18. Kapitel

Silvester 22.30 Uhr

Gardeaux sah wie ein freundlicher Politiker aus, von schlanker Statur, mit einem reifen Gesicht und prachtvoll gekleidet in seinem grüngoldenen Renaissancekostüm. Mit einem

liebenswürdigen Lächeln blickte er auf seine Frau hinab, ohne die Horden einflussreicher Leute überhaupt wahrzunehme n, von denen er umgeben war.

Charmant.

Bei seinem Anblick hätte Nell niemals gedacht, dass am anderen Ende des Raumes seine Geliebte stand oder dass er ein Kindermörder war.

»Was starren Sie so dumm? « zischte Madame Dumoit. »Wir haben Sie nicht hierher gebracht, damit Sie in der Ecke stehen und glotzen. Bewegen Sie sich. Zeigen Sie den Leuten Jacques'

Kreation.«

»Tut mir leid, Madame.« Nell stellte ihr Weinglas auf das Tablett, das ein Kellner durch die Gegend trug und tauchte in die Menge ein. In ihrem Renaissancekleid passte sie hervorragend in die kostümierte Gästeschar. Es herrschte ein solches Gedränge, dass es ihr sicher problemlos gelänge, innerhalb von Sekunden verloren zu gehen, ohne dass es irgendjemand sah.

Noch fünfundzwanzig Minuten, und Nicholas wäre hier.

Im Ballsaal herrschten eine geradezu unerträgliche Hitze und ein ohrenbetäubender Lärm.

Wieder beobachtete sie Gardeaux. Wieder sah sie den Kindermörder an. Wie konnte er nur so freundlich lächeln, während er beabsichtigte, innerhalb der nächsten Stunde

abermals einen Mord zu begehen - dieses Mal an Nicholas?

O Gott, sie hatte furchtbare Angst.

Gardeaux wandte sich von seiner Gattin ab, streckte die Hand aus und setzte ein freundliches Lächeln auf.

Ein Mann näherte sich ihm. Ein kleiner Mann, der sich in seinem schwarzen Smoking nicht unbedingt wohlzufühlen schien.

Nell erstarrte vor Schreck.

Kabler?

Kabler lächelte ebenfalls. Er ergriff Gardeaux' Hand, schüttelte sie und machte eine scherzhafte Bemerkung, woraufhin ihm der Gastgeber fröhlich auf den Rücken schlug.

Kabler?

Kabler hasste diesen Kerl. Kabler war ganz gewiss nicht hier.

Doch, er war hier, und er behandelte Gardeaux, als wäre dieser sein bester Freund.

Aber er war Polizist. Wahrscheinlich führte er verdeckte Ermittlungen durch.

Sie schob sich näher an die beiden Männer heran.

Gardeaux machte Kabler mit seiner Frau bekannt. Sein guter Freund, Joe Kabler, Leiter der Antidrogenbehörde der USA.

Er wusste, wer Kabler war. Kabler, sein guter Freund.

Mit Geld ließ sich beinahe jeder kaufen, hatte Nicholas gesagt.

Sie hätte nicht gedacht, dass auch Kabler käuflich war.

Er lächelte und murmelte irgendetwas über ein hübsches Fest und wie sehr er sich gefreut habe, dass er eingeladen worden sei.

Dann wanderte sein Blick wie beiläufig durch den Raum. O ja, es war eindeutig, dass er einer von Gardeaux' Männern war.

Und er kannte sie.

Ihr Herz machte einen furchtsamen Satz. Weshalb stand sie immer noch hier herum? Sie machte kehrt und wandte sich zum

Gehen.

Hatte er sie bereits entdeckt?

Sie wagte nicht, über die Schulter zu sehen. Wahrscheinlich hatte er höchstens ihren Hinterkopf und ihr Profil gesehen.

Höchstens? Das wäre genug. Sie hatten Stunden miteinander verbracht

Sie stürzte durch die Tür ins Foyer.

Bitte. Hoffentlich hatte er sie nicht gesehen.

Sie eilte die Treppe in den Hof hinab und wagte einen Blick zurück.

Kabler schob sich mit grimmiger Miene durch die Gästeschar im Flur, erreichte sie, als sie auf der untersten Stufe stand, und drehte sie unsanft zu sich herum.

»Lassen Sie mich los.« Sie starrte ihn zornig an. »Hier stehen überall Leute herum. Ich schreie.«

»Das tun Sie nicht. Schließlich wollen Sie nicht alles kaputtmachen, weshalb Sie hergekommen sind. Ich habe Sie davor gewarnt, sich mit Tanek einzulassen. Sehen Sie nur, was er Ihne n angetan hat.« Seine Stimme war schmerzerfüllt. »Ich möchte Ihnen nicht wehtun. Geben Sie's auf. Ich kann immer noch dafür sorgen, dass Ihnen nichts passiert.«

»Indem Sie bei Ihrem Freund Gardeaux ein gutes Wort für mich einlegen? « fragte sie in verbittertem Ton.

»Dieser Widerling ist nicht mein Freund, und was ich zu sagen hätte, wäre ihm egal, wenn er erst einmal wüsste, wer Sie sind.«

»Sie haben es ihm nicht gesagt? «

»Ich habe gesagt, ich dächte, ich hätte jemand Bekannten gesehen. Ich will nicht, dass Sie sterben, Nell. Aber Tanek ist mir egal. Er ist genauso ein Schwein wie die anderen.«

»Und was sind Sie? «

Er fuhr zusammen, als hätte sie ihm einen Schlag versetzt. »Ich kann einfach nicht mehr. Ich habe zu lange gegen diese Kerle angekämpft. Als ich damals aus Idaho nach Hause kam, wartete wieder mal einer von Gardeaux' Männern auf mich. Genau wie der Arzt meines Sohnes. Mein Sohn hat Leukämie. Er hat die beste Behandlung verdient, und jetzt kann ich sie ihm geben. Sie sind einfach unschlagbar. Sie haben zuviel Geld und zuviel Macht. Niemand kommt gegen sie an.«

»Also haben Sie die Seite gewechselt. Wieviel bezahlt er Ihnen, Kabler? «

»Genug. Endlich kann ich meiner Frau ein paar der Dinge schenken, die sie schon lange verdient hat. Meine Kinder werden auf gute Schulen gehen, so dass ihnen später alle Möglichkeiten offen stehen. Ich werde ihnen alles geben können, was das Herz begehrt.«

»Wie schön für Sie. Ich habe kein Kind. Gardeaux hat es umgebracht.«

»Aber Sie leben. Und ich will, dass es so bleibt. Sie sind nicht wie sie.«

»Bin ich vielleicht wie Sie? «

Er nickte. »Es ist egal, was mit ihnen passierte. Calder und die Frau waren mir egal. Sie waren ebenso schmutzig wie Gardeaux.«

Sie starrte ihn entgeistert an. Die Verbindung zwischen ihm und der Explosion hatte sie bisher noch nicht hergestellt. »Sie haben sie umgebracht? «

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe Gardeaux nur gesagt, wo er sie finden kann. Er wollte, dass ich Sie dorthin bringe, um später behaupten zu können, man wäre mir gefolgt.« Er setzte ein schmerzliches Lächeln auf. »Meine Position ist sehr wertvoll für sie, und er wollte nicht, dass mein Job in irgendeiner Weise gefährdet wird.«

»Sie haben mich benutzt. Sie haben genau das getan, was Nicholas von Ihnen vorgeworfen worden ist.«

»Sie hatten ein Recht zu erfahren, dass Calder noch am Leben war.«

»Und wie erklären Sie Ihre Anwesenheit hier auf dem Fest? Ihre Leute wissen über Gardeaux Bescheid.«

»Ich versuche lediglich, Informationen zu bekommen. Ich mache nur meine Arbeit.« Er blickte über seine Schulter zurück.

»Wir stehen schon zu lange hier herum. Tanek wird jeden Augenblick auftauchen, und ich will nicht, dass Sie in der Nähe sind, wenn es passiert.«

»Sie werden Gardeaux bei Nicholas' Ermordung behilflich sein.«

»Das brauche ich gar nicht. Das ist nicht der Grund, weshalb ich gekommen bin. Gardeaux wollte, dass ich komme und ihm die Hand schüttele, um einem möglichen Schaden vorzubeugen, den Nicholas seinem Ruf zuzufügen versucht.« Er nahm ihren Arm.

»Ich bringe Sie auf mein Zimmer und bleibe mit Ihnen dort.

Wenn alles vorbei ist, können Sie gehen.«

Wenn alles vorbei war. Wenn Nicholas ermordet war. »Was, wenn ich mich weigere, mitzugehen? «

»Dann muss ich Gardeaux erzählen, wer Sie sind. Und dann bringt er Sie ebenso wie Tanek um.« Mit sanfter Stimme sagte er: »Aber das möchte ich nicht, Nell. Ich möchte, dass Sie mit heiler Haut aus dieser Sache herauskommen. Also, kommen Sie? «

Er bluffte nicht. Er würde Gardeaux sagen, wer sie war. Er wollte sie retten, aber eher ließe er sie sterben, als dass er seine Beziehung zu dem Gangster gefährdete. »Also gut.«

Mit einem Satz war er neben ihr, nahm ihren Ellbogen und kehrte mit ihr ins Haus zurück.

»Ich habe eine Waffe unter der Jacke dieses Affenkostüms.

Dachte, es interessiert Sie vielleicht.« Er führte sie die Treppe hinauf. »Lächeln Sie«, murmelte er.

Sie blickte auf die Standuhr neben der Ballsaaltür und klammerte sich panisch am Geländer fest.

Fünf vor elf.

23.10 Uhr

Vier Leute stiegen aus der Limousine, als sie im Hof zum Stehen kam. Zwei Männer im Smoking und zwei Frauen, deren üppige Renaissancekleider man unter den Samtumhängen kaum sah. Fröhliches Geplauder und Gelächter wurden laut. Die perfekte Gelegenheit für Nicholas, der aus dem Schatten der Bäume kam, eilig über die Zugbrücke ging und im Gefolge der vier Gäste den Hof betrat.

»Ah, Tanek, da sind Sie ja.« Gardeaux trat auf die Vordertreppe hinaus und sah niemanden außer Tanek an. »Ich erwarte Sie bereits.«

Nicholas blieb stehen und trat dann näher an die Gästegruppe heran. »Parties konnte ich noch nie widerstehen.«

»Ich fürchte, diese Party wird kein allzu großer Genuss für Sie.«

Er winkte mit der Hand, und die Gruppe der vier anderen Gäste teilte sich wie das Rote Meer. »Offenbar haben Sie niemanden vorausgeschickt.«

Die vier Personen, denen er sich angeschlossen hatte, eilten zu der Limousine zurück. »Ihre Leute? «

»Offensichtlich. Hatten Sie etwa gedacht, mit einem so billigen Trick kämen Sie durch? Sie haben mir Ihre genaue Ankunftszeit genannt, und ich brauchte nur diese kleine Falle aufzustellen.

Ich konnte ja wohl kaum zulassen, dass Sie in meinen Ballsaal spazieren. Vielleicht hätten Sie mich bei Ihrem Auftritt in Verlegenheit gebracht.« Er blickte über die Schulter zurück.

»Rivil, wir werden Mr. Tanek ins Auditorium begleiten. Sie erinnern sich an Rivil, Tanek? «

»Wie hätte ich ihn je vergessen sollen? « Nicholas beobachtete, wie Rivil die Treppe herunterkam. »Er hat einen ziemlichen Eindruck auf mich gemacht.« Hinter Rivil kam ein kleiner Mann die Stufen herab. Marple, ein boshafter Kerl, der für seine hervorragenden Reflexe berühmt und für seine Fähigkeiten mit dem Würgeisen berüchtigt war.

»Kein besonders schönes Wortspiel«, sagte Gardeaux. »Aber es freut mich, dass Sie nicht allzu erschüttert sind. Es macht die Dinge interessanter, wenn Sie nicht so schnell den Mut verlieren.« Sein Blick fiel auf das in Leder gehüllte Schwert, das Nicholas trug, und in seinem Blick flackerte eine gewisse Erregung auf. »Ist es das? «

Als Nicholas nickte, eilte Gardeaux die Stufen hinab und nahm ihm die Waffe ab. »All der Ärger für nichts und wieder nichts.

Sie haben nachgelassen, Tanek.« Er begann, das Schwert auszuwickeln. »Schafft ihn vom Hof.«

»Angenommen, ich habe keine Lust, mitzugehen? « fragte Nicholas.

»Dann versetzt Ihnen Rivil einen Schlag auf den Kopf und trägt Sie, wohin ich will.« Gardeaux wandte sich zum Gehen. »So einfach ist das.« Er kannte Nicholas gut genug, um zu wissen, dass dieser sich nicht in sinnlose Gefechte verwickeln ließ, und so bedeutete er Rivil und Marple, seinem Gast zu zeigen, wie es ins Auditorium ging.

23.20 Uhr

Im Auditorium angekommen, riss Gardeaux das Schwert aus der Lederscheide und hielt es ins Licht. »Göttlich«, flüsterte er.

»Wunderbar. Ich spüre geradezu seine Kraft.«

Er strich liebevoll mit der Hand über das Metall, ehe er den langen Gang in Richtung der Bühne und des Laufstegs hinunterschlenderte. »Bringt ihn her. Sie haben mein Auditorium noch nie gesehen, nicht wahr? Heute nachmittag haben hier die größten Fechtmeister Europas gegeneinander gekämpft. Außer Pietro. Obwohl er wahrscheinlich besser als sie alle ist.« Vor dem Laufsteg blieb er stehen und wies auf den großen, schlanken Fechter, der dort stand. »Darf ich Ihnen Pietro Danielo vorstellen? « In dem weißen Fechtanzug und hinter der Drahtmaske wirkte der Mann so anonym wie ein Roboter. »Ich wünsche mir schon seit langer Zeit, Sie beide gegeneinander kämpfen zu sehen.« Er bot Nicholas das Schwert.

»Ich überlasse Ihnen sogar die Waffe des Eroberers. Vielleicht bringt sie Ihnen ja Glück.«

Nicholas ignorierte das Schwert. »Ich kämpfe nicht mit ihm. Ich werde Sie nicht unterhalten, Gardeaux.«

»Pietro, kommen Sie her.«

Der Fechter sprang vom Laufsteg und trat mit gezückter Waffe zu Gardeaux und Nicholas. Rivil und Marple wichen furchtsam vor ihm zurück.

»Zeigen Sie Tanek Ihr Schwert. In letzter Zeit hat er sein Interesse an Fechtwaffen entdeckt.«

Pietro zielte mit dem Schwert in Richtung von Nicholas' Brust.

»Sehen Sie sich die Spitze an, Tanek.«

Die stählerne Spitze schimmerte feucht im starken Deckenlicht.

»Colona. Als ich erfuhr, dass Sie kommen, habe ich einen neuen Vorrat in Medellin bestellt. Pietro braucht Ihnen nur einen winzigen Kratzer zuzufügen, und schon ist es zu spät. Erinnern Sie sich daran, wie klein O'Malleys Wunde war? Aber nur zu Anfang, nicht wahr? Kurze Zeit später formte sich eine winzige Blase um den Kratzer herum. Und als er starb, sah sein Körper wie eine einzige Masse von Blasen und Wunden aus. Der Virus hat ihn von innen gefressen, bis nichts mehr übrig war.«

Nicholas starrte wie gebannt auf die Spitze des Schwerts. »Ich erinnere mich.«

»Wenn Pietro Ihnen jetzt die Haut aufschlitzt, haben Sie keine Chance. Also nehmen Sie das Schwert. Es ist eine Waffe. Sie sind ein cleverer Mann. Nutzen Sie die Gelegenheit.«

»Und wenn ich gewinne, richten Rivil und Marple eine Waffe auf mich und versetzen mir dann einen Stich mit Pietros Schwert.«

»Ich habe nicht gesagt, dass dies die beste Gelegenheit Ihres Lebens ist.«

»Und Sie sitzen da wie Gott und sehen zu, wie Ihr Wille geschieht.«

»Etwas Aufregenderes gibt es einfach nicht«, sagte Gardeaux und hielt Tanek erneut die von ihm mitgebrachte Waffe hin.

»Nehmen Sie sie.«

Pietro schob sein Schwert noch ein bisschen näher an Nicholas'

Brust heran.

»Nehmen Sie sie«, wiederholte Gardeaux in sanftem Ton.

Die Sache ging zu schnell, dachte Nicholas. Noch

fünfundzwanzig Minuten, bis der Raum endlich im Dunkeln lag.

»So wollen Sie ja wohl nicht sterben«, sagte Gardeaux.

Mit einem Mal sah Nicholas Terence vor sich, wie er, sich vor Schmerzen windend, gestorben war, und er trat einen Schritt zurück. »Nein, das will ich nicht.« Er nahm die von Gardeaux gebotene Waffe, machte kehrt und sprang auf den Laufsteg hinauf. »Bringen wir's hinter uns.«

21.35 Uhr

Nell riss die Samtvorhänge vor dem Fenster auf.

Im Auditorium waren sämtliche Lampen an.

Ihre Hand vergrub sich im Vorhangstoff. Dort unten war Nicholas. Gardeaux hatte ihn dorthin gebracht, um ihn zu töten.

»Kommen Sie vom Fenster weg«, sagte Kabler vom anderen Ende des Raums, und sie fuhr zu ihm herum.

»Das können Sie nicht tun. Er ist dort unten. Wissen Sie, was man ihm dort antun wird? «

»Nach Einzelheiten habe ich nicht gefragt.« Er sah sie an. »Es tut mir leid, aber Sie scheinen ein wenig verzweifelt zu sein. Ich fürchte, dass ich ein paar Sicherheitsvorkehrungen treffen muss.« Er zog eine Waffe aus dem Holster und zielte damit auf sie. »Und jetzt kommen Sie zurück und setzen sich. Ich bin nicht wie Calder - ich weiß über Ihre Fähigkeiten Bescheid. Mich überraschen Sie nicht.«

»Sie sind also ernsthaft bereit, mich eigenhändig umzubringen?«

»Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.«

»Aber Sie würden es tun. Macht Sie das nicht zu einem ebensolchen Widerling wie Gardeaux? «

Sein Mund war ein schmaler, zorniger Strich. »Ich werde nie so sein wie er.«

»Das werden Sie, wenn Sie mich umbringen.« Sie ging in Richtung der Tür. »Aber ich glaube nicht, dass Sie es tun.«

»Bleiben Sie hier.«

»Vielleicht lassen Sie zu, dass Gardeaux mich umbringt, aber Sie selbst werden es nicht tun. Wir sind einander ähnlich, wir sind nicht wie sie.« Sie spielte mit seiner Vernunft. »Sie könnten es niemals vor sich rechtfertigen, brächten Sie mich um.«

»Bleiben Sie stehen. Ich kann Sie nicht gehen lassen.«

Sie konnte nicht stehen bleiben. Sie war von panischer Angst um Nicholas erfüllt.

Als ihre Hand den Türgriff umklammerte, murmelte er einen Fluch und warf sich quer durch den Raum. Gleichzeitig fuhr sie herum und versetzte ihm einen gezielten Tritt in den Unterleib.

Mit einem Schrei kippte er nach vorn.

Ein zweiter Tritt in die Lenden und ein Handkantenschlag in sein Genick führten dazu, dass er bewegungsunfähig, aber immer noch nicht bewusstlos war. Doch sie musste dafür sorgen, dass er ihr nicht erneut in die Quere kam. Also nahm sie die Waffe, die er bereits beim ersten Tritt hatte fallen lassen, und hieb ihm den Knauf auf den Kopf.

Endlich klappte er die Augen zu.

Sie öffnete die Tür und rannte den Korridor und die Treppe hinab. Ihr Blick flog auf die Uhr. O Gott, zehn vor zwölf. Keine Zeit, um den Wachmann vor dem Auditorium aus dem Verkehr zu ziehen.

Keine Zeit, um die Lichter zu löschen und Nicholas die Dunkelheit zu geben, ohne die er sicher nicht entkam.

Sie kam zu spät.

23.51 Uhr

Wo, zum Teufel, steckte sie?

Pietro sprang auf ihn zu, berührte ihn beinahe mit der Spitze seines Schwerts und tänzelte davon.

Der Fechter spielte nur mit ihm. Er lieferte Gardeaux eine unterhaltsame Show. Während der letzten zehn Minuten hätte er ihm die Spitze des Schwerts mindestens ein Dutzend Mal problemlos in die Haut stechen können, denn Nichola s fühlte sich unbeholfen wie ein Bär, der eine Waffe in der Tatze schwang. Ihm blieb nichts anderes übrig, als Pietros Angriffen auszuweichen, so gut es ging, damit dieser ihn hoffentlich nicht traf.

Er warf einen Blick auf die Uhr an der Wand.

Acht Minuten vor zwölf.

Er warf einen Blick auf Gardeaux, der in der ersten Reihe saß.

»Und, werden Sie müde, Tanek? « fragte dieser ihn.

Nicholas blockte Pietros Angriff ab und wich vorsichtig zurück.

»Ich hätte gedacht, dass Sie kräftiger sind«, rief Gardeaux.

»Pie tro kann stundenlang weitermachen, wenn er will.«

Sieben Minuten vor zwölf.

Da er nicht länger warten konnte, senkte er sein Schwert.

»Geben Sie etwa auf? Ich bin enttäuscht. Ich hätte gedacht...«

Nicholas hob das Schwert und warf es wie einen Speer in Richtung seines Angreifers. Der Mann schrie, als die Waffe in seinen Oberschenkel fuhr und ihn zu Boden warf.

Nicholas sprang vom Laufsteg und hetzte in Richtung des Sitzes, unter dem hoffentlich seine Waffe lag.

Eine Kugel zischte dicht an seinem Kopf vorbei.

»Halt ihn auf. Aber erschieß ihn nicht, du Narr.«

Nein, Gardeaux verzichtete gewiss nicht auf den Genuss, ihn leiden zu sehen. Er griff unter den Sitz und zerrte die Magnum hervor.

Ehe er allerdings die Waffe auch nur anheben konnte, hatten sie ihn erreicht. Rivil griff ihn an und trat ihm die Pistole aus der Hand. Gardeaux stand vor ihm und lächelte.

Wahrscheinlich hatte er angesichts von Terences Hilflosigkeit ebenso gelächelt, dachte Nicholas, und eine Woge des Hasses überflutete ihn. »Sie Hurensohn.« Er fuhr auf und versetzte Gardeaux einen Schlag ins Gesicht.

Rivil trat Nicholas in den Bauch, und Marple schlug ihm den Knauf seiner Waffe gegen den Kopf, so dass er benommen zu Boden ging.

Gardeaux' Gesicht war über ihm. Seine Lippe war aufgerissen und blutete, und sein Lächeln hatte sich gelegt. »Holt mir Pietros Schwert.«

Während Rivil in Richtung der Bühne ging, versuchte Nicholas, sich zu erheben, doch Gardeaux stellte ihm einen Fuß auf die Brust.

»Fühlen Sie sich hilflos, Tanek? Haben Sie solche Angs t, dass Sie am liebsten kotzen würden? « Rivil reichte ihm Pietros Schwert. »Aber das ist noch nichts im Vergleich zu dem, was Sie in ein oder zwei Tagen erwartet.« Das Schwert zielte auf die Stelle oberhalb von Nicholas' Schulter. »Nicht zu tief.

Schließlich will ich, dass Ihr Tod schön langsam kommt.«

Nicholas sah die Spitze des Schwerts aufblitzen, als sie sich seiner Schulter näherte, und dann trieb Gardeaux die Waffe wenige Millimeter in ihn hinein.

Nicholas biss die Zähne aufeinander, damit ihm kein lauter Schmerzensschrei entfuhr, und Gardeaux zog das Schwert wieder aus ihm heraus.

Warmes Blut strömte aus seiner Schulter, und Nicholas machte die Augen zu.

»Frohes Neues Jahr.«

Gardeaux wirbelte herum.

Zahlreiche Menschen strömten durch die Tür des Auditoriums, und er starrte sie verwundert an. Dann kam auch noch das Orchester herein und bewegte sich unter den Klängen eines bekannten Neujahrsliedes auf die Bühne zu.

»Was in aller Welt hat das zu bedeuten? «

Konfetti wirbelte durch die Luft und Knallfrösche brachen los.

»Frohes Neues Jahr! «

»Mein Gott, da ist der Premierminister«, Gardeaux blickte auf Nicholas hinab. »Rivil, schaffen Sie ihn hier raus! Durch die Hintertür. Sie haben ihn noch nicht gesehen.« Vorsichtig reinigte er Pietros Schwert und schob es unter einen Sitz. Dann zog er ein Taschentuch hervor und tupfte an seiner Lippe herum.

»Marple, das Schwert von Karl dem Großen liegt noch auf dem Laufsteg. Sagen Sie Pietro, dass er es holen soll, ehe einer dieser Narren drüber stolpert.« Er setzte ein Lächeln auf und ging in Richtung der Gäste davon.

Rivil zog Nicholas auf die Füße und zerrte ihn zur Hintertür, doch mit einem Mal trat ihm Nell in den Weg. »Ich kümmere mich um ihn.«

Als er versuchte, sie zur Seite zu schieben, wiederholte sie: »Ich kümmere mich um ihn«, und zog eine Waffe aus den Falten ihres Kleids. Ihre Stimme zitterte. »Lassen Sie ihn los, Sie Schwein.«

Mit einem Schulterzucken ließ Rivil von Nicholas ab. »Nehmen Sie ihn. Gardeaux hat nur gesagt, dass er ihn hier nicht mehr sehen will. Er ist fertig mit ihm. Es wird ihm egal sein, wer ihn jetzt übernimmt.« Er ging in Richtung der Gästeschar davon, von der Gardeaux inzwischen umgeben war.

Sie legte ihren Arm um Nicholas' Brustkorb, schlang seinen Arm um ihre Schulter und sagte: »Stütz dich auf mich, so gut es geht.«

»Das muss ich wohl. Ich fühle mich nämlich nicht allzu gut.«

»Es tut mir leid«, flüsterte sie, und Tränen strömten über ihr Gesicht. »Ich habe versucht - Kabler - ich konnte nicht...«

»Ich bin zu benommen, um zu verstehen, was du da sagst. Am besten erklärst du es mir später noch einmal.« Er blickte über seine Schulter zurück. »Aber was in aller Welt machen die ganzen Leute hier? «

Sie öffnete die Tür. »Ich war zu spät«, sagte sie in gehetztem Ton. »Ich wusste nicht, wie ich die Wache vor der Tür des Auditoriums ablenken sollte, um rechtzeitig bei dir zu sein. Also bin ich zum Orchester gerannt und habe über das Mikrophon verkündet, dass Gardeaux das neue Jahr dort begrüßen will, wo die Athleten ihre größten Triumphe gefeiert haben. Die Menge hat den Wachposten einfach überrannt. Etwas anderes fiel mir nicht ein.«

»Gut.«

»Es war nicht gut«, widersprach sie ihm. »Ich war zu spät. Sie haben dir wehgetan. Wie schlimm ist es? «

»Ein Schlag auf den Kopf und ein Schwertstich in die Schulter.«

Sie rang nach Luft. Schwertstich. Mit was für einem Schwert?«

»Einem sehr üblen. Dem von Pietro. Ich glaube, du schaffst mich besser in ein Krankenhaus.«

»O Gott.«

Er wurde mit jeder Minute benommener. »Bring mich einfach zu Jamie. O. k.? «

Sie nickte und half ihm über den Hof. Als sie die Zugbrücke erreichten, sahen die Wachposten noch nicht einmal auf.

»Du hast gesagt, ich müsste sie loswerden«, sagte sie.

»Sie interessieren sich nicht für uns.«

»Ebenso wenig wie Gardeaux.«

Ihr Griff um seinen Brustkorb verstärkte sich. »Zur Hölle mit ihm.«

Sein Anblick schmerzte sie, und am liebsten hätte er sie getröstet, doch im Augenblick konnte er es nicht. Später. Später nähme er sie in den Arm und hielte sie, so fest es ging.

Die Notaufnahme des Krankenha

uses war hoffnungslos

überfüllt, und Dr. Minot, der verantwortliche Arzt, war nicht in der Stimmung, um auf Nicholas Forderungen einzugehen. »Die Wunde ist nicht tief, Monsieur. Wir werden Ihnen ein paar Antibiotika und eine Tetanusspritze geben. Eine

Blutuntersuchung ist nicht erforderlich.«

» Machen Sie trotzdem eine «, bat Nicholas. » Sie wissen, wie wir Hypochonder sind.«

»Für solche Sachen haben wir keine Zeit. Wenn Sie wollen, schicken wir eine Blutprobe ins Labor. In ein, zwei Tagen haben wir dann die Ergebnisse.«

»Ich brauche sie aber jetzt.«

»Unmöglich. Ich kann nicht...«

Nell trat vor, bis sie nur noch wenige Zentimeter vor dem Doktor stand. »Sie werden es tun.« Ihre Augen blitzten ihn zornig an. »Und zwar nicht morgen, sondern jetzt.«

Der junge Arzt trat unwillkürlich einen Schritt zurück, doch dann sah er sie mit einem gezwungenen Lächeln an. »Aber natürlich, einer so wunderbaren Frau wie ihnen schlägt wohl kaum jemand jemals eine Bitte ab.«

»Wie lange wird es dauern? «

»Fünf Minuten. Länger nicht.« Er zog sich eilig zurück, und Nicholas sah sie mit einem müden Lächeln an. »Was hättest du mit ihm gemacht, wenn er sich nicht bereit erklärt hätte, sich die Blutprobe anzusehen? «

»Das, was erforderlich gewesen wäre. Vielleicht hätte ich mit ihm geschlafen, vielleicht hätte ich ihn aber auch umgebracht.«

Sie setzte sich auf die Kante seines Betts. »Wie fühlst du dich? «

»Beschützt.«

»Auf Bellevigne habe ich dich nicht besonders gut beschützt.«

»So etwas kann passieren. Schließlich hattest du nicht mit Kabler gerechnet. Ebenso wenig wie ich. Wo ist Jamie? «

»Sitzt immer noch im Wartezimmer herum. Sie haben nur einem von uns erlaubt, mit dir zu gehen. Wird Minot sagen können, wie schlimm es ist? «

Er nickte. »Die Mikroben sehen ziemlich eigenartig aus. Unter einem Mikroskop entdeckt man sie auf jeden Fall.«

»Und was machen wir dann? «

Er wich ihrer Frage aus. »Wir sollten die Mikroben erst zählen, wenn es soweit ist...«

»Halt den Mund.« Ihre Stimme zitterte. »Wag es ja nicht, darüber Witze zu machen.«

»In Ordnung.« Er lächelte. »Warten wir es einfach ab.«

Statt nach fünf Minuten kam der Arzt natürlich erst nach einer Viertelstunde zurück, und als er den Raum betrat, runzelte er bedenklich die Stirn. »Na also. Alles vollkommen normal. Die Blutuntersuchung war die reinste Zeitverschwendung. Ich hoffe, dass Sie jetzt zufrieden sind.«

Nell starrte ihn verwundert an.

»Vollkommen normal? « fragte Nicholas.

»Allerdings.«

Mit einem »Gott sei Dank« sank Nicholas in die Kissen zurück.

»Und jetzt verschreibe ich Ihnen ein paar Antibiotika und ein leichtes Beruhigungsmittel wegen möglicher...«

»Ich brauche ein Telefon«, sagte Nicholas und setzte sich wieder auf. »Hier gibt es keins.«

»Sie können eins benutzen, nachdem ich...« Nach einem Blick auf Nell sagte der Arzt: »Ich sage der Schwester, dass sie eins bringen soll«, und verließ fluchtartig den Raum.

»Wie ist das möglich? « flüsterte Nell. »Ein Wunder? «

»Kein Wunder«, widersprach Nicholas, schnappte sich den Hörer des Telefons, das ihm gebracht worden war, und wählte die Nummer von Gardeaux. »Viel simpler als das.«

Als Nicholas mit Gardeaux verbunden wurde, war dieser nach wie vor im Auditorium. Die Party war immer noch in vollem Schwung.

»Würden Sie mich bitte entschuldigen? « fragte Gardeaux, als sich einer seiner Angestellten mit dem tragbaren Telefon näherte. »Jemand, der so spät noch anruft, braucht vielleicht Hilfe.«

»Oder einen weiteren Drink«, lachte der Premierminister vergnügt. »Sagen Sie ihm einfach, dass er auf die Party kommen soll. Sie haben den besten Wein, den es in ganz Frankreich gibt.«

Gardeaux lächelte und zog sich in eine ruhige Ecke zurück. Er hätte den Anruf ignorieren können, aber das Vergnügen, mit Tanek zu sprechen, nähme er sich nicht. »Was gibt's? « fragte er. »Kommt allmählich Panik in Ihnen auf? Aber alles Flehen der Welt nützt Ihnen nichts. Sie wissen, dass es kein Gegenmittel gibt.«

»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass das Schwert von Karl dem Großen eine Fälschung ist.«

Vor Zorn wurde Gardeaux siedendheiß. »Das würden Sie selbst dann sagen, wenn es echt wäre.«

»Es wurde von Hernando Armandariz in Toledo gemacht.

Prüfen Sie es nach.«

Gardeaux nahm einen beruhigenden Atemzug. »Das Schwert ist egal. Ich habe gewonnen. Sie sind ein toter Mann. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen, ich muss zu meinen Gästen zurück.«

»Ich will Sie nicht länger aufhalten. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass morgen früh ein Kurier aus dem Krankenhaus ›Unsre Liebe Frau‹ zu Ihnen kommen wird.« Er machte eine Pause. »Und dass Sie vielleicht mal in den Spiegel sehen sollten.« Mit diesen Worten hängte er ein.

Gardeaux blickte mit gerunzelter Stirn auf das Telefon. Die Bedeutung von Taneks Worten war ihm nicht klar. Natürlich würde er in keinen Spiegel sehen. Sollte er sich wegen dem, was er getan hatte, vielleicht als eine Art Monster sehen?

Er war der Sieger dieses Duells. Es gab also keinen Grund, weshalb...

Sein Bild im Badezimmerspiegel sah wie immer aus. Es war das Bild eines erfolgreichen, mächtigen Mannes, eines Eroberers.

Gerade als er sich abwenden wollte, fuhr er allerdings noch einmal herum.

Nicholas hatte ihm mit seinem Fausthieb die Lippe aufgerissen, und nun fiel das Licht geradewegs auf diesen Schnitt.

Als Gardeaux die winzigen Bläschen in der Umgebung der Wunde sah, entfuhr ihm ein erbärmlicher Schrei.

»Colona?« Nell schüttelte verwundert den Kopf, während sie Nicholas vor dem Krankenhaus in den Wagen half. »Gardeaux hat Colona? Das ist vollkommen verrückt. Ich verstehe überhaupt nichts mehr.«

»Es hat also funktioniert? « Jamie, der auf dem Fahrersitz saß, drehte sich zu ihnen um, und sein Gesicht wurde von einem fröhlichen Lächeln erhellt. »Du hast den Bastard tatsächlich zur Strecke gebracht? «

»Ganz bestimmt.« Nicholas lehnte sich auf seinem Sitz zurück.

»Wir werden es morgen überprüfen, aber ich wette, er ist im Augenblick auf dem Weg ins nächste Krankenhaus.«

»Wie das? « fragte Nell.

Nicholas nahm sein Taschentuch und zog vorsichtig den Siegelring von seinem Mittelfinger. »Eine moderne Version des Giftrings, wie er in der Renaissance gang und gäbe war. Ich fand ihn passend, denn schließlich hat Gardeaux eine Vorliebe für diese Zeit.« Er legte den Ring in das Taschentuch und band die vier Ecken zusammen, ehe er das Päckchen in den

Aschenbecher des Wagens schob. »Bei Druck öffnet sich die Initiale in der Mitte und gibt eine kleine Menge des Giftes frei.«

Nell erschauderte, als ihr klar wurde, dass Nicholas den Ring die ganze Zeit über getragen hatte, als er in die Kämpfe mit Gardeaux' Männern verwickelt gewesen war.

»Ich habe schon aufgepasst.« Wieder einmal wusste Nicho las, was ihr durch den Kopf gegangen war.

»Du hast Glück gehabt«, sagte sie. »Aber woher hattest du das Gift? «

»Von dort, woher auch Gardeaux es bezieht. Aus Medellin. Von Paloma und Juarez.«

Paloma und Juarez. Sandequez' Partner im Drogenkartell. »Sie haben dir das Gift gegeben, damit du einen ihrer eigenen Männer zur Strecke bringst? «

»Nicht sofort. Ich habe zwei Wochen lang wie auf glühenden Kohlen in Medellin gesessen und darauf gewartet, dass sie sich entscheiden. Es hätte auch anders ausgehen können. Erst heute abend, also in letzter Minute, wurde klar, dass ich von ihnen nicht betrogen worden bin.« Abermals lehnte er sich müde in seinem Sitz zurück. »Es fiel alles auseinander, und ich musste etwas tun. Ich dachte, dass Sandequez' Tod vielleicht der Schlüssel zu allem war. Also bin ich nach Paris gefahren und habe Pardeau ein bisschen unter Druck gesetzt. Er war derjenige der Buch führte über die Belohnung, die von der

kolumbianischen Drogenbehörde an Gardeaux bezahlt worden war, also habe ich ihm erklärt, ich wäre unterwegs nach Medellin, und entweder bekäme er es mit Gardeaux oder aber mit dem gesamten kolumbianischen Drogenkartell zu tun. Am Ende hat er mir die Bücher gegeben.«

»Und du hast sie Paloma und Juarez gebracht als Beweis, dass Gardeaux für Sandequez' Ermordung verantwortlich war.«

»Was ihnen ganz und gar nicht gefallen hat. Eintracht ist ihnen das Wichtigste, denn nur durch sie ist ihr Leben garantiert.

Wenn Gardeaux für Sandequez' Tod verantwortlich war, wer hätte sagen können, ob er nicht weiter am bestehenden Machtgefüge sägen würde, indem er sie einen nach dem anderen erledigte. Andererseits gilt es als schlechte Politik, wenn man eine Lücke in den eigenen Reihen eingesteht, und Gardeaux war ein ziemlich wertvoller Mann für sie. Von daher bestand durchaus die Möglichkeit, dass sie das Risiko eingehen würden, ihn bei der Stange zu halten.«

»Aber sie kamen zu dem Schluss, dass es besser wäre, einen Verräter wie ihn los zu sein? «

»Ich sagte, ich würde die Angelegenheit für sie bereinigen.

Wenn Gardeaux von einem Außenseiter getötet würde, wäre ihr größtes Problem gelöst, und nach zwei Wochen gaben sie mir endlich grünes Licht. Gardeaux hatte eine neue Sendung Colona bestellt, und sie wollten dafür sorgen, dass er statt des Serums irgendeine harmlose Flüssigkeit bekam. Mich hingegen haben sie mit dem Giftring und den besten Wünschen auf den Weg geschickt.«

»Warum hast du mir nichts davon erzählt? « fragte Nell erbost.

»Weil ich nicht sicher war, dass es stimmte. Immerhin bestand durchaus die Möglichkeit, dass sie mich ebenfalls in den Tod schicken wollten, dass sie das Serum nicht ausgetauscht hatten und dass der Ring gar kein Colona enthielt. Oder dass nicht nur der Ring, sondern auch Pietros Schwert vergiftet war. Auf diese Weise wären sie uns beide los gewesen. Es gab einfach zu viele Unwägbarkeiten, um sicher zu sein.«

»Und warum habe ich die Waffe versteckt, wenn du bereits mit dem Ring ausgestattet warst? «

»Als zusätzliche Sicherheit. Ich wusste, dass Gardeaux' Männer mich nicht in seine Nähe lassen würden. Darum wollte ich, dass du die Lichter löschst. Ich dachte, dann käme ich vielleicht nahe genug an ihn heran.«

Doch diese Chance hatte er gar nicht erst gehabt. »Ich habe es einfach nicht rechtzeitig geschafft.«

»Immerhin hatte ich ja noch die Waffe, die von dir unter dem Sitz versteckt worden war. Nur weil ich mit der Magnum herumgefuchtelt habe, kam er überhaupt nahe genug an mich heran.« Er schüttelte den Kopf. »Fast hätte ich es nicht geschafft.«

»Aber du hast es geschafft«, mischte sich Jamie ein. »Und was kommt als nächstes? Meinst du, dass Gardeaux dir irgendwelche Killer auf den Hals hetzen wird? «

»In spätestens vierundzwanzig Stunden wird ihn nichts mehr interessieren außer ihm selbst.«

»Wohin fahren wir? Zum Haus? «

»Nein«, sagte Nell. »Ich will nach Paris zurück.«

Nicholas nickte. »Warum nicht? Jamie, ich will, dass du Pardeau für ein, zwei Tage in Sicherheit bringst, bis wir bezüglich Gardeaux' Zustands sicher sind. Ich habe ihm versprochen, dass ihm nichts passiert.«

»Aber natürlich schützen wir sämtliche Schweine und Idioten, die es in unserer Mitte gibt«, sagte Nell in erbostem Ton.

Jamie bedachte sie mit einem vorsichtigen Blick und ließ den Motor an.

»Bist du sehr böse auf mich? « fragte Nicholas leise, und als Nell nicht reagierte, schloss er die Augen. »Dann ruhe ich mich vielleicht besser aus, damit ich wieder bei Kräften bin, wenn das große Gefecht beginnt. Weck mich, wenn wir in Paris angekommen sind.«

Nell warf die Tür ihres Appartements hinter sich ins Schloss.

»Geh ins Bett. Ich gehe in die Apotheke und hole dir deine Medizin.«

»Das ist nicht erforderlich.«

»O doch. Oder meinst du vielleicht, dass ich dazu auch nicht in der Lage bin? «

»Also gut, mach deinem Ärger Luft«, seufzte Nicholas.

»Du hättest mich dir helfen lassen sollen.«

»Das habe ich getan.«

»Du hättest mir von dem Colona erzählen sollen. Du hättest mich einbeziehen können.«

»Ja, das hätte ich.«

»Statt dessen lässt du mich im dunkeln tappen, während du...«, sie unterbrach sich und fuhr müde fort: »Vielleicht hattest du recht. Noch nicht einmal das bisschen, was ich tun sollte, habe ich richtig gemacht. Um ein Haar hätten sie dich umgebracht.«

»Du hast getan, was du konntest.«

»Aber es war nicht genug. Ich hätte Kabler schneller ausschalten sollen. Ich hätte rechtzeitig im Auditorium sein sollen, um das Licht auszumachen.« Abermals brach sie in Tränen aus. »Ich habe dich im Stich gelassen, verdammt.«

»Das hast du nie getan. Schließlich bist du nicht Superfrau. So etwas passiert«, sagte er rauh, trat auf sie zu und nahm sie in den Arm. »Und der Grund, weshalb ich dir nichts von dem Colona erzählt habe, war, dass ich nicht wollte, dass du auch nur in die Nähe dieses Zeugs gelangst. Ich habe gesehen, was aus Terence geworden ist. Der Gedanke, dass du damit in Berührung kommen könntest, war einfach unerträglich für mich.«

»Also bist du lieber selbst das Risiko eingegangen, das mit dem Gift verbunden war. Was meinst du, wie es mir ging, als du mir erzählt hast, dass die Wunde...«

»Wie ging es dir, Nell? «

»Du weißt genau, wie es mir ging.«

»Ich will, dass du es mir sagst, Nell. Sag es mir nur ein einziges Mal.«

»Ich fühlte mich schuldig, ich hatte Angst und...«

»Du wolltest mich nicht verlieren.«

»Also gut, ich wollte dich nicht verlieren.«

»Warum? «

»Weil ich mich an dich gewöhnt habe, weil du...«

»Warum? «

»Weil ich dich liebe, verdammt.« Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. »Und weil es weh tut. Ich wollte nicht, dass das passiert. Es hätte nicht passieren dürfen. Ich habe so dagegen angekämpft. Du bist der letzte Mensch - du mit deinen verdammten Schutzzäunen um dich herum. Du wirst sterben, genau wie Jill gestorben ist. Aber den Gedanken, dass so etwas noch einmal passiert, ertrage ich nicht.«

»Wir alle sterben. Ich kann dir nicht versprechen, dass ich ewig leben werde.« Er nahm sie fester in den Arm. »Aber ich kann dir versprechen, dass ich dich lieben werde, solange ich am Leben bin.«

»Das reicht nicht. Das will ich nicht. Verstehst du mich? « Sie schob ihn fort. »Ach, geh doch ins Bett. Ich will dich nicht mehr sehen. Ich hole dir jetzt deine Medizin.« Sie schnappte sich ihre Handtasche vom Tisch und ging zur Tür. »Und es bedeutet nicht - ich komme schon darüber hinweg.«

»Darauf verlass dich lieber nicht.« Er lächelte. »Ich denke, am besten akzeptieren wir es und machen das Beste draus.«

Sie warf die Tür hinter sich ins Schloss und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken aus dem Gesicht. Akzeptieren?

Sie konnte es nicht akzeptieren. Es hatte ihr das Herz zerrissen, Nicholas verwundet zu sehen und zu denken, dass er vielleicht starb.

All der Schmerz, von dem sie nach Jills Tod beinahe zerstört worden war, war mit Macht zurückgekehrt und hatte gedroht, sie zu überwältigen. Sie hielt es einfach nicht aus.

Sie konnte es nicht akzeptieren, jetzt und auch in Zukunft nicht.