Kapitel 16
Worauf hatte er sich da eingelassen? Seit er um Mitternacht Shavick Castle verlassen hatte, fragte er sich das. Ianthes Worte hatten ihn mitgerissen. Sein Versprechen an sie war bindend, auch wenn er von der Richtigkeit jetzt nicht mehr so überzeugt war. Um sich abzulenken, sagte er das polnische Losungswort vor sich hin.
Der Broch tauchte ihm Tal vor ihm auf. Brandon schnüffelte in der Luft. Werwölfe waren hier gewesen, ihr Geruch lag noch in der Luft, halb vom Wind verweht. Jetzt war niemand da, kein Mensch, kein Werwolf. Dennoch näherte er sich vorsichtig der Ruine. All seine Sinne waren bis zum Äußersten angespannt. Aus der Ruine drang Aasgeruch, als hätte sich ein Tier zum Sterben dorthin zurückgezogen. Unter diesem Geruch konnte sich ein Werwolf verbergen. Warum hatte ihm Ianthe nichts davon gesagt? Es musste doch vor drei Nächten genauso schlimm gerochen haben. Er schüttelte sich. Aus dem Eingang quoll der Geruch wie eine ekelerregende Wolke. Er blieb neben dem Eingang stehen und hielt sich die Nase zu.
Sie kamen von drei Seiten. Zwei packten ihn an den Armen, und ein dritter knallte seinen Kopf gegen die Mauer des Brochs, drückte ihm den Arm gegen die Kehle, dass er kaum noch Luft bekam. Brandon machte keinen Versuch, sich zu wehren. Über die Schulter des einen erblickte er ein Werwolfpaar, sie so schön, dass es sich für sie zu sterben lohnte. Das musste Derenski mit seiner Seelenpartnerin sein.
»Igor, schnür ihm nicht die Luft ab«, sagte sie. »Wir wollen hören, was er zu sagen hat.«
Der Druck auf seinen Hals lockerte sich etwas. Brandon wagte einen langen Atemzug, der in seinem Hals brannte.
»Ianthe aus Edinburgh schickt mich«, krächzte er.
»Das kann jeder sagen«, knurrte ihn das Tier vor ihm mit schwerem polnischem Akzent an.
Das Losungswort. Er musste es sagen. Vollmondnacht. Wie war das noch auf polnisch? Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn, vor lauter Angst, das hier zu vermasseln. Das Wort fiel ihm ein, und hastig stieß er es hervor.
Der Igorwolf nahm den Arm von seiner Kehle. »Sie hätte es dir wenigstens richtig beibringen können, es heißt Vollmondnacht, nicht Wollmondnacht.«
Brandon schluckte. Polnisch war eine barbarische Sprache, seine Meinung behielt er jedoch lieber für sich.
»Warum kommst du und nicht Ianthe?«, wollte der wissen, den er für Derenski hielt.
»Sie hat mich geschickt. Sie ist verhindert. Lord Rhodry lässt sie nicht gehen.«
»Hat er Verdacht geschöpft? Rede, Bursche!«
»Igor«, tadelte die Frau mit glockenheller Stimme. »Mach dem jungen Werwolf keine Angst. Ich bin sicher, Ianthe hat ihn überzeugt, uns nichts anderes als die Wahrheit zu sagen.« Sie kam näher. Ihre Bewegungen waren so elegant, es sah aus, als glitte sie durch die Nacht. Direkt vor ihm blieb sie stehen.
Er roch sie. Diesen Duft würde er nie wieder vergessen. Sie passte nicht in diese Wildnis, gehörte nach London, wo sie die elegante Welt im Nu erobern würde. Sie verwirrte ihn, und er sah ihrem Blick an, dass sie es wusste und es ihr Spaß machte. Am liebsten würde er sie packen und mit ihr in der Nacht verschwinden. Das wäre sein Todesurteil, denn einem anderen den Seelenpartner zu nehmen, konnte mit nichts außer dem Tod des Räubers gesühnt werden. Sein Hals tat noch immer weh. Er räusperte sich.
»Ich sage die Wahrheit. Die Menschin und der Earl sind wieder auf Shavick Castle und morgen Abend gibt es einen Ball zu ihren Ehren. Lady Ianthe meinte, das würde Euch interessieren.«
»So? Meinte sie das?« Derenski trat vor.
Er polierte seine Fingernägel mit einem Lederläppchen und sah nicht übermäßig interessiert aus. Dafür so, als könne er jeden Moment das Zeichen geben, ihm die Kehle herauszureißen. Brandon schluckte. Hatte Ianthe ihn betrogen?
»Ich will dir sagen, was du jetzt tun wirst: Du wirst diese Menschin nicht mehr aus den Augen lassen. Sie ist unverzichtbar für meinen Plan. Dann nimmst du deinen ganzen Mut zusammen und bringst sie her. Igor wird jede Nacht ab Mitternacht hier auf dich warten. Nimmst du dir für seinen Geschmack zu viel Zeit, wirst du dir wünschen, nie gewandelt worden zu sein.«
»Ich bin nicht sehr geduldig«, warf Derenskis Scherge ein.
»Bring sie gegen Monroe auf, mach sie dir gewogen. Tu alles, was deinem Rattengehirn einfällt, um Monroe zu schaden, und bring sie auf jeden Fall hierher.«
»Und Lady Ianthe?«
»Sie kann tun, was sie will, solange ihr beide den Mund haltet.«
Brandon fühlte, dass er entlassen war. Das konnte nicht alles sein. Dafür konnte Ianthe ihn nicht hierher geschickt haben.
»Was ist mit der alten Größe der Werwölfe?«, fragte er. »Wollt Ihr uns wieder dahin zurückführen?«
»Natürlich wollen wir das«, antwortete die Werwölfin schnell. »Dafür muss Monroe vernichtet werden, und danach wird sich für dich eine herausragende Stellung unter den schottischen Werwölfen finden. Du wirst sehen.«
Ihre Stimme war Balsam auf seinen von Zweifeln geplagten Gefühlen. »Ich werde alles tun, was Ihr von mir verlangt. Schon bald bringe ich Euch die Menschin.«
Die beiden anderen Werwölfe, die die ganze Zeit geschwiegen hatten, als wären sie stumm, ließen ihn los und sprangen zurück. Alle fünf verschwanden in der Dunkelheit, die Frau schaute sich noch einmal um. Ihr Blick ging ihm durch und durch. Wenn jemand das Ziel erreichen konnte, waren es sie und Derenski.
Heute Abend sollte der Ball stattfinden. Der erste Ball ihres Lebens. Sie als einziger Mensch unter Werwölfen. Wie viele gehörten wohl zum Schottlandrudel? Bisher hatte sie immer nur ein paar gesehen: Rhodry natürlich, Eugene und Moira, die verletzte Ianthe und noch zwei oder drei andere, deren Namen sie nicht kannte. Jane war womöglich noch aufgeregter als sie, flatterte ständig um sie herum, redete über die Frisur, die sie ihr heute Abend zaubern wollte, und von dem Kleid, das die Schneiderin hoffentlich rechtzeitig fertigbekommen würde. Nola wurde es zu viel, sie hielt es auch in der Burg nicht mehr aus, wo alles dem Ball entgegenfieberte.
In ihrem wärmsten Kleid, mit Schal, Muff und Mantel angetan, schlüpfte sie durch eine kleine Seitentür ins Freie. Sie atmete auf und schlenderte die Kieswege des Parks entlang. Aus dem Augenwinkel glaubte sie, jemanden zu sehen, der schnell um eine Ecke huschte, als wollte er von ihr nicht gesehen werden. Als sie hinschaute, war da niemand, obwohl sie sich beobachtet fühlte. Sie ließ den Blick über die Burg gleiten. Von irgendwoher schaute bestimmt jemand in den Park. Sie hielt den Ausschnitt ihres Mantels zusammen und ging schnell weiter.
Die Kieswege endeten, die Feldwege begannen. Noch einmal schaute Nola sich um, doch wieder entdeckte sie niemanden, obwohl sie immer noch Augen auf ihren Nacken gerichtet spürte. Einbildung - es war bestimmt nicht mehr als eine solche. Das lag an Rhodrys Art, sie entweder zu erschrecken oder zu verärgern oder ihr Begehren zu entzünden. Sie ging zu der von wilden Rosen eingerahmten Bank, auf der sie auch bei ihrem ersten Besuch im Park gesessen hatte. Damals war der Verdacht gegen Amelia in ihr gekeimt, inzwischen hatte sie Gewissheit.
Die Bank stand verlassen im trüben Winterlicht. Etwas Weißes hing zwischen den Rosenzweigen. Ein vergessenes Taschentuch? Nola trat näher. Es war kein verlorener Stofffetzen, sondern ein zusammengefaltetes Stück Papier. Nola vergewisserte sich, dass sie allein war - das drängende Gefühl in ihrem Nacken war verschwunden. Danach setzte sie sich auf die Bank, als wollte sie nur ein wenig rasten. Sie schaute über das Land vor ihr, während sie mit der rechten Hand nach dem Papier tastete. Es steckte nicht nur einfach zwischen den Rosenzweigen, sondern war mit einem Bändchen festgebunden, als habe jemand sichergehen wollen, dass es nicht verloren ging. Sie hatte einige Mühe, es mit einer Hand zu lösen, aber schließlich gelang es, und sie faltete das Papier auseinander. In der rechten oberen Ecke stand nur ein Wort, in einem halben Dutzend Sprachen - jedenfalls vermutete sie das. Lesen konnte sie nur das deutsche »Kerzenflamme«, in einem anderen Wort meinte sie, Italienisch zu erkennen. Es gab die Botschaft auch in fremden Buchstaben: griechisch oder kyrillisch.
Der Verfasser hatte sich offenbar in verschiedenen Sprachen geübt, aber warum machte er sich dann die Mühe, seinen Schmierzettel an einen Rosenstrauch zu binden? Es sei denn, es war kein Schmierzettel. Auf einmal kam ihr eine Idee, und sie wünschte sich, statt des nutzlosen Mobiltelefons ein Feuerzeug mit in diese Zeit gebracht zu haben, um an Ort und Stelle auszuprobieren, ob sie dem Wort »Kerzenflamme« die richtige Bedeutung beimaß.
Sie faltete den Zettel klein zusammen, dass er in ihrer Faust nicht zu sehen war, und schlenderte langsam zur Burg zurück, obwohl sie innerlich vor Ungeduld brannte. In ihrem Zimmer vergewisserte sie sich, dass Jane nicht da war, und verriegelte die Tür von innen. Mit einem Kienspan vom Kamin entzündete sie eine Kerze, glättete den Brief auf dem Tisch und hielt ihn an die Flamme. Die Hitze färbte das Papier. Buchstaben kamen zum Vorschein. Zaubertinte. Sie lächelte. Als Kind hatte sie mit Violet Briefe ausgetauscht, geschrieben mit Zitronensaft; sie hatten auch über einer Flamme lesbar gemacht werden müssen.
Die Buchstaben waren klein und nicht leicht zu lesen, das Schriftbild war ungewohnt für sie. Nola beugte sich dicht über das
Papier. Bei manchen Wörtern musste sie raten, aber schließlich ergab alles einen Sinn.
»Schöne Unbekannte, wenn Sie das lesen, haben Sie meine Vorsichtsmaßnahme durchschaut. Gratulation. Shavick Castle ist die Burg eines Werwolfs, ein ganzes Rudel hat dort seinen Sitz. Sollten Sie es nicht gewusst haben, halte ich es für meine Pflicht, Sie entsprechend zu informieren. Erschrecken Sie jetzt nicht, ich schreibe diese Nachricht, um Ihnen zu helfen. Verlassen Sie die Burg, heimlich oder ganz offen, was in Ihrem Fall besser ist, und gehen Sie in das nächste Dorf. Wenden Sie sich an den Dorfvorsteher, nennen Sie ihm meinen Namen, und er wird Ihnen weiterhelfen. Ich halte mich in der Nähe auf, haben Sie keine Furcht. Ich werde Sie in Sicherheit bringen und gewähre Ihnen Unterschlupf, solange es nötig sein wird.« Unterzeichnet war der Brief mit Sharingham.
Den Namen hatte sie schon einmal gehört. Rhodry hatte ihn erwähnt, nachdem Ianthe in die Falle der Jäger geraten war. Lord Sharingham sollte sie ausgelegt haben.
Sie warf den Brief in den Kamin, sah zu, wie die Flammen das Papier verzehrten. Ihr erster Impuls war, aufzuspringen und zu Rhodry zu laufen. An der Tür kehrte sie wieder um. Er wusste über seine Jäger Bescheid und würde nur lachen, wenn sie mit ihrem Verdacht kam.
Trotzdem war sie unruhig.
Sie suchte Ablenkung in der Bibliothek von Shavick Castle. Es war ein hoher, düsterer Raum, in nichts zu vergleichen mit der Freundlichkeit der übrigen Räume. Bücherschränke reichten vom Boden bis zur Decke, die Wände dazwischen waren bis in Brusthöhe mit Holz verkleidet und darüber mit einer bordeauxroten Tapete bespannt. Dunkle Ledersessel und ein wuchtiger Schreibtisch luden nicht zum Verweilen ein.
Nola konnte sich gut vorstellen, wie ein weißhaariger, löwenmähniger Graf dahinter Platz nahm, seine Pächter einzeln eintreten mussten, um ihre Abgaben zu leisten, und wehe, einer hatte nicht genug über … Rhodry konnte sie sich dort nicht vorstellen, er würde den Leuten vermutlich eher die Schuld erlassen, als sie zu verdammen.
Sie wandte sich den Bücherschränken zu, öffnete einen aufs Geratewohl. Die Tür klemmte, offensichtlich hatte längere Zeit niemand mehr darin gestöbert. Sie las die Titel auf den Buchrücken. Die meisten Bücher waren in abgegriffene
Ledereinbände gebunden, die Goldprägung verblasst. Die Bände waren nach Größe und Farbe sortiert. Predigtbücher standen neben solchen über Landwirtschaft, Reisebeschreibungen neben griechischen und lateinischen Klassikern. Sie fand französische Grammatiken, Rousseau und Franz von Assisi, Dante neben Thomas Moore. In einem anderen Schrank entdeckte sie Shakespeare — er hatte wahrscheinlich deshalb ein ganzes Bord für sich, weil seine Bücher alle die gleiche Größe und eine hellbraune Farbe besaßen.
Nur eines fand sie nicht — einen Unterhaltungsroman, keine abenteuerlichen Ritter-, Grusel-oder Liebesromane, die die vornehmen Damen im 19. Jahrhundert verschlungen hatten. Schließlich setzte sie sich mit »Shakespeares Sonette« in einen braunen Ledersessel. Sie hatte das Gefühl, in der Polsterung zu versinken, wuchtig ragten die Armlehnen neben ihr auf. Nola schlug das Buch in der Mitte auf und begann zu lesen, über die Liebe in wohlgesetzten Versen.
Die Gedichte füllten nie mehr als eine Seite, dennoch ermüdete Nola bald. Verse zu lesen hatte ihr schon in der Schule nicht gefallen, außerdem beherrschte Lord Sharingham ihre Gedanken. Was sollte sie mit seiner Nachricht machen? Bisher war sie davon ausgegangen, Rhodry würde sie gehen lassen, wenn sie ihn darum bat. Mittlerweile war sie sich nicht mehr sicher - Werwölfe waren doch zu verschieden von Menschen. Mit einem Seufzer klappte sie das Buch zu und ließ es auf der Armlehne liegen. Die Bibliothek war zu ungemütlich, um sich länger darin aufzuhalten.
In der Tür prallte sie mit einem jungen Mann zusammen. Werwolf oder menschlicher Diener, jung oder alt, wer konnte das sagen? Sie warf einen forschenden Blick in sein Gesicht.
Er verneigte sich vor ihr. »Mylady.«
»Wir haben uns noch nicht kennengelernt, Mylady. Brandon Hatherley, mein Name.«
»Nola McDullen«, antwortete sie automatisch und wich vor ihm zurück. Sein Gesicht war zu perfekt, um interessant zu sein, außerdem meinte sie, ein gefährliches Glitzern in seinen Augen zu sehen.
»Mylady.« Er zog sich zurück.
Nola schlenderte an ihm vorbei. Im ersten Stock stand die Tür zum Bankettsaal offen. Unter Daltons Aufsicht waren Amelia und zwei Mädchen dabei, ein weißes Tischtuch über einen immens langen Tisch zu breiten. Dalton war mit der Lage des Tuches nicht zufrieden, Sie mussten es vom Tisch wieder abnehmen und zusammenfalten. Nola sah, dass Amelia sie erblickte. Die Schottin überließ ihr Ende des Tischtuchs einem der Mädchen und kam zur Tür. Sie zog sie halb hinter sich zu, als sollte Nola nicht sehen, was im Ballsaal vor sich ging.
»Was wollen Sie, Mylady?« Die höfliche Anrede fiel ihr sichtlich schwer. Sie gab sich kaum Mühe, freundlich zu sein, sondern zeigte ihre Verachtung gegenüber Nola unverhohlen.
»Ich wollte sehen, wie weit die Vorbereitungen für das Bankett sind.«
»Wir kommen hervorragend zurecht, schließlich machen wir das nicht zum ersten Mal. Der Earl hat Bankette gegeben, dagegen ist das heute eine armselige Veranstaltung.«
»Warum so feindselig, Miss Amelia? Ist es Ihnen zu viel Arbeit, eine armselige Veranstaltung auszurichten? Oder liegt es daran, dass Sie nicht eingeladen sind? Ich könnte den Earl bitten, heute eine Ausnahme zu machen.«
Amelia sah für einen Moment aus, als würde ihr das sehr gut gefallen, dann schüttelte sie entschieden den Kopf.
»Oder erlaubt es ihr Vater nicht?«
»Glauben Sie nicht, dass Ihre Anwesenheit etwas bedeutet. Sie sind aus dem Nichts gekommen, haben sich hier eingeschlichen. Gehen Sie nur wieder dahin, wo Sie hingehören, dann wären alle froh.«
»Sie offenbar am allermeisten. Ich freue mich jedenfalls auf heute Abend.«
»Passen Sie auf, dass Sie am Ende nicht enttäuscht sind. Werwölfe sind keine Wesen, mit denen Menschen Spielchen treiben können. Das weiß keiner besser als wir, die den Bluteid schwören, und Sie werden es noch lernen.«
»Trotzdem gehört Rhodry nicht Ihnen.«
Aus dem Ballsaal rief Dalton nach seiner Tochter, und Amelia huschte wieder hinein. Wer weiß, was sie sich sonst noch alles an den Kopf geworfen hätten.
Nola hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich um. Brandon Hatherley stand am Treppenaufgang zum zweiten Stock. Als er sich seiner Entdeckung bewusst wurde, setzte er eine zerknirschte Miene auf. Wie lange hatte er schon dort gestanden und ihren Streit mit Amelia belauscht? Einige Zeit, so schien ihr.
»Sie wieder?«
»Heute scheinen wir uns dauernd über den Weg zu laufen, Mylady.«
»Seltsam, dass wir uns zuvor noch nie begegnet sind.« »Wie viele Tage halten Sie sich auf Shavick Castle auf? Sind es vier oder fünf? Ich war abwesend — in Rudelangelegenheiten. Es musste weitergehen, nachdem uns Earl Rhodry genommen wurde.«
»Jetzt ist er ja wieder da.«
»Sehr wohl, Mylady. Und das haben wir nur Ihnen zu verdanken.« Er verneigte sich wieder leicht vor ihr. »Wir sehen uns heute Abend. Reservieren Sie mir einen Tanz.«
Es war nicht als Frage, sondern als Forderung formuliert. Arroganter Wolf. Konnten sie nicht einmal denken, dass nicht jede Frau vor ihrem Charme in die Knie ging? Brandon Hatherley zwinkerte ihr noch einmal zu und stieg die Treppe ins Erdgeschoss hinunter.
Zweimal an einem Tag trafen sie sich, zweimal an einem Tag sprach er sie an, und heute Morgen hatte sie sich im Park beobachtet gefühlt. Sollte das alles ein Zufall gewesen sein? Sie war geneigt, in dieser Zeit nicht an Zufälle zu glauben. Sie war felsenfest überzeugt, dass er ihr gefolgt war — schlimmer noch, dass ihr seit heute Morgen jemand auf den Fersen war. Ihr kam ein ungeheuerlicher Gedanke: Hatte Rhodry ihn abgestellt, um sie zu bewachen? Er hatte sie gebeten, die Burg und den Park nicht zu verlassen. War er der Meinung, sie müsse bewacht werden, damit sie seinen Anordnungen Folge leistete?
Jane knickste. »Der Earl hat das für Sie anfertigen lassen. Es ist noch rechtzeitig fertig geworden.« Sie breitete ein Kleid auf dem Bett aus. Es bestand aus hellgelber, halbdurchsichtiger Seide, die mit kleinen Streublumen in einem um eine Nuance dunkleren Gelb bestickt war und wie ein Sonnenstrahl über die zerwühlte Decke floss. Dazu gehörte ein weißes Unterkleid, dessen Säume mit Spitzen eingefasst waren. Es gehörten außerdem weiße Strümpfe und ein Schultertuch aus dem gleichen Stoff wie das Oberkleid dazu. Es war ein Traum in Gelb und Weiß.
Rhodry hatte sein Versprechen gehalten. Die Schneiderin musste die ganze Nacht gearbeitet haben. Je länger Nola das Kleid anschaute, desto besser gefiel es ihr. Sie strich mit den Fingerspitzen erst über die feine Seide, dann über die Wolle.
»Mylady«, begann Jane wieder, »wir müssen mit den Vorbereitungen beginnen, sonst werden wir nicht rechtzeitig fertig, bis der Ball beginnt.«
Es kam Nola vor, als wären noch Stunden Zeit, bis der Ball begann, und sie fragte sich, was Jane so lange mit ihr machen wollte.
»Soll ich ein Bad nehmen?« In London hätte sie geduscht. Das kam hier wohl nicht Frage.
Jane sah entsetzt drein. »Ihr wollt jetzt baden, Mylady? Ich weiß nicht, ob die Köchin genügend Wasser heiß machen kann, neben der Vorbereitung des Essens für heute Abend. Ich kann aber gehen und fragen.«
Nola wurde klar, wie viel Mühe ein Bad machte, und sie schüttelte den Kopf. Man konnte nicht einfach den Hahn aufdrehen und die Wanne mit heißem Wasser volllaufen lassen. Stattdessen nahm sie am Frisiertisch Platz. Sie wusch sich Gesicht und Oberkörper mit Wasser aus einer Schüssel, die Jane mitgebracht hatte. Sie rieb sich das Gesicht mit Orangenblütenwasser ab, um die Haut frisch und klar aussehen zu lassen, und die Zofe bürstete ihr Haar, bis es ihr in weichen Wellen über den Rücken fiel. Sie hatte ein Modekupfer mitgebracht und schlug eine Seite davon auf. Darauf war eine allerliebst aussehende Frau abgebildet, mit einer Löckchenfrisur, ein Teil des Haares hing über der rechten Schulter herunter, kokett aufgefächert. Jane machte sich ans Werk mit Lockenstab, Bürste, Kamm, einem falschen Haarteil und unendlich vielen Nadeln. Sie brauchte zwei Versuche, um dem Bild im Modekupfer nahezukommen. Danach lag ein lockiger Zopf über Nolas Schulter, der Rest ihres Haares war in Wellen und Locken hochgesteckt.
»Sie sind hübsch, Mylady.«
Eine fremde Frau blickte Nola aus dem Spiegel entgegen. Ein Wesen, das gar nicht von dieser Welt zu sein schien. Sie kam sich nun wirklich vor wie eine Prinzessin, und als sie den Kopf ein wenig zur Seite neigte, um den schlanken Hals zu betonen, verstärkte sich dieser Eindruck noch.
»Keine Lady in Edinburgh, ach, in London könnte schöner sein«, sagte Jane entzückt. Sie freute sich mindestens genauso über das Aussehen ihrer Herrin wie über ihre eigene Kunstfertigkeit. »Jetzt das Kleid.«
Nola ließ sich helfen, und zum ersten Mal fühlte sie sich wohl dabei. Unterwäsche, Unterröcke, Unterkleid, und das alles, ohne dass eine Strähne ihrer Frisur in Unordnung geriet. Zum Schluss wollte Jane Lippen-und Wangenrot auftragen. Beides war sehr rotes Pulver, das in kleinen Tiegeln mit Fett angerührt wurde. Nola wehrte ab, machte es lieber selbst. Sie trug einen Hauch auf die
Wangen auf, etwas mehr auf die Lippen. Und fertig! In dem gelben Kleid sah sie aus wie der erste Sonnenstrahl des Frühlings.
Rhodry klopfte an die Tür ihres Zimmer, als Jane gerade die letzten Falten ordnete, und Nola sich im Standspiegel bewunderte.
»Prinzessin, bist du …« Der Rest des Satzes blieb dem Earl im Hals stecken, seine Augen drückten Bewunderung aus. »Bleib so stehen.«
Er trat hinter sie, zog aus einer Tasche seiner nachtblauen, besticken Jacke eine kleine Schachtel. Sie enthielt eine einfache Perlenkette. Er legte sie Nola um den Hals. Zart strichen seine Finger über ihren Nacken, und sie hatte den Verdacht, dass er sich extra Zeit ließ, die Kette zu schließen, und stattdessen ein paar wohlgeordnete Löckchen hin-und herschob. Dann drückte er seine Lippen auf ihre Schulter.
»So ist es perfekt.«
Nola legte eine Hand auf die Perlen. »Das ist …«
»Sie sind für dich gemacht, Prinzessin. Und jetzt komm, sonst fangen die anderen ohne uns an. Werwölfe sind nicht sehr geduldig.«
»Du bist wohl keine Ausnahme.«
Sie betrat an seiner Seite den festlich geschmückten Ballsaal. Unzählige Kerzen spiegelten sich in Kristallgläsern, ließen ausgewählte Blumenarrangements erstrahlen, von denen Nola sich fragte, woher die Blumen im März kamen. Hinter jedem Stuhl stand ein livrierter Diener. Dalton ging hinter ihnen entlang, zupfte hier und dort die Kleidung zurecht und gab letzte Anweisungen. Für den alten Mann musste das ein aufregender Abend sein, dachte sie und lenkte sich damit von ihrer eigenen Nervosität ab. Rhodrys Hand lag fest auf ihrem Rücken.
In seiner schwarzen Balltoilette sah er umwerfend vornehm und zugleich verwegen aus. Dass ein Mann so gut aussah, durfte es nicht geben. Sie fühlte alle Blicke auf sich gerichtet, mehr als 50 Werwölfe, jeder von ihnen viel stärker als ein Mensch und mit Sinnen ausgestattet , die die ihren weit übertrafen. Da verhinderte nicht das schönste Kleid und die kunstvollste Frisur, dass sie sich klein vorkam. Rhodry schien es zu spüren. Er flüsterte ihr zu: »Du bist die Schönste heute Abend, Prinzessin.«
Die charmante Lüge tat ihr gut, denn auch alle Werwölfe sahen verdammt gut aus, das schien ihr Markenzeichen zu sein. Sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, welcher gutaussehende Schauspieler, welche strahlende Actrice in Wirklichkeit ein
Werwolf war. Sie erkannte Eugene und Moira, und beide zwinkerten ihr zu. Rhodrys und ihr Erscheinen war das Zeichen für die übrigen, ihre Plätze einzunehmen. Stoff raschelte, Stühle wurden gerückt, schließlich gingen sie an einer schweigenden, sitzenden Menge vorbei, und mehr als alles andere machte das Nola die Bedeutung des Abends bewusst. Ihr Herz flatterte, nur Rhodrys Griff bewahrte sie davor, aus dem Saal zu fliehen.
Ihr Platz war am Kopfende des Tisches und der Weg weit.
»Ich bringe keinen einzigen Bissen herunter«, raunte sie in sein Ohr.
»Das wird die Köchin betrüben. Seit zwei Tagen gibt sie sich mit dem Essen alle Mühe.«
»Bestimmt gibt es Unmengen Fleisch.«
»Nun ja — das ist bei uns so. Aber es gibt auch süße Brötchen, Saucen, Kuchen, Puddings, Gelee und Obst. Ich habe das extra für dich geordert.«
Seine Aufmerksamkeit rührte sie, einer Antwort wurde sie jedoch enthoben, denn sie erreichten ihre Plätze. Die Lakaien zogen die Stühle zurück und schoben sie ihnen wieder hin. Über Eck saß Eugene neben Nola und lächelte ihr aufmunternd zu. Weiter unten am Tisch saß Brandon Hatherley und gab sich alle Mühe, ihren Blick einzufangen. Sie schaute stur geradeaus.
Der Earl hielt eine Begrüßungsansprache, stellte Nola vor und nannte nacheinander die Namen der anwesenden Rudelmitglieder. Die Namen flogen an ihr vorbei, sie registrierte nur, wie ihr Lakai am Ende des Vorstellungsmarathons Wasser und Champagner einschenkte, und sie wünschte sich inständig, nicht aufgefordert zu werden, auch ein paar Worte zu sagen.
Rhodry neigte den Kopf zu ihr. »Keine Angst, Prinzessin, so steif geht es nicht lange zu. Lass erst das Essen aufgetragen sein, und du wirst sehen, was wir für eine fröhliche Bande sind. Dalton besteht darauf, dass der große Speisesaal eine angemessene Zeremonie verlangt. Deshalb beginnt alles so förmlich.«
»Dalton verlangt …«
»Dalton ist eine Macht auf Shavick Castle. Man darf ihn nicht unterschätzen.«
Ein Werwolf stand auf, für ihn konnte Nola nur ein Wort finden: alt. Das Haar war eine graue Löwenmähne, die an Beethoven erinnerte, das Gesicht voller Falten und Runzeln. »Ich möchte einen Toast ausbringen auf unseren Rudelführer, der wieder unter uns weilt, und auf seine Seelenpartnerin Eleonore McDullen, auf dass beiden das ersehnte Glück vergönnt ist.«
Er prostete Nola zu. Dann folgte Toast auf Toast, sie wünschten Nola und Rhodry Glück, viele Kinder, eine gemeinsame Zeit, für die die Unendlichkeit noch zu kurz wäre. Obwohl sie nur am Champagner nippte, war das Glas bald leer. Sofort war der Lakai zur Stelle und füllte es auf. Das prickelnde Getränk stieg ihr zu Kopf, und wenn sie nicht bald was zu essen bekam, wäre sie am Ende völlig betrunken.
Als niemand mehr aufstand, um sein Glas auf sie und Rhodry zu erheben, klopfte Nola mit einem Löffel gegen ihres — der Champagner hatte sie mutig gemacht - und stand auf. »Ich danke Ihnen allen für die guten Wünsche.«
Ein wenig ungeschickt plumpste sie auf ihren Stuhl zurück. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sich jeder Wunsch darum gedreht hatte, wie sie als Rhodrys Seelenpartnerin ihr Leben an seiner Seite verbrachte, ohne die Wahl zu haben. War es richtig gewesen, sich zu bedanken, wenn andere über ihren Kopf hinweg entschieden?
Dalton klatschte in die Hände und wie von Zauberhand öffnete sich die Tür. Herein kam eine weitere Reihe Lakaien, die Terrinen trugen. Sie servierten klare Brühe mit Markklößchen. Dazu wurde Weißwein gereicht. Nola aß die Klöße und ließ die Brühe zurück. Sie brauchte was Handfestes im Magen, wenn sie nicht vom Alkohol übermannt werden wollte. Ein Blick auf ihre Tischnachbarn zeigte, dass auch die nur die Klöße aus der Brühe gefischt hatten.
»Brave Kleine, wie eine richtige Werwölfin«, sagte Rhodry zu ihr, als sie an ihrem Weißwein nippte.
Der Schluck geriet zu groß, und sie musste husten. Sie ließ es zu, dass Rhodry ihr auf den Rücken klopfte.
Auf die Suppe folgte Gang auf Gang, unterbrochen von Zwischengerichten. Ein Galadiner im Savoy konnte nicht üppiger sein. Zu jedem Gang wurde ein anderer Wein gereicht. Rhodry hatte in keiner Hinsicht zu viel versprochen, die Atmosphäre bei Tisch wurde merklich lockerer, jeder unterhielt sich kreuz und quer mit seinen Nachbarn, einige tauschten verstohlen die Plätze und bedienten sich selbst aus den Schüsseln, wenn die Lakaien nicht schnell genug waren; es wurde laut gelacht. Die meisten Gerichte bestanden aus Fleisch — sehr viel Fleisch, aber es gab auch alles andere, was der Earl versprochen hatte.
Nola kostete von jedem Gericht, das an ihr vorbeigereicht wurde. Manches war stark gewürzt, und sie musste Wein gegen den brennenden Durst trinken. Ihr wurde warm, und das lag nicht an den Kerzen im Raum. Sie ließ das Schultertuch auf die Stuhllehne gleiten. Ein fürsorglicher Lakai nahm es ihr ab. Bestimmt waren ihre Wangen gerötet und ihre Frisur zerzaust, sie fächelte sich mit der Serviette Luft zu. Rhodrys Hand schob sich in ihren Nacken, mit den Fingerspitzen streichelte er ihren Hals. Sie genoss es.
Während der letzte Gang serviert wurde, nahmen in einer Ecke des Saales eine Handvoll Musiker ihre Plätze ein. Sie stimmten ihre Instrumente und begannen mit einem langsamen Stück. Es endete, als die Lakaien die Tafel abräumten.
Rhodry erhob sich, klatschte in die Hände. »Tanzt, meine Lieben!«
Übermütiges Lachen antwortete ihm. Eugene ergriff Moiras Hand, das Musikstück war inzwischen lebhafter, und führte sie auf die Tanzfläche. Innerhalb weniger Augenblicke schritten an die zwanzig Paare feierlich und in festgelegten Figuren über die Tanzfläche. Rhodry streckte Nola die Hand hin.
»Komm, das ist eine Polonaise und ganz einfach.«
»Ich habe das noch nie getanzt.«
»Lass dich von mir führen.«
An seiner Seite schritt sie über die Tanzfläche. Die Figuren waren wirklich nicht schwer, und Rhodry dirigierte sie so, dass sie nicht anders konnte, als die richtigen Schritte zu machen. Es bereitete ihr zunehmend mehr Vergnügen. Nur wenige, zumeist ältere Werwölfe saßen am Rand auf Stühlen und Sesseln; unter ihnen Ianthe. Neben ihr lehnten Krücken, und sie fächelte sich Luft zu. Es war genau so, wie die Bälle bei Almacks in den Romanen des 21. Jahrhunderts beschrieben wurden. Die jungen Leute tanzten, die älteren beobachteten das Treiben wohlwollend, und doch mit strengen Augen, damit sich kein Herr einen Übergriff gegen seine Dame erlaubte.
Auf die Polonaise folgte eine Polka, danach schottische Tänze. Nola war völlig außer Atem, als Rhodry sie für eine Pause an den Rand führte und ihr ein Glas Punsch reichte. Sie trank in durstigen Zügen, blitzte ihn über den Rand des Glases hinweg an.
»Mylord, wirbeln Sie die Damen immer so über die Tanzfläche?«
»Immer und ausnahmslos jede. Und das ist erst der Anfang. Ich werde erst aufhören, mit dir zu tanzen, wenn die Schuhsohlen Löcher haben.«
»Ich mache barfuß weiter.« Sie lachte übermütig.
»Darf ich die Lady bitten? Ich bestehe auch nicht auf Barfußtanz.« Eugene verneigte sich vor ihr und führte sie zu einem schottischen Tanz.
Rhodry setzte sich neben Lady Ianthe und plauderte mit ihr. Mit Eugene auf der Tanzfläche fühlte Nola sich wohl, es war wie mit einem guten Freund, fest und warm hielt er ihre Hand umfasst. Mit Rhodry war es dagegen wie auf einem Vulkan, der jeden Moment ausbrechen konnte. Jeder Blick bot tausend Möglichkeiten, jede Silbe versprach eine ganze Welt. Die Berührung seiner Hände ließ ihre Haut prickeln.
»Haben Sie sich eingelebt auf Shavick Castle, Lady Eleonore?«, plauderte der Stellvertreter des Earl.
»Es wird von Tag zu Tag besser.«
»Das freut mich.«
Sie suchte Rhodrys Blick. Er unterhielt sich immer noch mit der verletzten Werwölfin, aber er schien Nolas Sehnsucht zu spüren, denn er schaute auf. Die Intensität seines Blicks jagte Gänsehaut über ihren Körper, und sie geriet prompt aus dem Takt.
Mit fester Hand dirigierte Eugene sie wieder zu den richtigen Schritten, aber ihre Freude am Tanz war dahin. Sie wollte wieder mit Rhodry über das Parkett wirbeln. Nach dem Tanz brachte Eugene sie zu Rhodry zurück. Der legte einen Arm um sie, während sie noch mehr Punsch trank und sich Kühlung zufächelte.
»Jetzt folgt ein Walzer«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Willst du?«
Das brauchte er nicht zweimal zu fragen. Langsam drehten sie sich. Seine Hand lag fest auf ihrem Rücken, mit der anderen hielt er ihre Rechte, der Daumen streichelte ihren Handrücken. Sie lehnte die Wange an Rhodrys Schulter, gab sich ganz seiner Nähe hin.
Auf den ersten Walzer folgte ein Zweiter. Sie wollte mit Rhodry eben den ersten Schritt tun, als auf einmal Brandon Hatherley neben ihnen stand. »Darf ich Euch ablösen, Mylord? Die Lady hat mir einen Tanz versprochen.«
Rhodry trat zurück, seine Miene zeigte jedoch deutlich, dass er es nicht gern tat. Brandon nahm ihre Hand, drückte einen Kuss auf den Rücken und legte ihr die Rechte um die Hüfte. Die Musik setzte ein.
»Wenn Euch etwas bedrückt, Lady Eleonore, könnt Ihr es mir ruhig sagen.«
»Was soll mich bedrücken?« Das war nun gerade das richtige Thema für so einen lustigen Abend. Sie wünschte, der Walzer möge möglichst schnell zu Ende gehen. Sie schaute sich nach Rhodry um - er war nicht zu sehen, neben Lady Ianthe saß jetzt Moira.
»Ihr saht heute so traurig aus.« »Mr. Hatherley … «
»Brandon.«
Sie sagte nichts mehr, schaute starr über seine linke Schulter hinweg und zählte die Takte, um sich von seiner Gegenwart abzulenken. Er dagegen zog sie dichter an sich, fast berührten ihre Oberkörper sich.
Sein Mund war dicht neben ihrem Ohr. »Darf ich Nola zu Ihnen sagen?«
Sie reagierte nicht, und er nahm das als Zustimmung. »Der Earl kann manchmal beängstigend sein, besonders für jemanden Ihrer Rasse. Wenn Sie Hilfe brauchen sollten, können Sie immer auf mich zählen.«
»Sind Sie nicht auch ein Werwolf, Mr Hatherley?«
»Ich bin nicht wie der Earl of Shavick.«
Der Walzer war zu Ende - zum Glück - und Hatherley brachte sie zu Rhodry zurück. Der stand mit dem älteren Werwolf zusammen, der vor dem Essen als Erster einen Toast ausgesprochen hatte. Sie schlüpfte in Rhodrys Arm. Er legte nicht den Arm um sie, was sie erwartet hatte.
»Was wollte er von dir?« Er führte sie ein paar Schritte zur Seite.
Sie trank wieder Punsch gegen den Durst. »Einen Tanz.«
»Den du ihm versprochen hattest?«
»Es war nur ein Tanz. Wir sind heute vor der Bibliothek ineinander gelaufen, er hat sich mir vorgestellt und um einen Tanz gebeten. Ich habe nichts zugesagt. Rhodry, was ist auf einmal?«
»Es gehört sich nicht, mit der Seelenpartnerin eines anderen so zu tanzen. Er weiß das ganz genau.«
Sie trank ein weiteres Glas Punsch. »Ich werde nicht mehr mit ihm tanzen. Das verspreche ich. Komm, sei wieder gut.« Mit einer Hand strich sie ihm über die Wange, seine Lippen.
Die Berührung verfehlte ihre Wirkung nicht. Es war erstaunlich, wie leicht sie Macht über den mächtigen Werwolf gewinnen konnte.
»Ich will wieder tanzen.«
Er erfüllte ihren Wunsch und ließ keinen anderen Werwolf mehr in ihre Nähe. Brandon Hatherley war auch nicht mehr zu sehen, es schien, als habe er das Fest vorzeitig verlassen. Sie und der Earl tanzten, gingen im Saal umher, plauderten hier und da, tranken und lachten. Nola fühlte sich so leicht, dass sie glaubte zu schweben.