4. Kapitel
»Sie wollten mich sehen? « Nell blickte auf und entdeckte Tanek in der Tür. Nur mit Mühe unterdrückte sie den plötzlich in ihr aufwallenden Zorn. »Kommen Sie rein«, sagte sie knapp.
Er trat an ihr Bett. Er trug Jeans und ein cremefarbenes Sweatshirt. Diese Kleidung sah ebenso natürlich an ihm aus wie der Smoking, in dem er ihr zum ersten Mal begegnet war. Es war immer Tanek, der einem ins Auge stach, niemals das, was er trug.
Er setzte sich auf einen Stuhl. »Ich dachte, Sie wären die Verbände inzwischen los.«
»Übermorgen. Der Gips ist ab, aber Joel wollte, daß die Naht erst ganz verheilt.« Dann ging sie zum Angriff über. » Sie kennen den Mann, der Jill ermordet hat, nicht wahr? «
Er tat gar nicht erst so, als verstünde er sie nicht. »Ich dachte mir bereits, daß Sie mich das fragen würden. Ja, ich glaube, ich weiß, wer er ist.«
»Sind Sie ein Terrorist? «
Ein Lächeln umspielte seinen Mund. »Wenn ich einer wäre, denken Sie, das gäbe ich zu? «
»Nein, aber ich dachte, ich bekäme vielleicht eine Antwort.«
Er nickte beifällig. »Sehr gut.«
Sein Beifall war ihr egal, an etwas anderem als Antworten war sie nicht interessiert. »Ich glaube nicht, daß es ein Überfall von Terroristen war.«
»Tatsächlich? Alle anderen scheinen dieser Ansicht zu sein.«
»Ich war nicht im Ballsaal. Welches Interesse hätte ein Terrorist wohl gerade an mir? «
Er kniff unmerklich die Augen zusammen. »Ja, welches
Interesse hätte ein Terrorist wohl gerade an Ihnen? «
»Ich weiß es nicht.« Sie bedachte ihn mit einem
herausfordernden Blick. »Wissen Sie's? «
»Vielleicht hat sich Gardeaux von Ihnen auf den Schlips getreten gefühlt.«
Sie sah ihn verwundert an. »Gardeaux? Wer ist Gardeaux? «
Erst als er aufatmete, merkte sie, wie angespannt er zuvor gewesen war. »Ein höchst unangenehmer Mensch. Ich bin froh, daß Sie ihn nicht kennen.«
Offenbar hatte er den Namen nur fallengelassen, um ihre Reaktion darauf zu sehen. Gardeaux. Sie speicherte den Namen in ihrem Gedächtnis ab. »Warum haben Sie darauf bestanden, an jenem Abend mit mir in unsere Suite zu gehen? Wollten Sie sicher gehen, daß der Mörder wußte, wo ich zu finden war? «
»Nein, ich denke, er hatte einen vollständigen Plan vom Haus und wußte bereits, ehe er die Insel erreichte, wer in welchem Zimmer war.« Er begegnete ihrem Blick. »Und das letzte, was ich gewollt hätte, wäre, Sie verwundet oder ermordet zu sehen.«
Sie musste sich zwingen, fortzusehen. Er wollte, daß sie ihm glaubte, und sein Wille war sehr stark. Aber sie sollte ihm nicht glauben. Sie sollte niemandem trauen, am wenigsten ihm. »Wer hat meine Tochter umgebracht? «
»Ich glaube, ein Mann namens Paul Maritz.«
»Warum haben Sie das nicht der Polizei gesagt? «
»Die geben sich mit der Vorstellung zufrieden, daß es ein gegen Kavinski gerichteter Überfall von Terroristen war.«
»Und dieser Maritz ist kein Terrorist? «
Er schüttelte den Kopf. »Er arbeitet für Philippe Gardeaux. Aber die Polizei wird ihn wegen des Mordes an Ihrer Tochter nicht behelligen.«
Wieder Gardeaux. »Werden Sie mir erzählen, was das alles soll, oder muß ich Ihnen jede Information einzeln aus der Nase ziehen? «
Er lächelte schwach. »Sie machen Ihre Sache so gut, daß ich dachte, ich sollte Sie noch eine Weile weiterfragen lassen.
Gardeaux ist ein Verteiler. Er ist die direkte Verbindung zwischen Europa und dem Mittleren Osten. Er gehört zu einer Abteilung des kolumbianischen Drogenkartells, dessen Bosse Ramon Sandeques, Julio Paloma und Miguel Juarez sind.«
»Verteiler? «
»Er verteilt Drogen an Dealer und Geld an andere Leute, um der Organisation den Weg zu ebnen. Maritz arbeitet für ihn.«
»Und Gardeaux hat Maritz auf mich angesetzt? Aber warum auch auf Jill?«
»Sie stand ihm im Weg.«
Was für ein simpler Satz. Ein Kind stand im Weg, also wurde es umgebracht.
»Ist alles in Ordnung? « Er sah sie fragend an, und mit einem Mal war es um ihre Fassung gesehen.
»Nein, nichts ist in Ordnung.« Sie blitzte ihn zornig an. »Ich bin wütend und krank, und ich will, daß er stirbt.«
»Das dachte ich mir.«
»Und Sie sagen, daß noch nicht einmal versucht werden wird, ihn vor Gericht zu stellen? «
»Nicht wegen des Mordes an Ihrer Tochter. Vielleicht finden sie einen anderen Grund, um ihn zu verhaften.«
»Aber das bezweifeln Sie.«
»Gardeaux schützt seine Männer, denn alles andere brächte ihn selbst in Gefahr. Ein Großteil des Geldes, das er verteilt, geht an Polizisten und Richter.«
Sie starrte ihn ungläubig an. »Wollen Sie damit etwa sagen, daß er Morde begehen kann, ohne daß es irgendwen interessiert? «
»Es interessiert Sie«, sagte er ruhig. »Und es interessiert mich.
Aber wir reden hier über Milliarden von Dollar. Gardeaux braucht nur mit dem Finger zu schnippen, und mit einem Mal hat ein Richter ein Haus an der Riviera und genug Geld, um sich zur Ruhe zu setzen und wie ein König zu leben. Selbst wenn Sie jemanden finden würden, der bereit wäre, Maritz vor Gericht zu stellen, würde Gardeaux dafür sorgen, daß die Geschworene n auf seiner Seite sind.«
»Ich kann einfach nicht glauben, daß das wahr sein soll.«
»Dann glauben Sie es nicht, aber trotzdem ist es wahr.«
Die Gleichgültigkeit seines Tons überzeugte sie. Dies schien kein Überredungsversuch, sondern die Feststellung einer Tatsache zu sein. »Dann meinen Sie also, daß ich Maritz einfach vergessen soll? «
»Ich bin nicht verrückt. Das werden Sie niemals tun. Ich bitte Sie nur, mir die Sache zu überlassen. Ich werde dafür sorgen, daß Maritz gemeinsam mit Gardeaux zur Strecke gebracht wird.«
»Zur Strecke gebracht? «
Tanek lächelte.
»Sie werden ihn umbringen«, flüsterte sie.
»Bei der erstbesten Gelegenheit. Schockiert Sie das? «
»Nein.« Vor Medas hätte es sie schockiert, aber jetzt nicht mehr.
»Warum tun Sie das? «
»Egal.«
»Sie wissen genauestens über mich Bescheid, aber offenbar wollen Sie nicht, daß ich auch nur ansatzweise erfahre, was für ein Mensch Sie sind.«
»Genau. Das einzige, was für Sie von Interesse ist, ist, daß ich mich seit über einem Jahr mit der Sache beschäftige, und zwar mit derselben Leidenschaft wie Sie.«
»Nein.« Soviel Hass und Leidenschaft, wie sie im Augenblick empfand, gab es auf der ganzen Welt nicht mehr.
»Das sagen Sie, weil Sie im Moment Scheuklappen tragen.
Sobald Sie allerdings andere Standpunkte wahrne hmen werden, werden Sie...«
»Wo ist er? «
»Maritz? Keine Ahnung. Wahrscheinlich hat er unter Gardeaux'
Fittichen Schutz gesucht.«
»Und wo ist Gardeaux? «
»Nein«, stellte Tanek entschieden fest. »Gardeaux und Maritz sind ein Doppelpack, und der gehört alleine mir. Sobald Sie auf Gardeaux' Spielplatz auftauchen, sind Sie eine tote Frau.«
»Dann zeigen Sie mir, wie man so etwas macht, ohne daß man dabei stirbt.«
»Der einzige Weg, nicht zu sterben, ist der, sich von den beiden fernzuhalten. Sehen sie, Maritz hat als Frontkämpfer in Südostasien gedient. Er kennt mehr Arten zu töten, als Sie zählen können. Gardeaux hat schon Männer umbringen lassen, nur weil sie ihm sanft auf die Zehen getreten sind.«
»Aber Sie denken, daß Sie die beiden kriegen können.«
»Ich werde sie kriegen.«
»Bis jetzt haben Sie sie noch nicht. Warum brauchen Sie so lange dazu? «
Sie hatte einen Nerv getroffen, und mit zusammengepreßten Lippen knurrte er: »Weil ich leben will, verdammt. Ich habe nicht die Absicht, Gardeaux zu töten und mir anschließend selbst die Radieschen von unten anzusehen. Das wäre kein Sieg.
Ich muß einen Weg finden, auf dem ich ihn zur Strecke bringen kann, ohne...«
»Dann verfolgen Sie ihn doch nicht mit derselben Leidenschaft wie ich.« Sie begegnete seinem Blick und fügte schlicht hinzu:
»Es ist mir egal, was aus mir wird, nachdem ich ihn getötet habe. Das einzige, was ich will, ist, daß er stirbt.«
»Himmel.«
»Also zeigen Sie mir, wie es geht, benutzen Sie mich. Ich werde es für Sie tun.«
»Den Teufel werden Sie tun.« Er stand auf und wandte sich zum Gehen. »Halten Sie sich aus der Sache raus.«
»Warum sind Sie so wütend auf mich? Wir haben doch beide dasselbe Ziel.«
»Verdammt, hören Sie mir zu. Gardeaux hat es auf Sie abgesehen.« Er öffnete die Tür. »Und ich opfere keine lebendige Ziege, nur, weil mir dann vielleicht der Tiger vor die Flinte läuft.«
»Warten sie.«
»Warum? Ich denke, wir haben alles gesagt.«
»Weshalb wissen Sie so viel über mich? «
»Ein Freund hat eine Akte über Sie angelegt. Ich mußte wissen, weshalb Sie für Gardeaux von Interesse sind.«
»Aber das haben Sie nicht herausgefunden.« Sie zuckte frustriert mit den Schultern. »Wie hätten Sie das auch herausfinden sollen? Es gibt keinen Grund. Das Ganze ergibt einfach keinen Sinn.«
»Es gibt einen Grund. Wir kennen ihn nur noch nicht. Aber ich arbeite weiter daran. Darf ich jetzt gehen? «
»Nein. Sie haben mir immer noch nicht gesagt, weshalb Sie an jenem Abend darauf bestanden haben, mich zu begleiten.«
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, aber mit einem Mal strahlte er eine unmerkliche Anspannung aus. »Weshalb interessiert Sie das? «
»Mich interessiert alles. Ich will es wissen.«
»Meinen Informationen zufolge waren Sie unter Umständen in irgendeinen Coup verwickelt.«
»In was für einen Coup?«
»Das wußte ich nicht. Ich kam zu dem Schluß, daß die
Information in Ihrem Fall wertlos war.«
»Aber das war sie nicht? «
»Nein, verdammt. Sind Sie jetzt zufrieden? Ich habe eine falsche Entscheidung getroffen, und deshalb hat Maritz Sie erwischt.«
Sie sah ihn aufmerksam an. »Sie geben sich die Schuld an dem, was geschehen ist. Darum haben Sie sich auch die Mühe gemacht, mich hierher zu verfrachten.«
Sein Lächeln war ohne jede Spur von Humor. »Ist es nicht tröstlich zu wissen, daß Ihnen außer Maritz noch ein Sündenbock zur Verfü gung steht? «
Es wäre tröstlich, und sie wünschte sich von ganzem Herzen, sie könnte ihn als den Schuldigen an ihrem Elend sehen. »Ich gebe Ihnen nicht die Schuld an dem, was vorgefallen ist. Sie konnten nichts dazu.«
Er riss überrascht die Augen auf. »Das ist sehr großzügig von Ihnen.«
»O nein. Sie wußten es einfach nicht. Sie waren nicht da, als Maritz kam.«
»Aber ich hätte da sein können.«
»Ja, das hätten Sie. Wenn Sie sich unbedingt schuldig fühlen wollen, dann tun Sie's ruhig.« Und leidenschaftlich fügte sie hinzu: »Ich will, daß Sie sich schuldig fühlen, denn dann helfen Sie mir vielleicht.«
»Vergessen Sie's.«
»Das werde ich nicht. Ich werde...« Aber er war nicht mehr da.
Ihr Herz klopfte bis zum Hals, und sie spürte, wie ihr Blut pochend durch ihre Adern rann. Er hatte die eisige Hülle der Selbstbeherrschung durchbrochen, von der sie bisher geschützt worden war, aber das war egal. Er wußte, wer Maritz war. Er kannte den Weg zu ihm. Und sie würde eine Möglichkeit finden, um ihn dazu zu bringen, daß er ihr zeigte, wo dieser Weg verlief.
Sie griff nach den elastischen Streckbändern auf dem Nachttisch und schob sich die Schlinge über den linken Fuß. Sie wurde mit jedem Tag kräftiger, denn selbst nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, trainierte sie.
Seit ihrem ersten Alptraum war der Schlaf nicht länger ihr Freund, sondern ihr Feind.
Joel setzte ein durchtriebenes Lächeln auf, als er Nicholas Miene sah. »Du wirkst ein bißchen durcheinander. Habe ich etwa übertrieben? «
»Nein«, war die knappe Erwiderung.
»Wie gesagt, ich mag ihre Selbstbeherrschung nicht.«
»Was? « Er erinnerte sich an die kühle Begrüßung, die ihm durch Nell zuteil geworden war. Aber sobald sie angefangen hatte, ihn anzugreifen, war es um ihre Fassung geschehen, und er hatte nur noch ihre starrsinnige Entschlossenheit und ihren unbeugsamen Willen gesehen.
»Dann verfolgen Sie ihn doch nicht mit derselben Leidenschaft wie ich.«
O ja, sie bewies Leidenschaft, dieselbe blinde Leidenschaft, von der die Jungfrau von Orleans auf den Scheiterhaufen getrieben worden war.
Joel schüttelte den Kopf. »Ich habe gesagt, daß ich...«
»Ich habe dich durchaus verstanden, aber ich glaube nicht, daß wir uns darüber allzu große Sorgen machen müssen. Wann entläßt du sie? «
»In zwei Wochen.«
»Zögere ihre Entlassung noch etwas hinaus.«
»Warum? «
»Sie ist noch nicht bereit.« Ebenso wenig wie er. Sie würde nicht aufgeben, und er mußte einen Weg finden, wie sie sich abschrecken ließ. »Kannst du ihr nicht erzählen, es gäbe irgendeine unerwartete Komplikation? «
»Nein, ich belüge meine Patienten nie. Sie ist bereits seit fast zwei Monaten hier.« Sein Lächeln enthielt eine Spur Boshaftigkeit. »Was ist los, Nicholas? Schließlich hast du mir erzählt, sie wäre nichts weiter als eine nette, sanfte Frau.«
Nicholas war sich nicht sic her, war für eine Frau Nell Calder inzwischen war, aber sie hatte sich derart verändert, daß ihm alles andere als wohl war in seiner Haut. »Vergiß es, Joel. Ohne deine Hilfe schaffe ich es nicht.«
»Tut mir leid, aber meinen Ehrenkodex als Arzt breche ich noch nicht einmal für dich.«
»Dann belüg sie eben nicht, Ihre Knochen sind immer noch nicht ganz zusammengewachsen. Sag ihr, daß du sie
hierbehalten willst, bis alles vollkommen verheilt ist. Schließlich brauchst du ihr Bett im Augenblick für niemand anderen.«
Joel dachte nach. »Ich nehme an, das geht.«
»War Tania schon bei ihr? « fragte Nicholas.
»Noch nicht.«
»Dann sorg dafür, daß das so schnell wie möglich passiert.«
»Meinst du, der Einfluß einer anderen Frau täte ihr gut? «
»Der Einfluss einer anderen Überlebenden täte ihr gut.« Er wandte sich um und winkte Phil zu sich heran. »Paß bloß gut auf sie auf.«
Phil tat so, als wäre er verletzt. »Ich kümmere mich um Nell, als wäre sie meine Tochter, Nick.«
»Das weiß ich.« Nicholas lächelte. »Aber sorg auch dafür, daß sie uns nicht plötzlich unbemerkt entwischt. O. k.? «
Phil nickte. »Ich mag sie. Ich habe ihr erzählt, daß ich am College Informatik studiert habe, und sie ist ehrlich daran interessiert. Sie hat mir schon alle möglichen Fragen über Computer gestellt.«
Ihr Interesse an Computern war ein Garant dafür, daß ihr Phils Zuneigung sicher erhalten blieb. »Was für Fragen? «
Phil zuckte mit den Schultern. »Alles mögliche.«
Vielleicht hatten ihre Fragen ja keinen verborgenen Sinn. Oder vielleicht hatte sie einfach instinktiv erkannt, wie sich Phils Freundschaft gewinnen ließ. Der Frau, der er auf Medas begegnet war, hätte er eine derartige Umtriebigkeit nicht zugetraut, aber inzwischen war Nell eine unbekannte Größe für ihn. »Sieh einfach zu, daß du immer weißt, was sie tut.«
»Das mache ich auch, ohne daß du es mir extra sagst.« Mit diesen Worten kehrte Phil in Nells Zimmer zurück.
»Netter Junge«, sagte Joel. »Und ein guter Krankenpfleger dazu.«
»Du klingst überrascht. Ich habe dir doch gesagt, daß du ihn mögen wirst.« Doch dann kam er auf sein ursprüngliches Thema zurück. »Du schickst also Tania zu ihr? «
»Warum nicht? Sie ist sowieso schon ganz versessen darauf, Nell endlich kennen zu lernen.« Er machte eine Pause. »Du machst dir Sorgen, weil du nicht weißt, was sie nach ihrer Entlassung ohne unseren Schutz anstellen wird. Sie weiß, daß irgendjemand versucht hat, sie umzubringen. Da wird sie doch bestimmt vorsichtig sein.«
»Vorsichtig? Ich denke, selbstmörderisch wäre ein passenderes Wort.«
»Du weißt, wer versucht hat, sie umzubringen«, sagte Joel, und mit einem Mal riß er die Augen auf. »Hast du es ihr etwa erzählt? «
»Es war der berühmte Dominoeffekt. Ich mußte ihr irgendetwas geben. Außerdem hatte sie es verdient, daß ihr jemand den Namen des Mörders ihrer Tochter nannte.«
Joel schüttelte den Kopf. »Das war ein Riesenfehler.«
»Vielleicht. Ich habe schon öfter Fehler gemacht.« Er wandte sich den Fahrstühlen zu. »Aber im Augenblick ist
Schadenbegrenzung das einzige, was ich noch machen kann.«
»Warte. Jemand hat für dich angerufen.« Er suchte in seiner Jackentasche und zog einen Zettel hervor. »Jamie Reardon. Er ist in London und will, daß du dich umgehend mit ihm in Verbindung setzt.«
Nicholas nahm den Zettel entgegen. »Bekomme ich den Apparat in deinem Büro? «
»Wenn's sein muss.« Joel wies auf eine Tür am unteren Ende des Korridors. »Offenbar bin ich einzig aus dem Grund auf der Welt, um dir von Nutzen zu sein.«
»Es freut mich, daß du dein Schicksal endlich akzeptierst«, stellte Nicholas mit regloser Miene fest, während er in Richtung des Büros schlenderte. »Auch wenn es ein bißchen gedauert hat.«
Hinter sich hörte er Joels unterdrückten Fluch.
Immer noch lächelnd erreichte er Jamie im Brown Hotel. »Hast du was rausgefunden? «
»Conner hat den Namen von Kablers Spitze
l bei Gardeaux
rausgekriegt. Er ist hier in London. Ein gewisser Nigel Simpson, Buchhalter. Soll ich versuchen, ihn dazu zu überreden, daß er in Zukunft nicht nur Kabler, sondern auch uns mit Informationen versorgt? «
Erregung wallte in Nicholas auf. »Bist du sicher, daß er derjenige ist, von dem Kabler seine Informationen bekommt? «
»Conner sagt, daß er es ist, und das Kaninchen ist viel zu ängstlich, um so etwas mit Bestimmtheit zu sagen, wenn er nicht ganz sicher ist. Wie sieht's aus, soll ich diesen Simpson nun kontaktieren oder nicht? «
»Nein, das mache ich lieber selbst. Aber laß ihn nicht aus den Augen, bis ich bei dir bin.«
»Kein Problem. Er verbringt die Nacht im Appartement seines Lieblingscallgirls. Ich glaube nicht, daß er sich noch groß bewegen wird.« Jamie kicherte. »Außer natürlich in der Frau.
Ich nehme an, daß sie ihn wohl zu ein bißchen Bewegung animieren wird. Sie ist dafür berühmt, eine ziemlich verrückte Lady zu sein. Ich warte in einem der alten schwarzen Rolls-Royce-Taxis am Milford Place Nummer 23 auf dich.« Er seufzte. »Weißt du, man sieht die Dinger immer seltener hier.
Stattdessen fahren fast nur noch windschnittige Monstrositäten durch die Stadt, denen jeder Sinn für die Geschichte fehlt.
Traurig.«
»Sieh zu, daß dir Simpson nicht durch die Lappen geht.«
»Das wird er nicht. Habe ich dich jemals enttäuscht? «
»Ah, Sie sind wach. Das ist gut.«
Nell blickte auf und sah eine große, langbeinige brünette Frau in Jeans, einem Männerhemd mit hochgerollten Ärmeln und einer Lederweste im Türrahmen stehen.
Die Fremde lächelte. »Darf ich hereinkommen? Sie kennen mich nicht, aber ich habe das Gefühl, als kenne ich Sie. Ich bin Tania Viados.«
Der Name weckte eine Erinnerung in Nell. »Sie haben mir die Blumen geschickt.«
Die Frau nickte und trat ein. »Haben sie Ihnen gefallen? Ich habe sie selbst gezüchtet.«
Tania Viados hatte einen schwachen Akzent, der in
auffallendem Gegensatz zu ihrem durch und durch
amerikanischen Auftreten stand.
»Sie waren wunderbar, Miss Viados.«
»Tania.« Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Ich habe das Gefühl, daß wir sehr gute Freundinnen werden, und mein Gefühl hat mich noch niemals getäuscht.«
»Ach nein? «
»Meine Großmutter war Zigeunerin, und sie hat immer gesagt, ich hätte zwar nicht das zweite Gesicht, aber das zweite Gehör.«
Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. »Sie hat gesagt, ich nähme die Echos der Seele wahr.«
»Wie... interessant.«
Tania kicherte. »Sie denken, ich bin verrückt. Das kann ich Ihnen nicht verdenken. Aber es ist wahr.«
»Arbeiten Sie hier in der Klinik? «
»Nein, ich arbeite für Joel. Ich bin seine Haushälterin.« Sie streckte ihre Beine aus. »Und ehe Sie fragen, er teilt zwar sein Haus, nicht aber sein Bett mit mir.«
Nell starrte ihre Besucherin entgeistert an. »Eine solche Frage hätte ich Ihnen niemals gestellt.«
»Nein? Dann würde es Sie sicher überraschen, zu erfahren, von wie vielen Menschen mir diese Frage bereits gestellt worden ist.« In ihren Augen blitzte es boshaft auf. »Meistens erzähle ich dann, er täte es, was ihn wahnsinnig macht. Wissen Sie, er ist ein ziemlich altmodischer Kerl.«
»Nein, das weiß ich nicht.«
Sie nickte. »Während der ersten Wochen bemerkt man nicht allzuviel von dem, was um einen herum geschieht. Man ist zu sehr von seiner Trauer erfüllt. Das habe ich selbst erlebt.«
Nell versteifte sich. »Sie sind keine Haushälterin. Sie sind eine von diesen Psychologinnen, die Joel mir ständig schickt. Aber geben Sie sich keine Mühe, ich bin nicht zu einem Gespräch bereit.«
»Psychologin?« Tania lächelte amüsiert. »Diese Seelenklempner habe ich noch nie gemocht. Als ich hier lag, hat Joel mir auch ständig irgendwelche Psychiater geschickt, aber ich habe ihm ziemlich schnell klargemacht, wie sinnlos das war.«
»Sie waren mal als Patientin hier? «
»Ich war ganz schön vernarbt, als ich aus Sarajevo hierher in die Staaten kam, aber Joel hat mich wieder hingekriegt.« Sie grinste. »Und jetzt habe ich die Absicht, ihn hinzukriegen. Er ist einfach ein Prachtkerl, finden Sie nicht? «
Prachtkerl wäre nicht gerade das Wort, das Nell in Verbindung mit Joel Lieber eingefallen wäre, aber sie sagte: »Ich schätze schon. Ich finde ihn sehr nett.«
»Er ist mehr als nett. Er hat ein großes Herz, was etwas sehr Seltenes ist. Er ist wie eine Rose. Es ist wunderbar zu sehen, wie...«
In diesem Augenblick betrat der Gegenstand ihres Gesprächs den Raum: »Nun, sind Sie für die Enthüllung Ihres neuen Gesichts bereit? «
»Ja.« Tania nickte eifrig mit dem Kopf, und Joel bedachte sie mit einem vernichtenden Blick.
»Eigentlich habe ich mit der Frage meine Patientin gemeint.«
»Ich bin bereit«, sagte Nell.
»Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn Tania bei der Abnahme der Verbände zugegen ist. Seit Ihrer Operation hat sie mir keine Ruhe mehr gelassen, denn sie wollte Sie unbedingt sehen.«
»Ich finde, daß mein Interesse an Ihnen durchaus berechtigt ist«, stellte Tania fest. »Joel hat mir erlaubt, ihm bei der Kreation Ihres neuen Gesichts behilflich zu sein. Ich habe ihm gesagt, daß er den Mund nicht verändern sollte. Sie haben einen großartigen Mund.«
»Danke.« Ein amüsiertes Lächeln huschte über Nells Gesicht.
»Aber ich nehme an, Sie haben ihm geraten, dafür zu sorgen, daß vom Rest nichts mehr übrig bleibt.«
»Mehr oder weniger.«
Joel schüttelte den Kopf: »Tania ist ein wahrhaft taktvoller Mensch.«
Entsetzt stellte Nell fest, daß sie tatsächlich lächelte. Ein echtes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, anders als die Grimassen, die sie sich aufgezwungen hatte, um den anderen zu beweisen, daß sie wieder normale Gefühle empfand.
Tania sah Nell aufmerksam an. »Schon gut«, sagte sie ruhig.
»Sie werden sehen, Lachen ist kein Verrat.« Ehe Nell etwas erwidern konnte, wandte sich Tania an Joel. »Sie findet dich sehr nett, aber sie denkt nicht, daß du eine Rose bist.«
Er starrte sie entgeistert an. »Eine Rose? «
»Du bist eine Rose. Das weiß ich, seit ich dir zum ersten Mal begegnet bin. Du hast so viele verschiedene Facetten und eine innere Schönheit, die von Tag zu Tag stärker erblüht.«
»Oh, mein Gott.«
»Natürlich duftest du nicht wie eine Rose. Eher wie ein Eukalyptusbaum, aber ich...«
Mit einem »Ich hole einen Rollstuhl« flüchtete er aus dem Raum.
Tania stand auf. »Er ist komisch, ja? Es ist seltsam, daß für Männer der Vergleich mit einer Blume nur schwer zu ertragen ist. Ich verstehe nicht, warum sie den Frauen vorbehalten sind.«
»Ich muss gestehen, daß mir der Vergleich ebenfalls etwas ungewöhnlich erschien.« Immer noch lächelte sie. »Aber durchaus interessant.«
»Joel braucht es, daß man ihn regelmäßig aus der Fassung bringt.« Tania half ihr in ein pinkfarbenes Bettjäckchen und schloß den obersten Knopf. »Brillante Ärzte sind ständige Bewunderung und Lobhudelei gewohnt. Das ist sehr schlecht für sie.« Sie nickte beifällig. »Schön. Alle Bettjäckchen sollten rosafarben sein. Es ist schön, gleich morgens beim Aufwachen etwas Buntes zu sehen. Eine gute Wahl.«
»Ich fürchte, das Lob gebührt nicht mir. Das Jäckchen ist einfach hier aufgetaucht.«
Tania setzte ein fröhliches Grinsen auf. »Ich habe mich selbst gelobt. Ich habe es ausgesucht.«
»Vielleicht dachten Sie, ich sähe wie eine Rose aus? «
»Ah, ein bißchen Humor. Das ist gut.« Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, Joel ist meine einzige Rose. Ich werde später beschließen, was...«
»Da sind wir wieder.« Gefolgt von dem den Rollstuhl schiebenden Phil kam Joel zurück, doch ehe er sich seiner Patientin zuwandte, bedachte er Tania mit einem strengen Blick.
»Glaubst du, daß du dich anständig benehmen kannst? «
»Nein.« Tania beobachtete, wie Phil Nell sanft in den Rollstuhl half. »Ich bin viel zu aufgeregt.«
»Ach ja? « Ein nachsichtiges Lächeln umspielte Joels Mund.
Er liebt sie, dachte Nell mit einem Mal. Die Blicke, die die beiden austauschten, waren warm, lieb und verständnisvoll, als wären sie seit fünfzig Jahren ein Ehepaar. Die Erkenntnis, daß sie und Richard einander niemals so angesehen hatten, versetzte ihr einen Stich. Vielleicht hätten sie ja mit der Zeit...
»Auf geht's.« Tania legte eine Decke über Nells Knie und winkte Phil. »Schieben Sie sie schon mal rüber. Wir kommen gleich nach.«
»Gefällt es Ihnen? « fragte Tania erwartungsvoll.
Nell starrte verwundert die fremde Frau im Spiegel an.
»Es gefällt Ihnen nicht.« Tania verzog enttäuscht das Gesicht.
»Pst«, sagte Joel. »Gib ihr doch wenigstens eine Chance.«
Nell hob die Hände und tastete vorsichtig an ihren Wangen herum. »Mein Gott.«
»Wenn es Ihnen nicht gefällt, ist das meine Schuld«, sagte Tania entschuldigend. »Joel hat wunderbare Arbeit geleistet.«
»Ja«, stimmte Nell ihr zu. »Eine wunderbare Arbeit. Diese Wangenknochen sind eine Pracht.« Sie merkte, daß sie so unpersönlich sprach, als ginge es um irgendeine Skulptur. Und genauso fühlte sie sich. Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, war ein Kunstwerk, vollkommen faszinierend, nein... bezaubernd war das bessere Wort. Nur ihre braunen Augen und ihren Mund erkannte sie noch. Nein, das war auch nicht wahr. Durch die unmerkliche Abschrägung wirkten ihre Augen größer und leuchtender. Und ihr Mund sah im
Zusammenspiel mit den hohen Wangen und dem kantigen Kiefer überraschend verletzlich und sinnlich aus.
Sie berührte ihr Augenlid. »Was haben Sie hier gemacht? So dunkel war es vorher nicht.«
»Ein kleiner kosmetischer Eingriff.« Joel verzog das Gesicht.
»Tania fand, ein dauerhafter Lidstrich wäre von Vorteil, falls Sie eine begeisterte Schwimmerin sind. Gott bewahre, daß Sie unter Wasser nicht ebenso perfekt aussehen wie an Land.«
»Es ist nur eine ganz dünne Linie. Sie sieht vollkommen natürlich aus«, warf Tania eilig ein. »Ich dachte, wenn wir Sie schon ummodeln, dann gleich ganz.«
»Ich verstehe.« Die beiden sahen sie erwartungsvoll an. »Ich wirke ziemlich... glamourös. Ich hätte mir niemals träumen lassen...«
»Ich habe Ihnen doch das Computerbild gezeigt«, sagte Joel.
Sie erinnerte sich nur noch vage an das Vorbereitungsgespräch mit ihm. »Ich hätte nicht gedacht - ich glaube, ich habe gar nicht gedacht.«
»Sie werden Zeit brauchen, um sich an Ihr neues Aussehen zu gewöhnen. Falls Sie psychologische Beratung brauchen, werde ich...«
Tania stieß ein verächtliches Schnauben aus, doch er ignorierte sie. »Wie gesagt, eine derart drastische Veränderung kann ein wenig traumatisch sein. Vielleicht brauchen Sie Hilfe, um damit zurechtzukommen.«
»Danke, nein.« Schließlich erführe ihr Leben durch ihr neues Aussehen keine besondere Veränderung. Plötzlich dachte sie, vor Medas hätte sie vielleicht ganz anders darauf reagiert. Das
Gesicht, das Joel ihr gegeben hatte, war der Stoff, aus dem der Traum jedes häßlichen Entleins war. Schönheit führte automatisch zu Selbstvertrauen, und diese Charaktereigenschaft hatte ihr früher immer gefehlt. Nun nicht mehr. Auch Zorn verlieh einem Menschen ungeahnte Kraft. Sie hatte keinen Zweifel, daß sie in der Lage wäre, alles zur Erfüllung ihrer Rachepläne Erforderliche zu tun. »Obwohl ich wahrscheinlich jedesmal, wenn ich an einem Spiegel vorbeikomme, zweimal hingucken muss.«
»Genau wie jeder Mann, selbst wenn er Sie nur auf eine Entfernung von hundert Metern sieht«, stellte Joel trocken fest.
»Wahrscheinlich brauchen Sie bald ständig einen Leibwächter, und zwar aus ganz anderen Gründen, als Nicholas denkt.«
»Einen Leibwächter? «
»Ich nehme an, er hat Phil nicht nur als Krankenpfleger engagiert. Nicholas fühlt sich dafür verantwortlich, daß Ihnen nichts passiert.«
Sie runzelte die Stirn. »Phil wurde von Nicholas Tanek eingestellt? «
Joel nickte. »Phil hat schon früher für ihn gearbeitet. Bei ihm sind Sie in Sicherheit. Auf diesem Gebiet hat Nicholas noch nie einen Fehler gemacht.«
»Und er ist derjenige, der Phil bezahlt? «
»Keine Angst, er bezahlt alles, was mit Ihrer Behandlung zusammenhängt.«
»O nein. Schicken Sie die Rechnungen bitte an mich.«
»Lassen Sie Nicholas bezahlen«, mischte sich Tania ein. »Joel ist ein sehr teurer Chirurg.«
»Ich kann es mir leisten. Meine Mutter hat mir etwas Geld vererbt.« Sie sah Tania an. »Sie kennen Tanek? «
Tania nickte. »Schon seit Jahren«, sagte sie geistesabwesend, während sie Nells Haare betrachtete. »Morgen müssen wir unbedingt runter in den Salon. Das Grau stört den Gesamteindruck.«
»Was für ein Grau?« Nell wandte sich wieder dem Spiegel zu und erstarrte, als sie die grauen Haare an ihrer linken Schläfe sah.
»Hatten Sie die vorher nicht? « fragte Tania ruhig.
»Nein.«
»Das passiert manchmal. Nachdem meine Tante hatte zusehen müssen, wie man ihren Mann vor ihren Augen ermordete, wurde ihr Haar mit einem Mal schlohweiß.« Sie lächelte. »Aber bei Ihnen ist nur ein dünnes Strähnchen zu sehen. Ich denke, eine leichte Tönung sähe in Ihrem braunen Haar herrlich aus. Das gäbe Ihnen noch den letzten Chic.«
»Die graue Strähne ist egal.«
»O nein. Ich werde nicht zulassen, daß das von mir kreierte Gesicht einen so dürftigen Rahmen behält.« Sie wandte sich an Joel. »Meinst du, wir können morgen runter in den
Frisiersalon?«
»Da fragst du mich? Ich dachte, es wäre bereits abgemacht.«
Doch dann nickte er. »Ich nehme an, ein Friseurbesuch ist okay.«
Tania wandte sich abermals an Nell. »Morgen früh um zehn?
Ich mache dann den Termin.«
Nell zögerte. Es war nicht gerade ihr dringendster Wunsch, ein paar graue Haare loszuwerden, aber es war klar, daß Tania enttäuscht sein würde, wenn ihre Kreation irgendeinen Makel aufwiese, und Nell mochte die Frau. Was noch ungewöhnlicher war, sie fühlte sich in ihrer Nähe wohl. »Also gut.«
»O ja.« Tania strahlte über das ganze Gesicht. »Ich verspreche Ihnen, daß es Ihnen gefallen wird.«
»Ihr Taxi, Mr. Simpson.« Jamie öffnete schwungvoll die Tü r.
Nigel Simpson runzelte die Stirn. »Ich habe kein Taxi bestellt.«
»Nein, ich glaube, es war eine Dame, die bei uns angerufen hat.«
Vielleicht hatte Christine angerufen, während er unter der Dusche gewesen war. Nach ihren Liebesstunden war sie immer sehr fürsorglich, denn sie glaubte daran, daß sich jeder Stich mit Honig versüßen ließ. Er lächelte, als er daran dachte, was für eine aufregende Gespielin sie in der vergangenen Nacht gewesen war. Die Frau war einfach eine Pracht. Er stieg in das Taxi ein.
Tanek!
Nigels Finger flogen an den Türgriff zurück, doch Tanek legte seine Hand auf seinen Arm. »Nur keine Aufregung«, sagte er sanft. »Wenn ich Gewalt anwenden muß, macht mich das immer sehr unglücklich. Ich habe das Gefühl, Sie erkennen mich. Aber warum? Ich glaube nicht, daß wir uns schon einmal begegnet sind.«
Nigel befeuchtete seine Lippen. »Als Sie letztes Jahr hier in London waren, hat man Sie mir gezeigt.«
»Wer ist ›man‹? Gardeaux? «
»Ich kenne keinen Gardeaux.«
»Ich glaube, doch. Jamie, warum machen wir nicht eine kleine Spazierfahrt durch den Park? Vielleicht können wir Mr.
Simpson dadurch ja ein bißchen auf die Sprünge helfen.«
Jamie nickte und schob sich auf den Fahrersitz.
»Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen«, sagte Nigel und lachte nervös. »Das Ganze muß eine Verwechslung sein.«
»Hat Gardeaux Sie auf mich aufmerksam gemacht? «
»Nein. Ich sagte Ihnen doch schon...« Als er Taneks Blick begegnete, verstummte er. Der Kerl saß vollkommen reglos da und sprach leise, fast freundlich mit ihm, aber mit einem Mal wurde Nigel von kaltem Entsetzen gepackt. »Ich weiß nichts.
Halten Sie an, ich will hier raus.«
»Ich glaube, Sie sind Buchhalter. Sie müssen sehr wertvoll für Gardeaux... und für Kabler sein.«
Nigel erstarrte. »Ich kenne keinen dieser Namen.«
»Ich bin sicher, Gardeaux weiß, wer Kabler ist. Angenommen, ich rufe ihn an und erkläre ihm, daß Sie Kablers Spitzel sind.«
Nigel schloss die Augen. Es war einfach nicht fair. Bisher war alles so gut gegangen, und jetzt tauchte dieser Bastard auf und machte ihm alles kaputt.
»Sie sind ein bißchen blaß«, stellte Tanek fest. »Soll ich das Fenster aufmachen? «
»Sie haben keine Beweise.«
»Die brauche ich auch nicht. Gardeaux geht bestimmt kein unnötiges Risiko ein, nicht wahr? «
Nein, Gardeaux würde lächelnd mit den Schultern zucken, und am nächsten Morgen wäre Nigel ein toter Mann.
Er machte die Augen wieder auf. »Was wollen Sie? «
»Informationen. Ich will regelmäßige und akkurate Berichte. Ich will alles als erster sehen, und dann werde ich entscheiden, was Kable r bekommt.«
»Bilden Sie sich etwa ein, ich wäre der einzige Buchhalter von Gardeaux? Er würde niemals einem einzigen Mann vertrauen.
Keiner von uns kriegt je mehr als einzelne Ausschnitte der Geldtransferlisten zu sehen, und das meiste davon ist auch noch kodiert.«
»Die Namenliste für Medas war nicht kodiert.«
»Aber das, worum es in dieser Liste ging.«
»Was war der Grund für den Überfall? «
»Alles, was ich wußte, habe ich Kabler geschickt.«
»Dann finden Sie mehr heraus. Ich will alles wissen, was es darüber zu wissen gibt.«
»Ich kann unmöglich danach fragen. Das wäre ein übermäßiges
Risiko.«
»Wissen Sie, Nigel.« Tanek sah sein Gegenüber lächelnd an.
»Das ist mir vollkommen egal.«
»Es sieht... seltsam aus.« Nell schüttelte den Kopf, und die blaßgoldenen Strähnen schimmerten im Licht des Salons.
»Es sieht phantastisch aus«, verbesserte Tania. »Und die Frisur paßt zu Ihnen. Lässig und doch elegant.« Sie drehte sich zu der Friseurin um. »Wunderbar, Bette.«
Bette setzte ein zufriedenes Grienen auf. »Es war mir ein Vergnügen. Schließlich hat der Torte nur die richtige Glasur gefehlt. Und jetzt brauchen Sie noch eine neue Garderobe, die zu Ihrem neuen Aussehen passt.«
»Stimmt«, pflichtete Tania ihr bei. »Ich fahre gleich morgen mit ihr in die Stadt.« Doch dann runze lte sie die Stirn. »Nein, damit wird Joel nicht einverstanden sein. Nächste Woche ist vielleicht früh genug.«
»Wir brauchen nicht extra einkaufen zu gehen«, sagte Nell. »Ich rufe einfach die Haushälterin in meinem Pariser Appartement an und sage ihr, daß sie mir ein paar Kleider schicken soll.«
»Das können Sie tun, aber Bette hat recht. Die neue Frau wird erst durch die neue Garderobe komplett.«
Die neue Frau. Diese Worte trafen nicht nur auf Nells äußere Hülle zu. In gewisser Weise war sie in Jills und Ric hards
Todesnacht ebenfalls gestorben und war wiedergeboren in der schmerzhaften Erkenntnis, daß Jill ermordet worden war. Aber die neue Frau wäre auch mit einer neuen Garderobe nicht komplett; innerlich war sie vollkommen hohl. Nun, vielleicht nicht vollkommen, erkannte sie mit einem Mal. Seit Tania in ihr Leben getreten war, hatte sie wieder so etwas wie Wärme, Belustigung und gar Freude gespürt.
»Dränge ich Sie zu sehr? « fragte Tania sie jetzt. »Das ist keine schlechte, aber eine lästige Angewohnheit von mir.«
»Sie sind nicht lästig.« Nell drehte sich zu Bette um. »Was bin ich Ihnen schuldig? «
Bette schüttelte den Kopf. »Ich bin von der Klinik angestellt, und von daher nehme ich noch nicht einmal Trinkgeld an.«
»Dann danke ich Ihnen.« Nell läche
lte. »Sie sind sehr
talentiert.«
»Ich habe mein Bestes getan, aber wie gesagt, das war nur noch die Glasur. Mit diesem Gesicht wären Sie selbst mit einer Glatze schön.«
»Also, machen Sie nun mit mir einen Einkaufsbummel in der Stadt? « fragte Tania, als sie mit ihrem Schützling den Salon verließ.
Nell hatte darüber nachgedacht. Vielleicht wäre eine Fahrt in die Stadt keine schlechte Idee. »Wenn Joel es mir erlaubt.«
»Gut. Ich werde ihm sagen, daß er alles, was wir kaufen, auf Nicholas' Rechnung setzen soll. Dann erlaubt er uns den kleinen Ausflug ganz bestimmt.«
»Warum? Mag Joel Nicholas nicht? «
»Doch, aber ihre Beziehung ist äußerst kompliziert. Joel hat ein sehr ausgeprägtes Konkurrenzdenken.«
Nell sah sie verwundert an.
»Nicholas ist...« Tania zuckte mit den Schultern. »Nicholas.«
»Aber Joel ist ein brillanter Chirurg.«
»Und Nicholas ist überlebensgroß. Es gibt ein paar Männer, die sehr lange Schatten werfen. Und es gefällt Joel nicht, im Schatten irgendeines anderen Menschen zu stehen.« Plötzlich grinste sie. »Also lebt er seine Verärgerung auf die Weise aus, die ihm am besten gefällt. Daß Sie seine Rechnung selbst bezahlen wollen, ist eine große Enttäuschung für ihn.«
Nell wollte ebensowenig in Taneks Schatten stehen.
»Schließlich geht es ja auch um mich.«
Tania sah sie an. »Sie mögen ihn nicht.«
O nein, sie mochte ihn nicht. Sie mochte es nicht, daß er die Barrieren überwand, die sie errichtet hatte, und sie mochte die Grausamkeit nicht, mit der sie von ihm ins Leben
zurückgerissen worden war. Sie mochte es nicht, daß jede Begegnung mit ihm sie an Medas erinnerte. Sie mochte es nicht, daß er sie ausschließen wollte, statt ihr behilflich zu sein. »Ich weiß, daß er Ihr Freund ist, aber mein Fall ist er nicht. Joel ist mir lieber.« Dann wechselte sie das Thema. »Hat diese Klinik auch noch andere Einrichtungen als einen Schönheitssalon? «
»Alles vom Thermalbad bis hin zum Fünf-Sterne-Restaurant.
Ein paar von Joels Patienten bleiben, bis ihre Narben gänzlich verheilt sind, und sie legen großen Wert auf diesen Komfort. An was haben Sie denn gedacht? «
»An einen Fitnessraum.«
»Den gibt's, aber ich bezweifle, daß Joel Sie jetzt schon trainieren lassen wird. Er wird abwarten wollen, bis Ihre Knochen ganz zusammengewachsen sind.«
»Ich werde mich nicht überanstrengen. Aber ich brauche unbedingt wieder ein bißchen Kraft.«
»Die kriegen Sie auch. Warten Sie's nur ab.«
Nein, sie wartete nicht mehr ab. Es machte sie wahnsinnig, so schwach und untätig zu sein. Sie wollte für ihren Rachefeldzug bereit sein, und zwar sofort. Sie wiederholte: »Ich werde mich nicht überanstrengen, das verspreche ich.«
»Wir werden sehen, was sich machen lässt.«
»Morgen? «
Tania zog fragend die Brauen hoch. »Ich werde mit Joel sprechen. Vielleicht erlaubt er es ja, wenn ich Sie begleite und dafür sorge, daß Sie vernünftig sind.«
»Aber dazu haben Sie bestimmt keine Zeit. Ich möchte Sie nicht unnötig beanspruchen. Sie haben bereits zu viel für mich getan.«
»Das ist keine unnötige Beanspruchung. Es wird mir ein Vergnügen sein. Mir tut ein bißchen Bewegung ebenfalls gut, und die Arbeit als Joels Haushälterin ist schnell erledigt.« Sie kicherte. »Außerdem wird er sich freuen, wenn ich nicht mehr die ganze Zeit herumtelefoniere.«
Nell bedachte sie mit einem zweifelnden Blick.
»Ehrlich«, sagte Tania. »Aber Sie brauc
hen einen
Trainingsanzug. Ich kann Ihnen einen leihen, bis wir einkaufen gegangen sind.«
Nell schüttelte den Kopf. Tania hatte höchstens Kleidergröße acht. »Der würde mir nicht passen.«
»Nun, vielleicht ist er ein bißchen groß, aber das ist kein Problem. Es ist gut, wenn Sportkleidung locker sitzt.«
Nell starrte sie verwundert an.
»Es sei denn, Sie tragen nicht gerne die Kleider von jemand anderem? «
»Doch, doch, aber ich...«
»Gut.« Sie hatten die Tür von Nells Krankenzimmer erreicht, und Tania wandte sich an Phil: »Ich habe sie gesund und munter zurückgebracht. Wie gefällt Ihnen ihre neue Frisur? «
Phil pfiff bewundernd durch die Zähne. »Alle Achtung, sehr nett.«
Zu Nell sagte Tania: »Morgen früh um neun bin ich wieder da, damit ich Ihnen beim Anziehen behilflich sein kann.« Dann ging sie lächelnd und winkend den Flur hinab.
»Ich helfe Ihnen wieder ins Bett«, sagte Phil. »Sie müssen müde sein.«
Frustriert musste sie sich eingestehen, wie erschöpft sie war.
»Danke, aber ich muß lernen, allein zurechtzukommen. Ich kann mich nicht ewig...«
Noch während sie sprach, hatte Phil sie hochgehoben und trug sie zu ihrem Bett. »Aber sicher können Sie das. Sie sind das reinste Federgewicht. Und außerdem werde ich dafür bezahlt.«
Er legte sie ins Bett. »Und jetzt machen Sie ein Nickerchen, und dann komme ich mit Ihrem Essen zurück.«
Vielleicht ist er ein bißchen groß.
Sie sind das reinste Federgewicht.
Langsam hob sie den Arm, und der Ärmel ihres Bettjäckchens fiel lose herab. Einen Augenblick lang starrte sie auf ihren Arm.
Dann öffnete sie das Jäckchen und preßte das lose
Baumwollnachthemd an ihre Brust. Sie hatte mindestens zwanzig Pfund abgenommen, seit sie hierher gekommen war.
Blitzdiät, dachte sie voller Verbitterung. Fall von einem Balkon, verlier alles, was dir je von Bedeutung gewesen ist, und du wirst schlank wie ein Reh. All die Jahre hatte sie sich verzweifelt bemüht, ein paar Pfunde zu verlieren, und nun, da es nicht mehr von Bedeutung war, waren sie fort.
Aber vielleicht war es ja von Bedeutung. Ohne die Extrapfunde gewönne sie sicher schneller an Kraft.
Eitelkeit war unwichtig, aber Kraft war jetzt alles für sie.