Kapitel 4

Ihr Handy klingelte, als Nola mit zwei schweren Einkaufstüten beladen gerade Camden Market verließ. Sie fühlte sich verschwitzt, die Arme würden ihr bis in die Kniekehlen hängen, ehe sie zu Hause war — dabei hatte sie nur ein paar Kleinigkeiten kaufen wollen. Am liebsten hätte sie das Klingen einfach ignoriert, aber es ertönte die Melodie von »Summertime«, die einen Anruf von Violet ankündigte. Seufzend stellte Nola die Beutel ab, fischte das Mobiltelefon aus ihrer Handtasche und hielt es ans Ohr.

»Du wirst es nicht glauben«, sagte Vi ohne jede Begrüßung. »Es sind Leute gekommen, extra aus Polen, und sie behaupten, sie wissen, was dir da passiert ist. Sie glauben — und jetzt halt dich fest — dass deine Kratzer von einem Werwolf stammen.«

»Verarschen kann ich mich selber. Erstens gibt es keine Werwölfe, und zweitens beißen die und kratzen nicht.« Nola stöhnte, und gab sich keine Mühe, es vor der Freundin zu verbergen. Wenn sie nicht schnell nach Hause kam, wäre das Eis, das sie sich geleistet hatte, geschmolzen.

Violet ließ sich von einem Stöhnen nicht beeindrucken. »Und wenn es sie doch gibt? Die beiden behaupten, Werwolfjäger zu sein und sich auszukennen. Es sind ein Mann und seine Schwester. Er ist ein richtiges Sahneschnittchen, sie ist auch nicht übel. Natürlich beißen Werwölfe, aber es gibt Situationen, da kratzen sie auch, hat er mir erklärt. Willst du nicht mit den beiden reden? Hey, ich sehe die Schlagzeile schon vor mir: >Werwölfe in London<.«

»Willst du eine Massenhysterie auslösen?« Nola war fassungslos. Violet war zwar immer auf der Jagd nach einer Story, aber dass sie auf so etwas ansprang …

»Wieso? Natürlich nicht! Es ist sowieso niemand in der Stadt, die Queen nicht, und der Premierminister auch nicht.«

»Außer diesen beiden leben noch fünf Millionen Menschen in London.«

»Ist ja gut. Jedenfalls wollen sie mit dir reden, die aus Polen. Sie sind jetzt hier. Komm her! Mein Chef lässt durchaus was springen bei so einer Sache. Auch für dich ist da was drin.«

Wenn sie das Gespräch schnell beendete, wäre das Eis vielleicht noch zu retten. Außerdem war sie auch ein bisschen neugierig auf die beiden schrägen Gestalten aus Polen. »Ich bringe schnell meine Einkäufe nach Hause und komme dann.«

Die Redaktion von »Daily 16« war in einem mehr als zwanzigstöckigen Bürohochhaus untergebracht. Versicherungen, Im-und Exportfirmen, Anwaltskanzleien, Internetfirmen und Broker hatten ihren Sitz im selben Gebäude. »Daily 16« belegte die achtzehnte und neunzehnte Etage. Eigentlich hätte es die sechzehnte sein müssen. Nola marschierte in das Büro, in dem der Schreibtisch ihrer Freundin neben vier anderen stand. Außer Violet war niemand da, ihre Kollegen hatten schon Feierabend gemacht.

Die Freundin saß auf der Ecke ihres Schreibtischs und sah einen Stapel Fotos durch. Sie schaute auf, als Nola eintrat. Die Frauen umarmten einander.

»Gut, dass du da bist.«

»Wo sind die beiden?«, wollte Nola wissen.

»Im Konferenzraum. Adrian unterhält sich gerade mit ihnen.«

Gemeint war Adrian Buringham, Chefredakteur für die Rubrik London und Violets Vorgesetzter. Nola hatte ihn bisher nur von Weitem gesehen. Er war groß, hager, dunkelhaarig und trug altmodische Koteletten; sie wusste von ihrer Freundin, dass er immer in Bewegung war, immer auf der Suche nach einer Story, und von seinen Mitarbeitern erwartete er dasselbe. Da musste ihm diese Werwolfgeschichte gerade recht kommen.

Das Konferenzzimmer war eingerichtet wie alle Konferenzzimmer dieser Welt: In der Mitte aneinander gestellte Tische, an denen mehr als ein Dutzend Personen Platz fanden. Viel interessanter waren die Personen, die es sich an einer Ecke des Konferenztischs bequem gemacht hatten und bei Nolas und Violets Eintreten aufschauten. Adrian Buringham sah erleichtert aus, als hätte es ihm nicht behagt, mit den beiden Besuchern allein im Raum zu sein.

Die Polen waren sehr blass, soweit Nola das unter den Neonröhren der Deckenbeleuchtung erkennen konnte, hatten aber die ebenmäßigsten Gesichtszüge, die Nola je gesehen hatte. Sie könnten ohne Weiteres in Hollywood Karriere machen. Der Mann trug trotz der Hitze einen Anzug und hatte sogar das Jackett angelassen, er machte jedoch nicht den Eindruck, als wäre ihm zu warm. Das blonde, schulterlange Haar hatte er im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Frau war das genaue Gegenteil von ihm, sie war bekleidet mit einem geblümten Sommerkleid aus dünnem Stoff, der jede Kontur ihres Körpers durchscheinen ließ und ihre Unterwäsche aus weißer Spitze deutlich erkennen ließ. Ihr Haar war schwarz wie Ebenholz und hing ihr lose über den Rücken bis zur Hüfte, Fingernägel und Lippen waren im gleichen Rot geschminkt. Angesichts so viel kühler Eleganz kam Nola sich noch verschwitzter vor, als sie ohnehin war, außerdem wurde sie sich der Schäbigkeit ihrer verwaschenen Shorts bewusst. Wenigstens ihr Top war modisch.

Die Männer erhoben sich zur Begrüßung. Bei dem Polen wirkte es selbstverständlich, während Violets Chef leicht vornüber gebeugt dastand und linkisch erschien. Er übernahm die Vorstellung. Der Mann hieß Pawel Tworek, seine Schwester Antonia Tworeka. Beide Polen gaben Nola die Hand. Ihre Finger waren überraschend kräftig, die Haut fühlte sich ein wenig an wie — Leder. Besonders bei der Frau überraschte Nola das, denn sie sah nicht aus, als hätte sie je in ihrem Leben körperlich gearbeitet.

Alle setzten sich, und Pawel Tworek ergriff das Wort. Er widmete sich Nola, als wären sie allein im Raum. »Ms. McDullen, ich möchte mich entschuldigen, dass ich mit solcher Hast darauf gedrungen habe, Sie kennenzulernen.« Er sprach mit schwerem osteuropäischen Akzent, rollte das »R« auf der Zunge und war nicht leicht zu verstehen. »Hoffentlich hat es Ihnen keine Umstände bereitet herzukommen.«

Nola wusste nicht, was sie zu so viel altmodischer Höflichkeit sagen sollte, deshalb nickte sie nur unbestimmt. Gleich darauf kam ihr in den Sinn, dass das nicht die richtige Reaktion gewesen war, und sie schüttelte den Kopf. Die schöne Polin bemerkte ihre Unsicherheit und verzog die Lippen zu einem maliziösen Lächeln.

»Wenn wir mit unserer Vermutung richtig liegen — und davon gehe ich aus —, darf keine Sekunde gezögert werden, der Sache vollständig auf den Grund zu gehen. Sie müssen sich in unsere Obhut begeben, junge Dame.«

Violet und Adrian Buringham nickten bekräftigend.

»Moment!« Nola kam es vor, als wäre alles längst über ihren Kopf hinweg beschlossen worden, und sie könnte nur noch zustimmen. »Ich habe nichts zugesagt. Vi hat mir am Telefon was von Werwölfen erzählt. Das ist doch Quatsch. So etwas gibt es nicht. Und selbst wenn Werwölfe beißen, ich wurde gekratzt.« Den

letzten halben Satz sprach sie mit Nachdruck, und danach war alles gesagt.

»Natürlich haben Sie recht — Werwölfe beißen, sie zerreißen ihre Opfer. Aber manchmal kratzen sie auch. Glauben Sie uns, wir haben als Werwolfjäger jahrelange Erfahrung in diesen Dingen. Wenn wir Ihre Kratzer einmal sehen dürften?«

Der Pole schaute sie an. Seine Augen waren von einem wässrigen Blau, und sein Blick streichelte ihre Seele, nahm ihre Gefühle gefangen und ließ vor ihrem inneren Auge das Bild entstehen, wie er sie an sich zog und küsste. Er wollte gerade nach ihrem Arm greifen, als das Bild zerplatzte. Sie zog ihren Arm zurück.

»Ms. McDullen, ich kann Ihre Bedenken verstehen, wenn Sie nie mit dieser Seite unserer Welt in Kontakt gekommen sind. Für jeden ist es schwer, zu glauben. Wir sind froh, dass Sie überhaupt mit uns sprechen. Es ist zu Ihrer eigenen Sicherheit. Bisher waren es Kratzer, beim nächsten Mal können es richtig tiefe Furchen sein, und wenn er Sie findet, hilft Ihnen kein Selbstverteidigungsspray.«

»Die Kratzer sind verheilt, und seitdem ist nichts mehr passiert. Da, schauen Sie.« Nola streckte ihm ihren rechten Arm hin. Die Striemen auf der Innenseite waren verblasst. Am Unterarm, wo der längste Kratzer gewesen war, war der letzte Schorf heute Morgen abgegangen.

»Und wann ist das passiert?« Der Pole hob die Hand, als wolle er über ihren Arm streichen, überlegte es sich dann aber anders und blieb mit dem Finger in der Luft hängen. »Sie müssen uns alles erzählen!«

»Über meine Verletzungen spreche ich mit meiner Ärztin und nicht mit Leuten, die ich erst vor ein paar Minuten kennengelernt habe«, sagte sie steif.

»Es geht nicht nur um Ms. McDullens persönliches Wohl — so sehr mir das am Herzen liegt«, mischte sich Adrian Buringham ein. »Es geht auch darum, wie die Bevölkerung Londons damit umgehen soll, wenn Werwölfe unter uns sind. Die Leute müssen aufgeklärt werden. Sie brauchen Hinweise, wie sie sich verhalten sollen, wenn eines dieser Monster vor ihnen steht.«

»Und du glaubst, dass »Daily 16« das richtige Organ dafür ist«, dachte Nola. Er würde die Leute doch einfach nur noch mehr ängstigen, um Quote zu machen oder wie man das bei einer Zeitung nannte. Fast schämte sie sich für Violet, die dabei mitmachte.

»Schätzchen, wenn der Werwolf in London wäre, hätte er dich gefunden und geschnappt«, mischte sich zum ersten Mal die schöne Polin ein. Ihr Akzent war noch stärker als der ihres Bruders, gab ihrer Stimme aber eine erotische Färbung, die auf Männer und Frauen gleichermaßen wirkte. Adrian hing an ihren Lippen, und auch Nola konnte sich ihr nicht entziehen. »Er hätte dich zerrissen, und du wärst nicht mehr unter uns.« Sie zuckte mit den Schultern, als hätte das weiter keine Bedeutung. Nola sah, wie ihr Bruder ihr einen Blick zuwarf, der sie zum Schweigen bringen sollte, doch sie interessierte sich nicht dafür. »Indem er sich in deine Träume schleicht, sucht er dich, um dir näher zu kommen.«

»Wenn das wahr wäre — und ich glaube immer noch, dass es keine Werwölfe gibt — und er mich auf diese Weise finden kann, dann könnte er einfach in meine Wohnung spazieren und mit mir tun, was er will.«

»Das können sie manchmal nicht, soweit wir gehört haben. Die genauen Gründe kennen wir nicht, schließlich wissen wir auch nicht alles über sie. Die Bestien laden uns nicht in ihre Behausungen ein.«

»Höhlen, wohl eher«, sagte der Chefredakteur.

Die Polin schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln . »Wie Sie meinen. Jedenfalls muss Nola damit rechnen, dass er ihr näher kommt, und wenn er vor ihr steht, sollte sie besser nicht allein sein. Es muss jemand bei ihr sein, der sich mit der Sache auskennt, sonst wird ihr kein noch so schöner Zeitungsartikel helfen.«

»Antonia!«

»Bruder, das musste gesagt werden, und wenn ich darauf hätte warten sollen, dass du es tust, wären wir morgen früh noch nicht fertig gewesen. Du bist immer so umständlich.«

Es klang, als hätten die Geschwister Gespräche dieser Art schon oft geführt. Nola grübelte, ihre Freundin sah unbehaglich und der Chefredakteur erbost aus. Hätte sie Vi nur nie von ihrem Traum und den Kratzern erzählt. Werwölfe und diese komischen Jäger — so ein Quatsch!

Und wenn nicht?

Schließlich stimmte sie zögernd zu, sich übermorgen noch einmal mit den polnischen Geschwistern zu treffen. Dann wollten sie ihr Beweise für die Existenz der Werwölfe vorlegen.

»Einer von unserer Art hat sie berührt«, sagte Derenski zu seinem russischen Leibwächter Igor. Er stand in der Suite des vornehmen Carlton am Fenster und blickte hinunter auf die Maida Vale im westlichen London, während Igor, die langen Beine übereinander geschlagen, in einem tiefen Sessel saß. Der Russe reinigte seine Fingernägel mit der Spitze eines Klappmessers und sah aus, als wäre er ganz in seine Tätigkeit vertieft. Doch der Eindruck täuschte, ihm entging nicht die kleinste Bewegung im Zimmer.

»Sonst hätte sie meinem Blick nicht standhalten können«, sinnierte der Krakauer Rudelführer weiter.

Antonia kam aus dem Bad, in einen weißen Hotelbademantel gehüllt. Das Haar hatte sie sehr damenhaft am Hinterkopf hochgesteckt, und sie blies auf ihre Fingernägel, auf denen dunkelroter Nagellack trocknete. Sie hatte die letzten Worte ihres Seelenpartners gehört. »Und wie du sie angeschaut hast! Ihre Journalistenfreundin hätte sich dir am liebsten nackt an den Hals geworfen.«

»Eleonore McDullen.« Igor ließ den Namen auf der Zunge zergehen. »Ich frage mich, warum sie das so dämlich abkürzen muss. Nola hört sich an wie eine stinkende Seife.«

»Sie kürzen hier alles ab. Ihre Freundin wird Vi genannt.«

»Wie?«

»Vi. Eine Abkürzung für Violet.« Antonia zuckte mit den Schultern. Ihr Nagellack war jetzt trocken, und sie ging im Zimmer umher. Sie schaute aus dem Fenster, stellte eine Spieluhr auf dem Sims des künstlichen Kamins von einer Seite auf die andere und nahm schließlich die Fernbedienung in die Hand, ließ den Fernseher dann aber doch aus.

Derenski drehte sich vom Fenster weg und fixierte seine Seelenpartnerin. Er mochte es nicht, wenn sie umherlief, als sei ihr langweilig. »Wir müssen das Vertrauen der Menschin gewinnen. Ich muss wissen, was es mit dieser Sache auf sich hat.«

»Denkst du, es ist Monroe, Chef?« Igor war mit seinen Fingernägeln fertig, klappte das Messer zusammen und steckte es in eine Tasche seiner Cargo-Jeans.

»Er sitzt in seinem Gefängnis außerhalb der Zeit, nicht einmal ich selbst weiß, wie er von dort befreit werden könnte. Er kann es eigentlich nicht sein, aber ich wüsste nicht, wer es sonst sein sollte.« Derenski dachte kurz daran, wie er das Pulver für die Bannung in einem längst vergessenen Keller unter der Krakauer Burg entdeckt hatte, nachdem er zuvor in der Hinterlassenschaft des Alchimisten Basilius Valentinus erste Hinweise darauf gefunden hatte. Er hatte den kompletten Nachlass des Alchimisten an sich gebracht, aber nie einen Gegenzauber gefunden.

»Wir machen es so: Antonia, du gewinnst das Vertrauen dieser Nola. Freundschaft unter Frauen und so … du weißt schon. Igor lässt sie mit seinen Leuten nicht aus den Augen, während du die Menschin von ihnen ablenkst, und wenn sich ihr ein Werwolf nähert, schlagt ihr zu.«

»Wird gemacht, Chef. Auch wenn es Consett Enderby ist?« »Auch dann. Ich werde in der Zwischenzeit Pawel Tworek sein und mich selbst jagen.« Er grinste. »Antonia trifft sich dann wie verabredet übermorgen mit ihr.«

»Ist recht, Chef.« Igor stand auf und verließ die Suite.

»Was machen wir bis übermorgen?«, fragte Antonia.

»Was du willst, meine Liebe.«

Antonia und Derenski stürzten sich ins Londoner Nachtleben. Sie trug ein Kleid aus schwarzer Spitze, das wie eine zweite Haut auf ihrem Leib saß, hochhackige Sandalen, die mit Lederriemen um ihre Waden geschnürt waren. Auf jeglichen Schmuck hatte sie verzichtet, das Haar floss offen ihren Rücken hinunter. Derenski hatte sie zu einem schwarzen Anzug und einem schwarzen Hemd überredet. Ihn zu überzeugen, Krawatte und Weste wegzulassen, hatte sie viel Mühe gekostet. Er war jedoch nicht dazu zu bewegen gewesen, mehr als den obersten Hemdknopf zu öffnen. Maksym war eben durch und durch ein polnischer Graf — und das war genau das, was sie an ihm faszinierte.

Es war bereits nach Mitternacht. Sie flanierten durch Soho und suchten einen weiteren Nachtklub, der Antonias Geschmack entsprach; in einigem Abstand folgten ihnen zwei Werwölfe -Leibwächter. Trotz der nächtlichen Stunde ächzte London unter der Hitze, die sich in den Straßen und Hinterhöfen staute. Wer keine Klimaanlage hatte, riss die Fenster seiner Wohnung auf, doch hinein kam nur schwüle Luft. Auf den Straßen waren erstaunlich viele Menschen unterwegs, auf der Suche nach einem Vergnügen oder einem Geschäft.

Sie sahen junge Männer an Mauern lehnen und hin und wieder hinter einer anderen Person in einen dunklen Hofeingang gehen. Wenn sie wieder auftauchten, sahen beide Parteien zufrieden aus. Drogen, dachte Derenski; er war nicht so altmodisch, wie Antonia glaubte. Andere finstere Gestalten standen in Gruppen an Straßenecken, rauchten und tranken Bier aus Dosen. Sie pöbelten vorbeigehende Passanten an, vor den Werwölfen wichen aber selbst diese Jugendlichen instinktiv zurück.

»Da drüben, das sieht aufregend auf.« Antonia deutete auf eine Tür, vor der sich eine Schlange gebildet hatte. Zwei kräftig aussehende junge Männer musterten die Anstehenden und ließen hin und wieder ein paar in den Club. »Fox in the Night« stand über dem Eingang.

Hand in Hand schlenderten Antonia und Maksym an der Schlange vorbei nach vorn. Die empörten Rufe verstummten, als

Derenski den Verursachern böse Blicke zuwarf, kurz sein Raubtiergebiss zeigte und ein Knurren ausstieß. Die Menschen erschraken, wussten aber gleich darauf nicht mehr, was sie gesehen und wovor sie sich gefürchtet hatten. Antonia wiegte die Hüften und bedachte die beiden Türsteher mit einladenden Blicken, woraufhin sie die Werwölfe ohne Weiteres einließen. Ihre beiden Wächter folgten ihnen.

Drinnen empfing sie laute Musik, die Derenski als Krach bezeichnen würde, die Augen seiner Seelenpartnerin hingegen blitzten erfreut. Die Musik wurde noch lauter, als die beiden den dunklen Flur hinter der Tür verließen und den eigentlichen Clubraum betraten. Die Tanzfläche war kreisrund, auf mehreren Emporen waren darum Tische und Bars angeordnet, die meisten davon besetzt, und auf der Tanzfläche herrschte Gedränge. Der Geruch von verschwitzten Leibern drang Derenski in die Nase.

In Antonias Kielwasser drängte er sich zu einer der Bars. Die Menge vor dem Tresen machte ihnen Platz, und sie orderte einen Planter’s Punch, er einen trockenen Rotwein. Der Barkeeper nannte einen unverschämten Betrag, auf einen strengen Blick Derenskis hin korrigierte er sich jedoch hastig und verlangte nur noch die Hälfte der Summe. Der Krakauer blätterte das Geld auf den Tresen, während Antonia schon an ihrem Drink nippte.

Derenski sah sich noch um, als sie auf einmal vor ihnen standen: drei junge Männer, von denen zwei nur Brüder sein konnten, so ähnlich wie sie sich sahen — rötliches Haar und bedrohlich blitzende Augen unter schweren Lidern. Der Dritte trug sein blondes Haar im Nacken zusammengebunden, eine schwarze Lederhose und ein weißes, ärmelloses T-Shirt — ohne Zweifel war er der Gefährlichste der drei. Widerlicher Kerl, dachte Derenski und erkannte im selben Augenblick: Sie waren Werwölfe, und sie wussten, wen sie vor sich hatten.

»Besuch aus dem Ausland«, knurrte der Typ in der Lederhose.

Die anderen Gäste am Tresen machten Platz, der Barkeeper tat so, als hätte er etwas Wichtiges am entgegengesetzten Ende der Theke zu tun. Antonia sah erschrocken aus, fasste sich aber schnell wieder. Sie setzte ein überlegenes Lächeln auf und sah sich unauffällig nach ihren Leibwächtern um, konnte sie im Gedränge aber nicht entdecken.

Die Brüder traten einen halben Schritt hinter den Blonden zurück. »Wenn du deine Knechte suchst«, sagte der zu ihr, »die werden dir nicht helfen. Sie waren so einfach zu überraschen wie junge Kätzchen.« »Was wollt ihr?« Derenski spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Er war wütend, weil sie ihn überrascht hatten. Das lag nur an dem Gedröhn und Gestank in diesem Schuppen, das vernebelte seine Sinne.

»Die Frage sollten doch wohl eher wir stellen!«

»Unverschämtheit!« Sein Ärger schwoll an. Wie konnten sie es wagen, auf diese Weise mit ihm zu reden? Offenbar hatte ihnen niemand Manieren beigebracht.

»Verschwindet!«, zischte er zwischen den Zähnen hindurch. Antonia hing an seinem Arm, bereit, die Krallen auszufahren.

Die drei rührten sich nicht. »Das ist unsere Stadt. Wir dulden keine …«

Derenskis Rechte schoss vor, packte den Blonden am Handgelenk und zog ihn zu sich heran. »Ich sage es nur einmal. Weswegen ich und meine Schwester hier sind, geht dich einen Fliegenschiss an. Du kannst froh sein, dass du noch stehst. Wären hier nicht so viele Menschen .«

Die beiden Brüder sprangen vor und rissen Antonia von seiner Seite. Sie gab ein Knurren von sich, das erstickte, als ihr Kopf brutal nach hinten gebogen wurde. Eine Hand mit spitzen Krallen lag an ihrer Kehle. Die Brüder sahen auf einmal nicht mehr rothaarig-irisch aus; ihre Pupillen waren gelb geworden, das Haar wilder und sie hatten eine geduckte Haltung eingenommen. Wie alle ausgebildeten Werwölfe beherrschten sie die Kunst, sich halb zu verwandeln: Der Kopf war menschlich, der Körper der eines Wolfs. Seine Seelenpartnerin in der Gewalt fremder Bestien - die Haut an Derenskis Hinterkopf zog sich zusammen.

Der Typ in der Lederhose schüttelte Derenskis Hand ab und trat dicht vor ihn. »Die Stadt gehört uns, und wir dulden keine Rudelkämpfe. Verschwindet von hier!«

Sie waren Freie. Das Prickeln in Derenskis Hinterkopf wurde stärker. »Du weißt scheinbar nicht, wer ich bin.«

»Krakauer Abschaum.«

Antonia bohrte einem ihrer Peiniger den spitzen Absatz ihrer Sandalette in den Fuß, doch ein Werwolf war damit nicht zu beeindrucken. Sie knurrte und biss um sich. Einer der beiden Iren schlug ihr ins Gesicht, blutige Striemen blieben zurück.

»Polizei! Wann ruft endlich jemand die Polizei!«, kreischte eine Frauenstimme.

Die Musik dröhnte unvermindert laut, und der Anblick von Antonias Blut ließ den Krakauer alles vergessen. Er stürzte sich auf die Iren, schnappte nach der Kehle des einen, zerriss ihm mit den

Krallen das Hemd; an Derenski ihm war nichts Menschliches mehr.

»Maksym, nicht!«, schrie Antonia mit überschnappender Stimme. Wenn er sich in eine reißende Bestie verwandelte, würde er sich nicht mehr beherrschen können. Das war ihm schon immer schwergefallen.

Die Iren hatten die Werwölfin inzwischen losgelassen und versuchten nun gemeinsam, sich den tobenden Derenski vom Leib zu halten. Die Besucher des »Fox in the Night« wichen schreiend zurück, die Rufe nach der Polizei wurden lauter. Gläser und Flaschen gingen zu Bruch, einige Gäste hielten Scherben in den Händen, als wollten sie sich damit verteidigen. Vor den Ausgängen hatten sich Menschentrauben gebildet, die Leute schubsten und prügelten sich ins Freie. Der Blonde in der Lederhose war der Einzige, den das Ganze nicht zu berühren schien. Er schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

»Das ist alles eure Schuld. Verschwindet von der Insel.«

Er setzte über den Tresen hinweg, hinter dem der Barkeeper stand und eine Flasche Tequila zum Schlag erhoben hielt. Sie sauste herab, verfehlte den Werwolf aber und zerbarst am Tresen. Der strenge Tequilageruch beleidigte Antonias Sinne. Die Iren befreiten sich von Derenski und folgten ihrem Anführer, der durch eine Hintertür nach draußen verschwunden war.

Der Krakauer Werwolf duckte sich knurrend, auf der Suche nach Beute. Antonia packte ihn am Nackenfell, bevor er sich auf die Menschen stürzen und unter ihnen ein Blutbad anrichten konnte. Sie zerrte ihn zum Tresen, und Derenski ergab sich in ihren Griff, der ihn zu einem ungezogenen Wolfsjungen degradierte, das von der Mutter zur Strafe am Nacken gepackt wurde.

Der Barkeeper hatte nach einer neuen Flasche gegriffen und hielt sie abwehrend vor sich. Als Antonia die Zähne fletschte und ihn anknurrte, spiegelte sich Entsetzen auf seinem Gesicht, und er flüchtete ans andere Ende der Bar. Sie drängte Derenski auf die Theke, sprang selbst hinauf und kümmerte sich nicht darum, dass ihr enges Kleid dabei riss und ihren Hintern entblößte. Ein Absatz ihrer Sandale brach ab, doch sie kümmerte sich auch darum nicht.

Derenski rempelte gegen ein Regal, und ein Regen von Gläsern ging klirrend auf ihm nieder. Antonia bugsierte ihn weiter und zur Tür hinaus, durch die die anderen Werwölfe verschwunden waren. Ein Ziehen hinter ihrer Stirn zeigte ihr, dass sie nicht weit von einer Verwandlung entfernt war. Wo waren nur die beiden

Leibwächter — verflucht! Sie konnte mit Maksym nicht allein fertig werden, nicht, wenn er in dieser wilden Verfassung war. Die Kraft einer Wölfin reichte dann nicht aus, um ihn zu zähmen — nicht einmal die Kraft einer Seelenpartnerin.

»Ruhig, nicht verwandeln!«, mahnte sie sich selbst.

Die Tür hinter der Bar führte in einen dunklen Gang, der vollgestellt war mit Kartons und Getränkekisten. In der Ferne heulte eine Polizeisirene. Sie mussten aus dem Club raus; sie hatten genug Aufsehen erregt. Vom Flur aus gelangten sie auf einen Hinterhof, in dem mehrere Mülltonnen ihren Gestank verbreiteten. Von den freien Werwölfen war nichts zu sehen.

Sie brauchte ein sicheres Versteck, wo sie mit Maksym warten konnte, bis er wieder seine menschliche Gestalt annahm, und wo die Polizei sie nicht fand. Es gab keinen zweiten Ausgang, nur einen Kellerniedergang auf der anderen Seite.

Dorthin drängte sie Maksym, und gemeinsam stolperten sie die Treppe hinunter. Die Kellertür war zum Glück stabil. Antonia quetschte den Wolf in eine Ecke und stellte sich breitbeinig vor ihn. Auf keinen Fall würde sie ihn vorbeilassen. Sie stellte fest, dass ihr Kleid über einer Brust und an der Hüfte eingerissen war, fahl schimmerte ihre Haut im Licht der Hinterhoflampe. Wie oft hatten sie Spiele gespielt, bei denen Maksym ihre Kleider zerfetzte und sie ihr vom Leib riss? Es war erregend gewesen. Doch jetzt wünschte sie sich einen Mantel.

Mit dem Ellenbogen wischte sie sich das Blut von der Wange; Maksym beobachtete jede ihrer Bewegungen. Antonia fürchtete sich nicht vor ihm — als seine Seelenpartnerin war sie nicht in Gefahr, von ihm angegriffen zu werden. Trotzdem war sie erleichtert, als endlich die beiden Leibwächter kamen und sich neben Antonia stellten.

»Die freien Schnösel haben ihn bis aufs Blut gereizt«, flüsterte Antonia den Leibwächtern zu. »Sie haben einfach kein Benehmen, noch nie gehabt.« Wenn sie daran dachte, wie die beiden Iren sie gepackt hatten, könnte sie nachträglich schon wieder wütend werden.

Die Leibwächter knurrten und berichteten, dass im Club ein einziges Chaos herrschte. Sie selbst waren jeder von mehreren freien Wölfen festgehalten und in eine Ecke gedrängt worden, sodass sie nicht eher hatten zu Hilfe eilen können.

Derenski schnappte nach einem von ihnen.

Nicht viel später hielten Polizeiautos vor dem Nachtclub und Krankenwagen. Eine Stimme forderte die Menschen über Megafon zur Ruhe auf. Antonia drängte sich gegen Maksym, klemmte ihn zwischen ihren Beinen und der Kellertür ein, und versuchte zu hören, was sich im Hof und im Club tat. Die Polizei beruhigte die Leute, durchsuchte die Räume, sicherte Spuren und löste die Menschenansammlung auf der Straße auf; Sanitäter kümmerten sich um die Verletzten. Die Krankenwagen rasten wieder davon.

Zwei Polizisten kamen in den Hinterhof. Antonia kauerte sich vor Maksym, hielt ihm die Schnauze zu. Die beiden Uniformierten schauten sich flüchtig um, ehe sie wieder hineingingen.

»Soll ich Igor anrufen?«, fragte einer der beiden Wächter.

»Auf keinen Fall. Maksym wird sich gleich zurückverwandeln, dann bringen wir ihn ins Hotel.«

»Gleich« trat allerdings erst ein, als die Polizei den Club schon wieder verlassen hatte und die Sonne aufging. Einer der Wächter legte Derenski einen Mantel um, der andere gab seinen Antonia. Sie führten Derenski die Kellertreppe hoch, durch den Club. Die Polizei hatte ihre Spuren in Form von Fingerabdruckpulver hinterlassen, zerbrochenes Mobiliar war in einer Ecke aufgestapelt, zwei Putzfrauen fegten Scherben zusammen und kümmerten sich nicht um die vier derangierten Gestalten. Es roch durchdringend nach verschüttetem Alkohol. London schlief nie, um diese Tageszeit wurden die letzten Nachtschwärmer von den ersten Frühschichtlern abgelöst. Problemlos fanden die Werwölfe ein Taxi, das sie ins Hotel zurückbrachte.