. »Es ist sowieso Zeit, dass er zum Essen kommt.

Sagen Sie ihm, dass er die Hunde zur Bewachung der Herde abstellen und rüberkommen soll.«

Nell gab Tanek die Zügel ihres Pferdes und machte sich auf den Weg um die riesige Herde herum. Als sie sich den Tieren näherte, rümpfte sie die Nase. Schafe in der Herde waren eindeutig weder wohlriechend noch duftig weiß. Soviel also zur Mär vom flauschigen Osterlamm.

»Sind sie nicht hübsch? « fragte Peter, als sie in Hörweite kam.

»Mögen Sie sie etwa nicht? «

»Nun, auf alle Fälle magst du sie wohl.« Sie umarmte ihn und trat einen Schritt zurück, um ihn anzusehen.

Er war nicht so braun wie Jean, aber er wies eine wesentlich gesündere Gesichtsfarbe auf als zuvor. Er hatte einen abgetragenen Wollponcho, Stiefel und Lederhandschuhe an.

Seine Augen blitzten, und er strahlte über das ganze Gesicht.

»Ich brauche wohl kaum zu fragen, wie es dir geht.«

Er zeigte auf einen schwarzweißen Collie, der ein verirrtes Lamm umrundete. »Das ist Jonti. Er hütet die Schafe, genau wie ich. Wenn wir nicht auf Wache sind, schlafen wir nachts immer zusammen.«

»Wie schön.« Kein Wunder, dass er nach Schafen und Hunden roch. Aber das war egal. Nichts war wichtig, außer der Tatsache, der er glücklich und stolz auf sich war.

»Und Jean sagt, wenn Jontis Frau Welpen bekommt, kriege ich einen, und er zeigt mir, wie man einen richtigen Hütehund draus macht.«

Das Ganze klang beunruhigend dauerhaft. »Dauert so etwas nicht ziemlich lange? «

Sein Lächeln schwand. »Sie denken, dass ich vielleicht wieder gehen muss.« Er schüttelte den Kopf. »Ich gehe nie wieder fort von hier. Jean will auch nicht, dass ich gehe. Er sagt, dass ich ein guter Schäfer bin.« Und mit einfachen Worten fügte er hinzu: »Er sagt, dass ich hierher gehören kann.«

Hinter ihren Augen stiegen Tränen auf. »Das ist ja wunderbar.«

Sie räusperte sich. »Jean sagt, dass du die Hunde auf die Schafe ansetzen und zum Essen kommen sollst.«

Peter nickte und rief mit strenger Stimme: »Aufgepasst, Bess.

Aufgepasst, Jonti.« Dann machte er kehrt und folgte ihr. »Ist es hier nicht wunderschön? Sie sollten das Hochland sehen. Es ist ganz grün und weich, und man blickt auf und sieht die Berge direkt über sich, und man kriegt ein bisschen Angst, aber nicht richtig, und...«

»Er ist glücklich.« Nell nippte an ihrem Kaffee und blickte über die flackernden Flammen in Richtung vo

n Peter, der ihnen

gegenüber neben Jean am Lagerfeuer saß. Jean zeigte Peter, wie man schnitzte, und Peter runzelte konzentriert die Stirn. »Ich habe den Eindruck, dass er auf Wolken schwebt.«

»Ja.« Taneks Augen folgten ihrem Blick. »Schön.«

»Er will bleiben.«

»Dann soll er das tun.«

»Vielen Dank.«

»Wofür? Schließlich verdient er es sich, hier daheim zu sein.

Das Leben als Schäfer ist alles andere als leicht. Es besteht aus Einsamkeit, harter Arbeit, Sonne und Schnee. Ich habe es selbst mal eine Saison lang ausprobiert.«

»Warum?«

»Ich dachte, dadurch fände ich ein echtes Zuhause hier.«

»Und, war es so? «

»Es hat geholfen.«

»Ein Zuhause, etwas, was Ihnen gehört, scheint Ihnen sehr wichtig zu sein.«

Er nickte. »Als Kind hatte ich nichts außer den Kleidern, die ich am Leibe trug, und ich wollte alles haben, was ich sah. Ich nehme an, dieses Bedürfnis hat sich immer noch nicht gelegt.«

Sie lächelte. »O nein.«

»Aber zumindest haben sich meine Ansprüche geändert.« Er stocherte mit einem Stock im Feuer herum. »Und heute bezahle ich für die Dinge, die ich haben will.«

Sie blickte zu den Bergen auf. »Sie lieben diesen Ort.«

»Seit dem Augenblick, in dem ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. So etwas gibt's.«

»Peter geht es ebenso. Er sagt, dass er hierher gehört.« Sie blickte den Jungen an. »Und ich glaube ihm. Er wirkt irgendwie... ganz.«

»Ganz? «

»Vollendet.«

Da Tanek sie immer noch fragend ansah, suchte sie nach einem Vergleich. »Er ist kein hässliches Entlein mehr.«

»Er ist ein bisschen brauner, aber ich finde immer noch nicht, dass er eine Schönheit ist.«

»Das habe ich nicht gemeint. Als ich ein kleines Mädchen war, hat meine Großmutter mir erzählt, aus jedem hässlichen Entlein ginge eines Tages ein wunderschöner Schwan hervor.« Sie zuckte mit den Schultern. »Und dann habe ich herausgefunden, dass es doch nicht immer so ist.«

»Aus Ihnen ist ja wohl ein prächtiger Schwan geworden.«

»Das war ein Wunder. Joels Wunder. Aber inzwischen denke ich, dass vielleicht doch jedes hässliche Entlein die Möglichkeit zur Verwandlung hat. Denn der Schwan steckt zum Teil in einem selbst. Wenn man herausfindet, wer man ist, und seinen inneren Frieden findet, ist das vielleicht ebenfalls als eine Art Wunder anzusehen. Vielleicht brauchen wir nur zu reifen und unsere Selbstzweifel abzulegen, damit alles passt. Vielleicht sind wir...« Sie unterbrach sich und verzog das Gesicht. »Mein Gott, wie tiefschürfend das alles klingt. Warum lachen Sie nicht über mich? «

»Weil ich froh bin, wenn Sie mal mit etwas anderem als Medas beschäftigt sind. Also ist Peter jetzt ein vollendeter Schwan? «

»Jetzt machen Sie sich doch lustig über mich.« Als er nichts erwiderte, sagte sie: »Vielleicht noch nicht vollendet, aber er hat einen großen Schritt in die richtige Richtung gemacht.«

»Er hat sich also in Jean das richtige Vorbild gesucht und läuft ihm nun im Gänsemarsch hinterher? « Er hob abwehrend die Hand. »Tut mir leid, ich konnte der Versuchung nicht widerstehen. All diese Vogelvergleiche verwirren mich. Aber wahrscheinlich haben Sie sogar recht. Sie meinen also, Joel hätte in mehr als einer Beziehung einen Schwan aus Ihnen gemacht? «

Sie schüttelte den Kopf. »O nein. Meine Verwandlung ist noch nicht vollendet. Ich bin immer noch... zweigeteilt. Aber ich denke, Sie wissen, wer Sie sind. Genau wie Tania.« Sie sah ihn an und merkte, dass er sie mit verwirrend intensiven Blicken maß. Eilig wandte sie sich wieder ab. »Tania ist vielleicht ein Schwan, aber bei Ihnen bin ich mir sicher, dass Sie kein Schwan, sondern ein Falke sind.«

»Wahrscheinlich.« Sein Ton war geistesabwesend, und sie spürte, dass er sie immer noch einer intensiven Musterung unterzog.

Sie erschauderte, als ein eisiger Windhauch den warmen Kokon des Feuers durchbrach.

»Knöpfen Sie Ihre Jacke zu«, sagte er.

Sie rührte sich nicht.

»Knöpfen Sie sie zu«, wiederholte er. »Hier in den Hügeln wird es abends ziemlich kalt.«

Sie dachte daran, seinen Befehl zu ignorieren, aber durch eine derartige Trotzreaktion schnitte sie sich nur ins eigene Fleisch.

Sie knöpfte ihre Jacke zu. »Sie brauchen mir nicht zu sagen, was das Beste für mich ist. Ich komme schon geraume Zeit alleine zurecht.«

»Aber nicht allzu gut«, stellte er mit barscher Stimme fest. »Sie haben sich immer zum Fußabtreter degradieren lassen. Sie haben ein Studium abgebrochen, das Ihnen wichtig war, Sie haben sich von Ihren Eltern zu einer Ehe mit einem Mann zwingen lassen, dem Sie vollkommen egal waren und dann...«

»Sie irren sich.« Seine plötzliche Härte brachte sie aus dem Gleichgewicht. »Richard hat mich gern gehabt. Ich habe ihn betrogen und nicht umgekehrt.«

»Das glaube ich nicht. Aber offenbar gelingt es ihm immer noch, Sie zu manipulieren, obwohl...«

»Richard ist tot. Hören Sie auf, schlecht über ihn zu reden.«

»Den Teufel werde ich tun.« Er drehte den Kopf und sah sie an.

»Warum geben Sie nicht endlich zu, dass Sie von dem Schweinehund ausgenutzt worden sind? Er hatte eine süße, wohlerzogene, kleine Frau, die er unterdrücken konnte, wie es ihm gefiel, eine Frau, die sich ihm nie widersetzte, weil sie voll der Dankbarkeit für ihn war, weil er sich dazu herabgelassen hatte...«

»Halten Sie den Mund.« Sie atmete tief ein. »Weshalb interessiert Sie das überhaupt? «

»Es interessiert mich, weil ich Sie mag. Weil ich mit Ihnen schlafen will, verdammt.«

Vor Überraschung blieb ihr der Mund offen stehen. »Was? «

»Sie haben mich genau verstanden.« Seine Worte trafen sie wie ein Schlag. »Oder sollte ich vielleicht eine bodenständigere Bezeichnung dafür verwenden? Wollen Sie es auf chinesisch hören? Oder auf griechisch vielleicht? «

»Ich will es überhaupt nicht hören«, stellte sie mit zittriger Stimme fest.

»Ich weiß. Aber schließlich habe ich nicht gesagt, dass ich versuchen werde, Sie gewaltsam in mein Bett zu zerren. Ich weiß, dass Sie noch nicht bereit sind für ein solches Experiment.«

»Warum fangen Sie dann überhaupt mit diesem Thema an? «

»Weil ich es will«, sagte er. »Und weil ich es leid bin, gegen diesen Wunsch anzukämpfen. Und weil es nichts schadet, Sie auf diesen Gedanken zu bringen. Vielleicht habe ich ja früher oder später Glück.«

Sie befeuchtete ihre Lippen. »Ich wünschte, Sie hätten nichts gesagt. Das macht die Situation recht unangenehm für mich.«

»Willkommen im Club. Schließlich verspüre ich bereits seit geraumer Zeit ein deutliches Unwohlsein, wenn ich in Ihrer Nähe bin. Wie auch jetzt in diesem Moment.«

Ihr Blick fiel auf seinen Unterleib, doch eilig wandte sie sich wieder ab. »Tut mir leid. Ich hatte nie die Absicht... Ich wünschte, Sie...«

»Ich hätte Sie also weiter den Kopf in den Sand stecken lassen sollen, damit Sie so tun können, als wüssten Sie nicht genau Bescheid? « fragte er. »So wie Sie es schon seit Wochen tun? «

»Ich habe nicht so getan, als wüsste ich nicht Bescheid. Ich wusste es wirklich nicht.«

»Oh doch. Das ließ sich wohl kaum übersehen.«

»Sie haben Ihre Gefühle gut versteckt.«

Er lächelte schief. »So gut nun auch wieder nicht. Schließlich ist es für einen Mann nicht unbedingt leicht, sich nicht anmerken zu lassen, wenn ihn der Anblick einer Frau erregt.«

Hatte sie es gewusst und tatsächlich den Kopf in den Sand gesteckt? Vielleicht. Hatte sie Michaelas Rede zurückgewiesen, weil sie gewusst hatte, dass das, was sie sagte, der Wahrheit entsprach? »Dass so etwas passiert, wollte ich nicht.«

»Nein. Sex wäre nur störend, nicht wahr? Obgleich wir ihn vielleicht noch irgendwo zwischen Tod und Verderben quetschen könnten.«

»Sparen Sie sich Ihre Ironie.«

»O nein. Ironie kann etwas sehr Befriedigendes sein. Vielleicht die einzige Befriedigung, die es für mich in Bezug auf Ihre Person jemals gibt.«

»Benutzen Sie jemand anderen, wenn Ihnen nach einem verbalen Schlagabtausch zumute ist.« Mit einem Mal kam ihr ein Gedanke. »Heißt das etwa, dass Sie mich nicht mehr unterrichten werden? «

Er starrte sie an. »Sie sind einfach unglaublich.«

»Und? «

»Nein, ich beherrsche meinen Körper, und nicht umgekehrt.«

Und leise fügte er hinzu: »Meistens jedenfalls.«

»Gut.« Sie stellte ihre Kaffeetasse auf den Boden und legte sich hin. »Dann ist es ja kein Problem.«

»Es wäre auch kein Problem, wenn Sie beschließen würden, mit mir ins Bett zu gehen. Schließlich will ich ja nur ein bisschen Sex. Wir brauchen ja deshalb nicht gleich zu heiraten.«

»Sie verstehen mich nicht. Ich bin nicht wie Sie.« Sie biss sich auf die Lippe. »Ich kann nicht einfach - um Himmels willen, in meinem ganzen Leben habe ich nur mit zwei Männern

geschlafen.«

»Hat es Ihnen gefallen? «

»Natürlich hat es das.«

»Dann sollten Sie vielleicht noch einen dritten Mann ausprobieren. Sie sagen, Nell Calder ist tot. Warum klammern Sie sich dann an ihren Moralvorstellungen fest? « Er lächelte.

»Lassen Sie einfach Eve Billings mit mir schlafen. Sie ist eine lebendige, funktionierende Frau, und ich bin nicht besonders anspruchsvoll.«

Sie runzelte die Stirn. »Machen Sie sich nicht lächerlich. Ich wünschte, Sie hätten gar nicht erst von diesem Thema angefange n, denn Ihr Überredungsversuch ist zwecklos.«

»Nicht ganz. Zumindest hat er Ihnen deutlich gemacht, dass ich auch noch andere Seiten habe als die des Kampfsportgenies.« Er breitete seine Decke auf dem Boden aus. »Sie werden darüber nachdenken und sich fragen, wie es wohl wäre, mit mir ins Bett zu gehen.« Er legte sich auf den Rücken und machte die Augen zu. »Es wäre phantastisch, Nell. Schließlich bin ich nicht in einem Bordell aufgewachsen, ohne zu lernen, wie man diese Dinge macht.«

Ihr wurde heiß, doch instinktiv schreckte sie vor diesem Gefühl zurück. »Als Sie das Bordell verlassen haben, waren Sie gerade mal acht Jahre alt«, stellte sie trocken fest.

Er machte ein Auge auf. »Ich war eben frühreif.«

Sie schloss die Augen und zog die Decke bis zum Kinn.

»Schwachsinn.«

»Das werden Sie nie erfahren. Es sei denn, Sie probieren es einmal aus.« Sie hörte, wie er sich unter seine Decke schob.

Schlaf, sagte sie sich. Tanek hatte ihr einen Vorschlag unterbreitet, und sie hatte abgelehnt. Das war alles. Es gab keinen Grund, sich unwohl zu fühlen. Er war ein zivilisierter Mann, und als solcher akzeptierte er ein Nein.

Doch zugleich war er es seit frühester Kindheit gewohnt, um alles zu kämpfen, was ihm wichtig war. So leicht gäbe er bestimmt nicht auf. Er würde sie zu nichts zwingen, aber verbal ließe er bestimmt nichts unversucht.

Doch Überredungsversuchen konnte man widerstehen. Was man nicht wollte, brauchte man nicht zu tun. Und sie wollte weder die Ablenkung noch die heiße Gedankenlosigkeit, die ein sexuelles Abenteuer bot. Sie wollte kühl und zielgerichtet arbeiten, wollte distanziert sein, losgelöst von der Welt.

Sie wandte sich zu Tanek um. Er lag in ihrer Nähe, die Augen geschlossen und eine schlaffe Hand in Richtung des Feuers gestreckt. Eine starke, wohlgeformte, zupackende Hand mit kurz geschnittenen Nägeln. Sie kannte diese Hand. Sie kannte ihre Stärke, ihre tödliche Kraft. Eine gefährliche Hand. Auch wenn sie im Augenblick keine Gefährlichkeit ausstrahlte, sondern reine Kraft... und Männlichkeit. Sie hatte immer gerne Hände gemalt. Sie hatten etwas Magisches. Hände bauten Städte und schufen große Kunstwerke, sie konnten brutal sein oder sanft, Schmerzen bringen oder Leidenschaft.

Wie Tanek.

Sie hatte das Gefühl, als schmelze sie bereits beim bloßen Anblick der Hand dieses verdammten Kerls. Warum in aller Welt musste ihr das passieren? Warum hatte er ihre Sexualität geweckt?

Aber es war noch nicht zu spät. Vielleicht legte sich ihr Verlangen ja wieder, wenn sie sich dazu zwang?

Sie machte die Augen wieder zu. Sie roch die immergrünen Büsche und das verbrennende Eichenholz und spürte die Kälte der Luft. Mit einem Mal nahm sie Geräusche und Düfte der Umgebung sowie die Rauheit der Wolldecke an ihren bloßen Armen überdeutlich war. Nichts hatte sich geändert. Jill war immer noch tot. Ihr Körper hatte nicht das Recht zu dieser Empfindsamkeit.

Zur Hölle mit dem Kerl.

»Stärker«, sagte Tanek. »Nicht so träge. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich Sie heute morgen schon zweimal flachgelegt.«

Sie wirbelte herum und trat ihm in den Bauch.

Er taumelte rückwärts, doch sofort hatte er sich weit genug erholt, um ihren Arm zu packen, als sie näher kam. Er schleuderte sie auf den Boden und setzte sich rittlings auf ihren Bauch.

»Lassen Sie mich hoch«, keuchte sie

»Maritz ließe Sie auch nicht wieder hoch.«

»Ich war abgelenkt. Das wäre Maritz gegenüber nicht der Fall.«

Er stand auf und zog sie auf die Füße. »Und warum sind Sie abgelenkt? «

»Ich habe nicht gut geschlafen.«

»Das tun Sie doch nie. Sie wandern jede Nacht durchs Haus als wären Sie irgendein Geist.«

Sie hatte nicht gewusst, dass ihm ihre nächtliche Unruhe aufgefallen war. »Falls ich Sie gestört habe, tut es mir leid.«

»Und ob es mich gestört hat.« Er wandte ihr den Rücken zu.

»Nehmen Sie ein Bad, und dann legen Sie sich ein bisschen hin.

Ich will Sie wach und rasiermesserscharf beim Training sehen.«

So wie er selbst. Seit sie vor zwei Tagen aus den Hügeln zurückgekommen waren, war er rasiermesserscharf und ungewöhnlich gereizt. Sie wusste zwar nicht, was sie erwartet hatte, auf keinen Fall jedoch die barsche Gleichgültigkeit, die er ihr seither zuteil werden ließ.

Nein, Gleichgültigkeit war das falsche Wort, denn ihre Nähe schien ihm ständig bewusst zu sein, und das war ein Teil des Problems. Unter der kühlen, beißenden Oberfläche ließ er sie spüren, wie bewusst ihm ihre Nähe war.

Und ihr war seine Nähe bewusst. Stärker als alles andere.

»Gehen Sie ins Bett.« Tanek klappte sein Buch zu und stand auf.

»Es ist schon spät.«

»Gleich. Ich will nur noch diese Skizze fertig machen.« Sie blickte nicht auf. »Gute Nacht.«

»Ich dachte, Sie hätten inzwischen sämtliche Skizzen von Michaela gemacht? «

»Ein paar mehr tun nicht weh.«

Sie spürte seinen Blick, aber immer noch sah sie nicht auf.

»Bleiben Sie nicht zu lange auf. Heute morgen waren Sie so groggy, dass das Training die reinste Zeitverschwendung für mich war.«

Sie fuhr zusammen. »Ich werde versuchen, Sie nicht noch einmal zu enttäuschen.«

»Wenn doch, setze ich das Training für eine Woche aus. Wie gesagt, ich glaube daran, dass Belohnungen und Strafen etwas sehr Sinnvolles sind.«

»Sind Sie sicher, dass Sie nicht nur eine Entschuldigung suchen, um mit dem Unterricht aufzuhören? « fragte sie in ruhigem Ton.

»Vielleicht. Geben Sie mir lieber keinen Grund.«

Als er den Raum verließ, atmete sie erleichtert auf. Wenn er in ihrer Nähe war, fiel es ihr schwer, ihn nicht ständig anzusehen.

Der Anblick seines langen, geschmeidigen Körpers, der im Ledersessel lungerte, oder seiner Hand, die die Seiten des Buches umblätterte, störte sie ebenso wie der Duft nach Seife und Rasierwasser, der ihn umgab.

Als sie die letzten Striche des Haaransatzes auf den Bogen warf, merkte sie, dass ihre Hand zitterte. Dieses plötzliche Gefühl der Schwäche war ihr verhasst. Sie wollte nicht wie eine läufige Hündin darauf reagieren, wenn er mit lässigen Schritten durch das Zimmer ging. Das hatte sie bei Richard und selbst bei Bill niemals erlebt. Was in aller Welt war nur los mit ihr?

Sie legte den Stift zur Seite und sah die Skizze von Tanek genauer an. Sie hatte gedacht, ihn als Kunstgegenstand zu betrachten hätte vielleicht eine reinigende Wirkung auf sie. Sie hatte ihn so getroffen, wie er war, einschließlich seiner ruhigen Intelligenz, seiner Stärke, der Intensität dessen, was unter der Oberfläche verborgen lag, und des Hauchs von Sinnlichkeit, den der Schwung seiner Lippen verriet...

Sinnlichkeit. Wies sein Mund tatsächlich eine gewisse Sinnlichkeit auf oder hatte ihre Besessenheit die Skizze verfärbt? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie die Sinnlichkeit unve rhohlen und roh vor sich sah.

Sie sprang auf und schob den Skizzenblock in die Aktentasche zurück. Ihr war heiß, und ihre Wangen fühlten sich fiebrig an.

Wie dumm sie doch war. Es wäre besser gewesen, sie hätte ihn niemals skizziert. Es hatte nichts genützt. Wo war die Selbstbeherrschung, die für sie so wichtig war? Schließlich war sie kein junges Mädchen mehr, das unter unkontrollierbaren Hormonschüben dem ersten Rendezvous entgegenhechelte.

Aber die Verletzlichkeit und Unsicherheit, die sie empfand, hätten besser zu diesem jungen Mädchen gepasst. Dabei hatte sie gedacht, diese Phase läge inzwischen längst hinter ihr. Was nützte es einem, in anderen Bereichen des Lebens selbstbewusst zu sein, wenn man sich von einem Mann...

Vergiss es. Geh ins Bett. Schlaf. Fang morgen noch mal von vorne an.

Aber das war leichter gesagt als getan. Letzte Nacht hatte sie stundenlang wach in ihrem Bett gelegen und sich danach gesehnt, dass...

O nein, heute nacht schliefe sie.

Wieder träumte sie.

Tanek blieb stehen, als er das leise Wimmern hörte, das durch Nells Schlafzimmertür in den Korridor drang.

Sie träumte. Sie litt.

Besser, er ginge in sein Zimmer und dächte nicht länger darüber nach. Schließlich passierte es fast jede Nacht. Er konnte ihr nicht helfen, und er wollte es auch nicht.

In ihre Träume einzubrechen bedeutete, ihr näher zu kommen, und er war ihr bereits allzunah.

Nicht ihre gequälte Seele interessierte ihn, sondern ihr kraftvoller, schöner Leib.

Himmel, er ginge jetzt ins Bett und dächte nicht länger an sie.

Ab, ab, ab, zu der roten Rose...

Nell kämpfte sich aus dem Schlaf, denn nur so entkam sie ihrem Traum.

Sie lag zitternd und schluchzend da und starrte blind in die Dunkelheit.

Es tut mir leid, Baby. Verzeih mir, Jill.

Sie setzte sich auf und zog ihre Pantoffeln an.

Sie musste raus aus dem Bett, aus dem Zimmer, aus dem Traum...

Musste ins Wohnzimmer, denn dort gab es Platz, Wärme, Helligkeit...

Sie ging eilig den dunklen Korridor hinab in Richtung des Lichts, das aus dem Wohnzimmer drang. Dort wäre alles gut.

Dort würde sie bleiben, bis sie wieder ruhiger war, und dann ginge sie ins Bett zurück.

Als sie die Tür des Wohnzimmers erreicht hatte, blieb sie plötzlich stehen. »Kommen Sie nur herein.« In einen weißen Morgenmantel gehüllt, saß Tanek auf der Ledercouch vor dem Kamin. »Ich habe Sie bereits erwartet.«

»Nein, ich...« flüsterte sie und trat in den Korridor zurück. »Ich wollte nicht - ich werde wieder gehen.«

»Damit ich weiter hier herumsitze und mir Sorgen mache um Sie? Warum? Ist es vielleicht effektiver, wenn man alleine über Dinge nachgrübelt, die man nicht ändern kann? «

»Ich grüble nicht.«

»Den Teufel tun Sie...« Er brach ab und fuhr müde fort: »Tut mir leid. Ich weiß, dass Sie nicht am Grübeln sind. Aber ich. Sie versuchen nur zu überleben. Kommen Sie rein. Dann fahren wir gemeinsam mit unseren Bemühungen fort.«

Sie zögerte. Ihre Gefühle für ihn waren bereits so verwirrend, dass sie nicht wollte, dass er sie so verletzlich sah.

Er blickte auf und lächelte. »Kommen Sie. Ich beiße nicht.«

Sein Ton enthielt keine Schärfe. Keine Bissigkeit. Langsam trat sie näher an ihn heran.

»Gut.« Ohne sie noch eines Blickes zu würdigen, wandte er sich wieder dem Feuer zu.

Sie kauerte sich auf einen Hocker vor dem Kamin.

»Sie brauchen gar nicht so angespannt zu sein. Ich habe nicht vor, mich auf Sie zu stürzen. Weder körperlich noch verbal.

Gegenüber Verwundeten verzichte ich für gewöhnlich auf schmutzige Tricks.«

»Sie greifen doch nie auf schmutzige Tricks zurück.«

»Aber sicher doch. Sie haben mich nur noch nie in einer richtigen Arena erlebt.« Er griff in die Tasche seines Morgenmantels, zog ein Taschentuch heraus und warf es ihr zu.

»Wischen Sie sich erst mal das Gesicht ab.«

Sie tupfte an ihren Wangen herum. »Vielen Dank.«

Schweigen senkte sich über sie, so dass nur noch das Knistern des Holzes und ihrer beider Atmen zu hören war. Seine stumme Anwesenheit war seltsam tröstlich für sie. Es war besser, als den Dämonen allein gegenüberzustehen. Obgleich er ihre Träume nicht kannte, hielt er die Dämonen von ihr fern.

»So kann es einfach nicht weitergehen«, sagte er ruhig, doch sie antwortete nicht. Es gab einfach nichts, was sich auf diese Feststellung antworten ließ.

»Tania hat mir von den Träumen erzählt. Manchmal hilft es, wenn man darüber spricht. Wollen Sie mir vielleicht erzählen, um was es in Ihren Träumen geht? «

»Nein.« Sie sah ihn an, doch dann zuckte sie mit den Schultern und sagte: »Um Medas.«

»Das ist mir klar. Aber worum genau? «

»Um Jill«, sagte sie gereizt. »Worum wohl sonst? «

»Ich habe Verständnis, wenn jemand leidet. Aber ich habe kein Verständnis, wenn sich jemand quält.«

»Jill ist tot, und Maritz läuft immer noch frei herum.«

»Das ist keine Qual, sondern Zorn.«

Sie fühlte sich in die Ecke gedrängt, doch aushorchen ließe sie sich nicht. »Ich sagte doch bereits, dass ich nicht darüber reden will.«

»Ich glaube, das wollen Sie doch. Ich glaube, genau deshalb sind Sie nicht wieder gegangen, obwohl ich hier im Wohnzimmer saß. Was passiert in Ihren Träumen, Nell? «

Sie spannte nervös die Finger an. »Was denken Sie wohl, was passiert? «

»Kämpfen Sie mit Maritz? «

»Ja.«

»Und wo ist Jill? «

Sie antwortete nicht.

»Ist sie im Schlafzimmer? «

»Ich will nicht darüber reden.«

»Sind Sie auf dem Balkon? «

»Nein.«

»Können Sie die Schüsse unten hören? «

»Nein, nicht mehr. Ich höre nur noch die Spieluhr.«

Ab ab, ab, zu der roten Rose hinab.

Warum hörte er bloß nicht auf? Wieder zog er sie in jene dunkel verschwommene Welt zurück.

»Wo ist Jill? «

Zur Hölle mit ihm, warum hörte er nicht auf.

»Wo ist Jill, Nell? «

»Sie steht in der Tür«, platzte es aus ihr heraus. »Sie steht weinend in der Tür und beobachtet uns. Ist es das, was Sie wissen wollen? «

»Das ist es, was ich wissen will. Warum wollten Sie mir das denn nicht erzählen? «

Sie ballte die Fäuste, und ihre Fingernägel gruben sich schmerzhaft in ihre Haut. »Es geht Sie nichts an.«

»Warum nicht? «

Ab, ab, ab.

»Warum nicht, Nell? «

»Ich habe geschrien.« Tränen rannen ihr über das Gesicht. »Ich habe nicht nachgedacht... Es heißt immer, dass man schreien soll, wenn man einen Angreife

r abschrecken will. Ich habe

geschrien, und sie kam aus dem Schlafzimmer gerannt. Es war meine Schuld. Wenn ich nicht geschrien hätte, wäre sie vielleicht im Bett geblieben. Er hätte vielleicht nicht gemerkt, dass außer mir noch jemand im Appartement war. Ihr wäre vielleicht gar nichts passiert.«

»Mein Gott.«

Sie schaukelte vor und zurück. »Es war meine Schuld. Sie kam raus, und da hat er sie gesehen.«

»Es war nicht Ihre Schuld.«

»Doch«, sagte sie voller Hass auf sich selbst. »Haben Sie mich denn nicht gehö rt? Ich habe geschrien.«

»Was natürlich in einem Augenblick, in dem ein Mann versucht, einen mit einem Messer abzustechen, eine furchtbare Sünde ist.«

»Es war eine Sünde. Sie war meine Tochter. Ich hätte nachdenken sollen. Ich hätte sie beschützen sollen.«

Er packte ihre Schultern und schüttelte sie. »Sie haben getan, was Ihrer Meinung nach das richtige war. Maritz hätte sie sowieso entdeckt. Er geht immer sehr sorgfältig vor.«

»Vielleicht wusste er ja gar nicht, dass sie da war.«

»Er wusste es.«

»Nein, ich habe geschrien, und er...«

»Hören Sie auf.« Er zog sie in seine Arme und hielt ihren Kopf an seine Schulter gepresst. »Sie haben gesagt, sie hätten die Spieluhr gehört. Also hat er sie auch gehört und wusste ohnehin, dass noch jemand im Nebenzimmer war. Falls nicht, hätte er nachgesehen.«

Sie entwand sich seinem Griff und starrte ihn entgeistert an.

»Haben Sie daran bisher noch nie gedacht? «

Sie schüttelte den Kopf.

»Das überrascht mich nicht.« Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich habe die ganze Zeit überlegt, weshalb Sie sagen, ich hätte an dem, was auf Medas passiert ist, keine Schuld. Jetzt verstehe ich. Sie haben die ganze Zeit über sich selbst als die Schuldige gesehen.«

»Das tue ich immer noch. Meinen Sie etwa, nur weil die Spieluhr an war, wäre jetzt alles gut? «

»Nein, denn Sie haben sich immer noch nicht verziehen, dass Sie überlebt haben, während Ihre Tochter gestorben ist.«

»Wenn Maritz tot ist, werde ich mir verzeihen.«

»Werden Sie das? «

»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Aber ich hoffe es.«

»Ich auch.« Abermals zog er sie in seine Arme und wiegte sie sanft hin und her. »Ich auch.«

Sie roch seinen Duft und spürte die Rauheit seines Morgenmantels an ihrem Gesicht, doch statt in Leidenschaft und Hitze hüllte seine Nähe sie in einen goldenen Frieden ein.

Lange Zeit verharrte sie reglos an seiner Brust, doch schließlich hob sie den Kopf. »Wenn ich nicht in mein Zimmer gehe und ein bisschen schlafe, hältst du mir morgen wieder meine Trägheit vor.«

»Wahrscheinlich.« Er zog sie wieder auf die Couch und schob ihren Kopf an seine Schulter zurück. »Aber darüber solltest du dir Gedanken machen, wenn es soweit ist.«

Sie entspannte sich, und erneut senkte sich ein wunderbarer Frieden über sie. Seltsam, dass Tanek, der alles andere als friedlich war, ihr eine solche Ruhe gab. Sie bliebe nur noch ein Weilchen hier, und dann ginge sie...

Sie schmiegt sich so vertrauensvoll an mich, als wäre ich ihre Mutter, dachte Tanek einigermaßen missvergnügt.

So etwas hatte er nicht geplant.

Geplant hatte er ein bisschen Sex bei emotionaler Distanz.

Und stattdessen hatte er eine größere Intimität als je zuvor mit einer Frau entdeckt, ohne jeden Sex.

Seine eigene Schuld. Nichts und niemand hatte ihm die Rolle der Ersatzmutter aufgedrängt.

Außer Nells Verletzlichkeit.

Sein Arm tat weh, aber er zog ihn nicht zurück.

Er blickte auf ihre Hand, die schlaff auf seinem Schenkel lag.

An den Stellen wo sie ihre Nägel im Handballen vergraben hatte, waren winzige halbmondförmige Abdrücke zu sehen.

Während er sanft über einen der Abdrücke strich, dachte er, diese Narben würden eines Tages verblassen, aber die unsichtbaren Narben behielte sie wohl ein Leben lang. Sie waren ebenso hässlich wie seine eigenen, und genau das war es, was sie beide miteinander verband.

Sie hob vorsichtig den Kopf und murmelte etwas, was er nicht verstand.

»Pst.« Er nahm sie fester in den Arm. Das war es doch, was eine Mutter tat, oder nicht? Sie spendete Trost und hielt die Alpträume fern.

Er seufzte. Nein, so etwas hatte er gewiss nicht geplant.