Kapitel 15
Der Mond hatte sich hinter den Wolken versteckt. Von der Ruine des mittelalterlichen Brochs war nur der Schemen zu sehen. In seinem Schatten stand ein Mann; er hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und wippte auf den Fußballen auf und ab. Obwohl Kälte und Regen in der Luft lagen, trug er nur eine dunkelbraune Jacke und eine Hose in einem etwas helleren Braun. Keine Laterne verriet seine Anwesenheit. Seine Augen waren ununterbrochen in Bewegung, und er nahm jeden Geruch wahr, den der Wind ihm zutrug. Derenski wartete.
Igor und die beiden anderen Leibwächter hatten sich so verteilt, dass sie nicht zu sehen waren, aber niemand unbemerkt an ihnen vorbeischlüpfen konnte.
Ein kurzes Knurren und das polnische Wort für Vollmond als Losung, hervorgestoßen mit starkem englischen Akzent, ließen ihn herumfahren. Im Eingang des Brochs stand eine junge Frau in einem Reitkleid, obwohl sie nichts weniger im Sinn hatte als Reiten. Sie hatte sogar eine kurze Gerte bei sich, mit der sie gegen den Schaft des rechten Stiefels schlug. Lady Ianthe aus Edinburgh war endlich da.
»Du kommst spät!«, fuhr er sie an.
Ianthe zuckte mit den Schultern. »In der Burg geht es zu, als wären alle Dämonen der Unterwelt los. Ich konnte mich nicht früher hinausschleichen. Rhodry Monroe hat diese Menschin irgendwohin geschafft. Eugene Monterey führt jetzt das Kommando, und er traut niemandem, wahrscheinlich noch nicht mal seinen eigenen Gedanken. Wir können kaum irgendwo allein sein. Es ist erstaunlich, dass er nicht einen seiner Wächter in mein Bett gelegt hat.«
Derenski lachte kurz und trocken auf.
»Dafür konnte er es aber nicht lassen, ein Hausmädchen als Zofe bei mir einzuquartieren. Ein Schlag gegen den Hinterkopf, und sie schläft für eine Weile sehr tief und fest.«
»Rhodry hat also den Bann gebrochen, ist aber nicht auf Shavick Castle. Wo ist er hin?«
Ianthe zuckte die Schultern. »Sie sind in den frühen Morgenstunden mit einer vierspännigen Chaise abgefahren. Um das Ziel haben sie ein riesiges Geheimnis gemacht.«
»Hast du eine Idee?« »Nein. Ich habe versucht, etwas herauszubekommen. Hab an Türen gelauscht, bin durch die Burg geschlichen. Vergeblich. Ich befürchte sogar, Eugene Monterey hat Verdacht gegen mich geschöpft. Seine Seelenpartnerin hat mich nämlich in der Bibliothek gesehen, als ich den Eingang zum geheimen Raum gesucht habe - er muss dort irgendwo sein. Ich hatte gehofft, dort etwas zu finden, was Euch weiterhilft, Mylord, da kam sie rein. Ich habe mich natürlich rausgeredet, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mir nicht geglaubt hat.«
»Verdammte Sch…« Derenski schluckte den Rest des Schimpfworts hinunter. Er hatte in seiner Villa in Krakau auch einen geheimen Raum — mit Unterlagen, die in den falschen Händen großes Unheil anrichten konnten. Nicht einmal Igor wusste davon, nur Antonia. »Wie viele Schotten sind in der Burg?«
»Ich weiß von 45. Zehn haben mit dem Earl die Burg verlassen, dann wäre das gesamte Rudel beisammen. Oder besser gesagt: Das, was Ihr nach dem Angriff vor sechs Wochen davon übrig gelassen habt, Mylord.«
Derenski dachte nach. 45 Werwölfe, das waren viele. Er selbst hatte die meisten seiner Wölfe nach Krakau zurückgeschickt, noch etwa 15 waren in England. Zu wenige. Woher konnte er Verbündete bekommen?
»Ich habe gehört, dass seine Seelenpartnerin angeblich aus der Zukunft stammt«, fuhr Ianthe fort. »Sie soll Monroe gegenüber ziemlich aufsässig sein und sich überhaupt seltsam benehmen. In der Küche wird über sie geklatscht.«
Dass sie merkwürdig war, konnte Derenski nach seinem Zusammentreffen mit ihr bestätigen. Nicht umsonst hatte sie so getan, als würde sie ihn kennen, hatte ihn dann aber als Pawel Tworek bezeichnet. Für seine Pläne konnte es aber nur gut sein, wenn sie komisch war.
»Was hast du noch in Erfahrung gebracht?«
»Er hat eine Botschaft nach London geschickt. Zu den Freien wahrscheinlich.«
Derenski zerdrückte einen weiteren Fluch zwischen den Lippen. Dieser feige Köter hatte keine Zeit verloren, seine Bauern in Stellung zu bringen. Unterstützten ihn die Freien, hatte er noch mehr Wölfe zur Verfügung. Es dauerte aber mindestens zwei Wochen, bis Maksym Unterstützung aus Krakau geholt hätte. So lange durften sie nicht warten. Ihm fiel Consett Enderby ein, der Rudelführer der Londoner Werwölfe. Man konnte sie nicht Verbündete nennen, aber immerhin hatte sich der Londoner mit seinem Rudel in den Dienst von Derenskis Sache gestellt. Bisher hatte das nicht mehr bedeutet, als dass seine Wölfe sich in London ungehindert hatten bewegen können. Enderby war jemand, der lieber abwartete und sich erst auf jemandes Seite stellte, wenn er ganz sicher sein konnte, dass es ihm Vorteile brachte — er war kein Krieger! Wenn Maksym erst die Kontrolle über Englands Wölfe erlangt hätte, würde er den Londoner absetzen und ihn in der Themse verrotten lassen. Nur half ihm das jetzt nicht weiter. »Das sind nur schlechte Nachrichten. Hast du auch was Gutes zu berichten?«
Die Wölfin wich vor ihm zurück. »Das ist alles, was ich bisher in Erfahrung bringen konnte. Für Euch dürften das wertvolle Informationen sein.« Sie warf stolz den Kopf zurück.
Sie waren wertvoll, aber das würde er Ianthe nicht spüren lassen. War sie der Meinung, seinen Auftrag nicht gut genug ausgeführt zu haben, würde sie sich künftig noch mehr Mühe geben. So hielt er es mit all seinen Untergebenen, nur Antonia schenkte er hin und wieder ein Lob.
Die Situation war wirklich alles andere als rosig. Monroe hatte im Augenblick die Vorteile auf seiner Seite, aber er wäre nicht Maksym Derenski und für seine List bekannt, wenn es ihm nicht gelänge, seinen Nachteil in einen Vorteil umzumünzen. Der Schlüssel dazu war diese Menschin.
»Du«, fuhr er Ianthe an und bemerkte zufrieden, dass sie zusammenzuckte, »wirst herausfinden, wo er diese Frau versteckt hat. Wenn wir sie in unsere Gewalt bringen, ist Monroe Wachs in unseren Händen. In drei Nächten kommst du wieder her und erstattest mir Bericht.«
»Sehr wohl, Rudelführer. Ich werde dich nicht enttäuschen.«
»Zu niemandem ein Wort.«
»Zu niemandem.« Ianthe nickte und verschwand in der Dunkelheit.
Derenski ließ seinen Blick über die eingefallenen Wände des Brochs gleiten. Ein Volk, das derart primitive Behausungen errichtete, konnte nichts taugen. Das galt für die Menschen und die hiesigen Werwölfe gleichermaßen. Monroe hatte sich zwar aus der Zeitschleife befreit, letztendlich würde aber er, Maksym Derenski, den Sieg davontragen. Er musste nur erst diese Menschin in seiner Gewalt haben. Ob er Ianthe trauen konnte, oder ob sie noch heimliche Sache mit den Schotten machte - als Doppelagentin. Er würde sie beseitigen, wenn er Monroes Rudel übernommen hatte. Verräter duldete er in seinen Reihen nicht.
Als Ianthe sicher war, vom Broch aus nicht mehr gesehen zu werden, kehrte sie in einem weiten Bogen zurück. Sie hatte ihn gerochen, die ganze Zeit, auch wenn sie ihn nicht zu Gesicht bekommen hatte. Auch jetzt witterte sie ihn und hoffte, noch einen Blick auf ihn werfen zu können. Sie duckte sich, schlich sich auf die Hügelkuppe und spähte hinüber. Dort unten musste er gestanden und Derenski bewacht haben. Ob er an sie gedacht hatte?
»Igor, Igor«, flüsterte sie vor sich hin. Der Wind wehte seinen Geruch nur noch schwach zu ihr herüber. Beim Broch war niemand mehr.
Wenn doch nur er vorhin auf sie gewartet hätte statt Derenski! Sie hatte es mit aller ihr zur Verfügung stehenden weiblichen Unvernunft gehofft, auch wenn er ihr wahrscheinlich ohnehin wieder keinen Blick gegönnt hätte, wie schon zuvor nicht. Ianthe ließ den Kopf hängen und wanderte den Hügel wieder hinunter, sprang über einen Bach und lief ziellos in die Nacht hinein.
Wie hatte es so weit kommen können? Sie war Ianthe aus Edinburgh, noch nie hatte sie sich nach einem Mann verzehrt; die Kerle taten für einen Blick von ihr alles oder dafür, ihren Fächer aufheben zu dürfen. Igor jedoch hatte bei ihrem ersten Aufeinandertreffen nicht einmal mit ihr gesprochen. Er hatte sie genauso von oben herab behandelt, wie die anderen Wölfe des Krakauer Rudels, und doch hatte sein Anblick heiße Wellen über ihren Körper laufen lassen. Sie war wie hypnotisiert gewesen und hatte an nichts anderes mehr denken können, als wie sie ihn für sich gewinnen konnte. Nur deshalb war sie zu Derenski gegangen und hatte ihm angeboten, sein Auge und sein Ohr im Schottlandrudel zu sein. Die Sehnsucht nach Igor hatte ihr schlechtes Gewissen überdeckt, auch wenn sie jetzt einen schalen Geschmack im Mund hatte. Was sie getan hatte, war Verrat. Nach den Gesetzen eines jeden Rudels konnte sie dafür getötet werden. Nicht einmal die Freien würden sie verschonen - dennoch würde sie keinen Augenblick zögern, es erneut zu tun.
Metallklammern schlossen sich um ihren Knöchel, drangen tief in das Fleisch ein, knirschten über den Knochen. Brennender Schmerz schoss wie eine Flamme durch ihren Körper. Sie stürzte keuchend zu Boden und umklammerte ihren Knöchel. Blut quoll aus dem Stiefel hervor und lief über ihre Hände, mit denen sie den Knöchel umklammerte. Sie war in die Silberfalle eines Werwolfjägers geraten, die über eine Kette mit einem Busch verbunden war. Ianthe ignorierte den Schmerz und zerrte daran, doch sie war nicht stark genug, um die Kette zu zerreißen. Die Haut in ihrem Nacken zog sich zusammen, und sie hatte keine Kraft, die Verwandlung zu verhindern. Knurrend und halb wahnsinnig vor Schmerzen hockte sie im nächsten Moment in Wolfsgestalt auf dem Boden.
Nach wie vor schloss sich die Silberfalle um ihr linkes Hinterbein. Ianthe zerrte noch einmal an der Kette - ohne Erfolg. Winselnd und entkräftet beendete sie ihre Raserei und sank zu Boden, den verletzten Fuß von sich gestreckt. Das Gift des Silbers brannte in der Wunde, und mit jedem Augenblick wurde es schlimmer. Ihre Werwolfsinne wussten, dass sie innerlich verbrennen würde, wenn sie sich nicht von der Falle befreien konnte. Sie begann, an der Stelle über der Verletzung zu nagen. Schließlich hatte sie den Knochen freigelegt. Sie zitterte und ihr graute vor dem letzten Schritt, aber das tödliche Silber fraß sich unaufhörlich in ihren Körper.
Ianthe nahm all ihren Mut zusammen und biss ihren Knochen durch. Sie musste zweimal zupacken, bis sie es geschafft hatte. Auf dem Bauch kroch sie ein paar Schritte fort. Der Fuß blieb in der Falle zurück, die fahl im Mondlicht schimmerte und doch in den Augen der Werwölfin brannte. Ianthe rollte sich ein und leckte über ihre Wunde. Sie spürte noch das silbrige Gift in ihrem Blut. Sie biss Fellfetzen und heraushängende Sehnen ab. Sie wusste nicht, wie lange sie im Gras lag und die Wunde leckte - jedenfalls war es längst Tag, als der Blutstrom versiegte und der Schmerz nachließ.
Mühsam erhob Ianthe sich und versuchte einen Schritt auf drei Beinen. Sie schwankte gefährlich, und der Schmerz wallte wieder auf, als sie den Stumpf kurz auf dem Boden aufsetzen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie schickte ein Heulen in den Himmel.
Ihr zielloses Umherwandern hatte sie weit fortgeführt von Shavick Castle, und der Rückweg auf drei Beinen kam ihr noch unendlich viel länger vor. Alle paar Schritte musste sie anhalten, um wieder zu Atem zu kommen. Die benötigten Abstände zwischen den Pausen wurden immer kürzer, und am Ende musste Ianthe nach jedem Schritt innehalten. Und immer noch war der Turm von Shavick Castle nicht in Sicht. Sie schleppte sich verzweifelt voran und nur der Gedanke daran, dass sie für jeden Werwolfjäger jetzt eine leichte Beute wäre, trieb sie noch an.
Nola wachte auf und wusste im ersten Moment nicht, was sie geweckt hatte. Sie und Rhodry waren im Morgengrauen auf Shavick Castle angekommen, und sie war so schlaftrunken gewesen, dass er sie auf ihr Zimmer getragen hatte. Anschließend hatte Jane sie zu Bett gebracht, daran konnte Nola sich dunkel erinnern, bevor sie tief und traumlos den versäumten Schlaf der letzten beiden Nächte nachgeholt hatte.
Sie rieb sich die Augen. Und auf einmal spürte sie durch die dicken Mauern von Shavick Castle hindurch Unruhe. Hatte etwa der Angriff der Krakauer begonnen? Es wäre Rhodry zuzutrauen, sie schlafen zu lassen und die Sache allein auszufechten. Sie schwang die Beine aus dem Bett, fuhr in Fellpantoffeln und zog sich einen Morgenmantel über. Jane war nirgends zu sehen.
Auf dem Flur verstärkte sich Nolas Eindruck der Unruhe. Sie sah niemanden, aber die ganze Burg schien zu vibrieren. Eilig lief sie den Flur entlang und hinunter in die Eingangshalle. Vor der Tür traf sie Rhodry, Eugene, Moira und mindestens ein halbes Dutzend andere Werwölfe an. Sie stellte sich an Rhodrys Seite, schmiegte sich an ihn, und ganz automatisch schlang sich sein Arm um ihre Taille. Amelia und die Köchin liefen durch die Halle, die eine trug eine dampfende Schüssel Wasser, die andere einen Stapel Tücher. Sie hasteten die Treppe hoch.
»Was ist passiert? Kommen die Krakauer?«
»Auf keinen Fall. Es ist Ianthe aus Edinburgh. Sie hatte einen Unfall, mehr wissen wir noch nicht. Sie bringen sie gerade.«
Nola hätte nicht gedacht, dass Werwölfe Unfälle haben könnten, nicht bei ihren Fähigkeiten; ihre feinen Sinne müssten sie doch vor allem Unbill warnen. Sie blieb neben Rhodry stehen und wartete.
Ianthe wurde nicht auf einer Trage gebracht, wie Nola vermutet hatte, sondern sie kam in Wolfsgestalt auf drei Beinen in den Hof gehinkt. Mehrere Rudelmitglieder begleiteten sie, hielten jedoch vorsichtig Abstand. Nola schlug sich aufkeuchend die Hände vor den Mund — so etwas hatte sie noch nicht gesehen: Dem Wolf fehlte der halbe linke Hinterlauf. Wo der Fuß hätte beginnen sollen, war nur noch ein blutiger Stumpf. Die anderen waren genauso schockiert wie sie.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Moira.
Niemand antwortete ihr. Nola verstand den Sinn der Frage, als sie sah, dass sich das Tier im Hof in einer Ecke verkroch und niemanden an sich heranließ. Sie biss jeden weg, der sich ihr nähern wollte. Rhodry näherte sich ihr schließlich mit einem Stock in der Hand. Sie verbiss sich in dem Holz, aber er wand es ihr wieder aus dem Maul. Schließlich brachte er sich in die richtige Position und schlug ihr auf den Hinterkopf. Ianthe entfuhr ein überraschtes, schmerzliches Knurren, bevor sie zusammenbrach.
Zwei andere Werwölfe brachten sie in die Burg und hinauf in ihr Zimmer, das sich ganz in der Nähe von Nolas befand. Dort legten die beide Wölfe Ianthe aufs Bett und entfernten sich. Da das Zimmer klein war, war es mit Nola, Moira, Eugene und Rhodry sowie Amelia und der Köchin trotzdem völlig überfüllt.
»Alle raus hier!«, befahl Moira deshalb.
Da Rhodry keine Anstalten machte, hinauszugehen, blieb auch Nola. Eugene und die beiden Frauen verließen den Raum.
»Was ist mit ihr passiert?«, fragte Nola.
Niemand antwortete ihr. Moira beugte sich über die immer noch bewusstlose Werwölfin, betrachtete die Wunde, roch daran.
»Silber«, sagte sie tonlos. »Werwolfjäger. Ich brauche Alraunensud, um das Gift aus ihrem Körper zu ziehen, sonst verliert sie das Bein am Ende ganz.«
»Ich hole ihn dir«, bot Rhodry an. Er eilte aus dem Raum und kam gleich darauf mit einem Holzkasten wieder.
Als Moira ihn aufklappte, kamen lauter kleine Fächer zum Vorschein, in denen getrocknete Kräuter und Wurzeln lagen. Über dem Kaminfeuer kochte Moira in einem kleinen Topf den Sud. Der Geruch — Nola musste sich Mühe geben, um sich nicht die Nase zuzuhalten.
»Kann ich irgendwie helfen?«, fragte sie.
Moira wies sie an, eines der Tücher im Sud zu tränken, sobald das Wasser kochte; in der Zwischenzeit reinigte sie selbst die Wunde von geronnenem Blut. Zusammen pressten sie das kochend heiße Tuch auf den Stumpf. Ianthe zuckte trotz ihrer Bewusstlosigkeit, und Rhodry packte sie am Nackenfell, um sie zu bändigen, sollte sie aufwachen und wieder zu toben beginnen.
»Du musst das nicht tun, Nola«, sagte er dabei. »Das ist kein schöner Anblick.«
»Ich will es. Du sollst mich nicht immer wegschicken, wenn etwas unangenehm werden könnte, und gleichzeitig behaupten, ich sei deine Seelenpartnerin.«
»Da hat sie recht«, wurde sie von Moira unterstützt.
Sie kochten das Tuch noch mehrmals in dem Sud aus und pressten es auf den Stumpf. Zuletzt banden sie ein sauberes Leinentuch darum und zogen einen dicken Strickstrumpf drüber. Die Werwölfin erwachte dabei aus ihrer Bewusstlosigkeit. Rhodry packte zu, aber sie blieb friedlich.
»Ianthe«, befahl er eindringlich, »du musst dich verwandeln. Wir müssen wissen, wie das geschehen konnte.«
Nola wusste nicht, ob er zu ihr durchdrang, aber als er seine Worte wiederholte, sah sie, wie sich an den Schultern große Büschel Haare lösten. Schließlich lag Ianthe in ihrer menschlichen Gestalt und nackt auf dem Bett. Moira breitete eine Decke über sie, setzte sich auf die Bettkante und strich ihr über das Haar.
»Weißt du, was passiert ist?«, fragte sie sanft.
»Ich weiß nicht. Mein Fuß tut weh - der linke.«
Phantomschmerz, dachte Nola. Die Arme, da stand ihr noch etwas bevor.
»Du hast keinen linken Fuß mehr, du musst ihn dir abgebissen haben«, sagte Rhodry ohne jedes Mitgefühl. »Und wir müssen wissen, wie es dazu gekommen ist. Der Fuß wird nicht wieder nachwachsen, aber die Wunde wird heilen. Sie roch nach Silber, und wir haben das Gift mit Alraunensud herausgezogen.«
Nola war entsetzt. So konnte er doch nicht mit Ianthe umgehen. Sie hatte gerade ihren Fuß verloren, da war ein wenig Mitgefühl angebracht — das hätte man ihr auch schonender beibringen können. Immer wenn sie gerade glaubte, ein Einverständnis mit Rhodry hergestellt zu haben, tat er etwas, das sie wieder an ihm zweifeln ließ. Sie wollte gerade etwas sagen, doch Ianthe kam ihr zuvor.
»Es war ein Silbereisen im hohen Gras getarnt.«
»Wo?«
Sie zog sich in eine aufrechtere Stellung, hielt sich die Decke vor die Brust, und Moira schob ihr ein Kissen in den Rücken. »Ich weiß nicht genau. Ich bin einfach durch die Berge gelaufen. Ich bin nicht daran gewöhnt, auf Shavick Castle zu sein, und musste einfach mal raus. Es war auf jeden Fall westlich von hier.«
»Hast du die Falle nicht gerochen?«
»Nein. Sie war wohl schon älter oder ich war in Gedanken. Der Schmerz … Ich musste mir dann den Fuß abbeißen, sonst wäre ich …«
»Ich weiß.« Moira war sanfter als Rhodry. »Das hast du richtig gemacht, bevor sich das Gift im ganzen Körper ausbreiten konnte. Was jetzt noch da ist, zieht der Alraunensud raus. Ich habe große Hoffnung, dass alles gut werden wird.«
Ianthes Miene verdunkelte sich. »Nichts wird je wieder so werden wie vorher.«
»Sharingham. Es war eine von seinen Fallen«, mischte sich Rhodry ein. »Ich weiß sonst niemanden, der uns so jagt.« »Ein Werwolfjäger?«
Der Earl nickte.
Nola erinnerte sich daran, was Antonia ihr über die Arbeit eines Werwolfjägers erzählt hatte. Sie jagten sie wie Tiere. Die Frau hatte ihr über sich nicht die Wahrheit erzählt, sie war eher selbst eine Werwölfin als eine Jägerin gewesen, aber in diesem Punkt glaubte Nola ihr.
Nola öffnete die Tür ihres Zimmers. Jane war nicht da, aber die Tapetentür zu der kleinen Kammer, in der die Zofe ihre Garderobe aufbewahrte, stand halb offen. Dahinter hörte Nola Stimmen. Sie erkannte Janes - und die von Amelia Hillier. Was hatten die beiden zu bereden? Wie magisch angezogen näherte sie sich der Tür, lehnte sich an die Wand daneben.
»Jetzt sag schon!«, verlangte Amelia.
»Ich weiß nicht.«
»Du musst es doch wissen, du bist ständig um sie rum.«
»Ich .«
»Dumme Gans. Ich muss wissen, wie weit der Earl und sie miteinander sind. Finde es heraus, es soll dein Schaden nicht sein. Hier ist eine kleine Anzahlung.«
Nola blieb auf ihren Posten hinter der Tür fast die Luft weg. Amelia bestach unverfroren ihre Zofe! Sie hatte Daltons Tochter nie getraut, aber das sie so weit gehen würde .
»Ms. Amelia, das … Wäre sie nicht gekommen, stünde unser Earl noch immer unter dem Bann der Krakauer.«
»Soll ich ihr dankbar sein?«, schnauzte Amelia. »Ich hätte einen Weg gefunden. Ich hätte es geschafft, irgendwie.«
»Sie sagen, nur eine Seelenpartnerin konnte das für ihn tun, was sie getan hat.«
»Ich hätte es geschafft, und dann hätte er nicht mehr anders gekonnt, als sich für mich zu entscheiden. Seit ich zwölf bin, ist der Earl alles für mich, und auf einmal kommt sie und alles soll vorbei sein?! Und ich darf auch noch an ihrem Bett sitzen und freundlich zu ihr sein.«
»Aber Sie und der Earl hätten doch ohnehin nicht zusammenkommen können. Sie sind durch Bluteid an ihn gebunden. Niemand, der durch den Eid gebunden ist, kann eine Seelenpartnerschaft mit einem Werwolf eingehen.«
Nolas Aufmerksamkeit war gefesselt. Vom Bluteid hatte sie mehrmals gehört, aber niemand hatte ihr erklärt, was es damit auf sich hatte.
»Mein Vater hat den Eid abgelegt, ich nicht.«
»Sie werden es nächstes Jahr tun. Das ist genauso sicher, wie Sie für den Earl schwärmen, seit Sie zwölf sind. Niemand entzieht sich dem Bluteid, Ihre Familie leistet ihn seit Generationen.«
»Rhodry würde es nie von mir verlangen.«
Jetzt sind wir schon bei Rhodry angelangt, dachte die heimliche Lauscherin. Amelia sah sich als Gräfin auf Shavick Castle. Ihre Freundlichkeit war Maske gewesen, in Wirklichkeit wünschte sie die Rivalin zum Teufel.
»Sie werden ihn leisten, Ms. Amelia. Einem Werwolf von seinem Blut zu geben und dessen Blut zu empfangen — ein festeres Band kann es nicht geben. Ich hatte auch erst Angst, als ich letztes Jahr den Eid leisten sollte, aber jetzt bin ich so froh, es getan zu haben. Sie brauchen keine Angst zu haben, unser Earl kann sich beherrschen, er wird nicht die Kontrolle verlieren und nach Ihrem Blut gieren.«
»Ich würde ihm mein Blut mit Freuden geben, aber nicht zu diesem Zweck. Und jetzt nimm das Geld und sag mir, was ich wissen will. Der Earl muss mein werden, und wenn es mein Leben kostet. Du hilfst mir, ansonsten sorge ich dafür, dass . War deine Mutter nicht krank und braucht jeden Tag teure Medizin?«
»Ja, doch, Ms. Amelia.«
Nola hielt es nicht länger auf ihrem Lauschposten. Sie stampfte mit dem Fuß auf, als mache sie einen schnellen Schritt, und riss die Tapetentür auf. Beide Frauen drehten sich abrupt um und sahen erschrocken aus, Jane versteckte eine Hand hinter dem Rücken.
»Ich äh …«, setzte Amelia an, » … kam nur zufällig vorbei und musste sehen, dass Jane ihre Aufgaben nicht ordentlich erledigt. Sie hat Eure Kleider nicht ausgebürstet und so in den Schrank gehängt, dass sie völlig zerknittern. Ich habe sie gerügt, und sie hat mir versprochen, ihre Arbeit in Zukunft besser zu erledigen.«
Falsche Schlange. Jane wurde rot und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, ließ es dann aber doch bleiben.
»Wenn Jane ihre Arbeit nicht so erledigt, dass ich damit zufrieden bin, werde ich ihr das selbst sagen.« Nola setzte die hochmütigste Miene auf, zu der sie in der Lage war, die Lippen aufeinandergepresst, und sie kam sich sehr altjüngferlich dabei vor.
»Sehr wohl, Mylady.« Amelia knickste, machte aber keine Anstalten zu gehen.
»Ist noch etwas?«
»Äh, nein. Wenn Ihr mich brauchen solltet, Mylady, meinen Rat oder meine Freundschaft, ich bin immer für Euch da.«
Heuchlerin, hätte Nola ihr am liebsten ins Gesicht geschleudert. Wie konnte jemand aussehen wie ein Engel, aber die Seele eines Teufels haben? Zum Glück verließ Amelia das Zimmer. Nola wandte sich ihrer Zofe zu.
»Was hat sie wirklich gewollt?«
»Ach, Mylady, es war wegen des Kleids, ich war unachtsam.«
»Du weißt genauso gut wie ich, dass das nicht stimmt. Was war wirklich los?«
»Ms. Amelia ist nun mal die Haushälterin, und wenn sie etwas sagt, müssen wir gehorchen.« Jane zog die Nase hoch. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut, das war offensichtlich, und Nola fragte sich, ob das aus Solidarität mit Amelia geschah oder weil ihr die Sache peinlich war.
»Ms. Amelia ist streng«, schniefte Jane weiter. »Es muss immer alles so gehen, wie sie das wünscht, sonst schimpft sie mit uns und bestraft uns.«
»Was hat sie dir für eine Strafe angedroht?«
»Dass sie es ihrem Vater sagt und er eine andere Zofe für Euch findet, Mylady.«
»Das würde dir nicht gefallen?« Nola hoffte immer noch, Jane würde mit der Wahrheit herausrücken.
Die schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht wieder mit der Wäsche arbeiten. Sie werden sich doch nicht bei Dalton über mich beschweren, Mylady?«
»Habe ich Grund dazu?«
Janes Kopfschütteln wurde noch heftiger. »Ich werde sehr gut auf Eure Kleider und anderen Sachen aufpassen. Ich habe auch gar nicht vergessen, sie auszubürsten, egal, was Ms. Amelia behauptet.«
»Ich bin nicht unzufrieden mit dir. Du kannst jetzt gehen.«
Mehr als erleichtert huschte Jane an ihrer Herrin vorbei und aus dem Zimmer. Nola ließ sich auf ein kleines Sofa fallen, stützte die Ellenbogen auf der Armlehne ab und legte das Kinn in eine Handfläche. Würde ihre Zofe loyal bleiben oder würde sie Amelia alles erzählen, was die wissen wollte? Das belauschte Gespräch hatte ein Gutes gehabt: Sie wusste nun genau, wer ihre Feindin auf Shavick Castle war und dass sie ihrer Zofe vielleicht nicht trauen konnte. Sie würde auf der Hut sein.
Nola wurde müde, ihr Kopf sackte gegen die hohe Lehne des Sofas. Ein Mal riss sie die Augen mit Gewalt wieder auf, aber dann gab sie sich doch dem Schlaf hin.
Sie träumte.
Diesmal rannte sie durch Shavick Castle, ein unheimliches Shavick Castle. Ein Raum schloss sich an den anderen, alle waren sie hoch, schmal und gespenstisch leer.
»Rhodry! Rhodry!«
Sie lief schneller, bog immer wieder ab, wenn sie meinte, einen Schatten vor sich zu sehen, und landete jedes Mal in einem leeren Raum. Sie musste Rhodry finden - unbedingt. Als Antwort auf ihre Angst hallte Gelächter von den Wänden und Decken herab. Eine Frau machte sich lustig über sie, und sie wusste, es war Amelia.
Sie rief: »Du wirst ihn nie bekommen. Er gehört zu mir.«
»Nein«, flehte Nola und lief schneller. Wenn sie ihn rechtzeitig fand, wäre alles gut. Sie musste sich anstrengen. Wenn nur nicht alles gleich aussähe!
Wieder ertönte das Gelächter, danach die Stimme, lockend jetzt: »Rhodry, Liebster, wo bist du? Wir sind füreinander bestimmt.«
Nola hörte keine Antwort. Wenn sie Rhodry vor der anderen fand . Von neuer Kraft erfüllt, lief sie weiter durch die ewig gleichen Räume. Auf einmal kam sie in einen, in dem eine steinerne Liege stand, und darauf lag Rhodry, schlafend. Sie war erleichtert, dass sie ihn vor der anderen gefunden hatte und wollte ihn aufwecken, sich in seine Arme stürzen. Da stand auf einmal Amelia an seinem Lager, beugte sich über ihn und presste schwellende Lippen auf seine. Nola prallte zurück, ihre Freude zersplitterte wie eine Glasscheibe, durch die man einen Stein warf.
Rhodry schlug die Augen auf, schlang die Arme um Amelia, und der Kuss wollte kein Ende nehmen. Sie lagen auf einmal nackt auf der Liege, von ihrer Kleidung war nichts mehr zu sehen, und Rhodry bedeckte Amelias Körper mit feuchten Küssen. Sie wand sich unter ihm, bot ihm ihre intimsten Stellen dar, und der Earl ließ sich nicht zweimal einladen. Nola wollte wegschauen, konnte den Blick jedoch nicht von den beiden abwenden. Amelias Gesicht zeigte einen Ausdruck höchsten Entzückens, ihr Mund bewegte sich, aber Nola hörte keinen Laut.
Rhodry zog die Spur seiner Küsse hinunter zu ihrer Scham, vergrub die Nase in dem krausen Haar. Amelia hob den Unterleib an, und Nola sah ganz deutlich, wie seine Zunge in ihre Spalte glitt. Das Schwein, vor ihren Augen vergnügte er sich mit einer anderen! Sie wollte ihm die Augen auskratzen, die Eier abreißen, aber sie konnte sich nicht bewegen — als wäre sie eine Statue mit Gefühlen.
Auf der Liege wechselten die beiden die Stellung. Er setzte sich auf und lehnte sich an die Wand, die Beine gespreizt. Sein Penis ragte steil empor, so groß, dass ihn jeder Mann beneiden würde. Er war mehr als bereit für Amelia. Sie beugte sich über ihn und nahm seinen Schwanz in den Mund. Tief schob sie ihn sich hinein, saugte und leckte an ihm. Rhodry packte ihr Haar, zog die Nadeln aus ihrer Frisur, warf sie zu Boden und jedes Mal ertönte ein leises Pling. Als er fertig war, wickelte er sich Amelias langes welliges Haar um eine Hand und drückte ihren Kopf fester auf seinen Schwanz. Es sah aus, als sollte Amelia ihn abbeißen.
Sie tat es nicht - natürlich tat sie es nicht, sondern richtete sich auf und ließ sich langsam auf Rhodrys Schwanz nieder. Er glitt in ihren Körper, und als er vollständig in Amelia verschwunden war, fing sie an, Rhodry mit zurückgeworfenem Kopf zu reiten. Das Haar flog, die Brüste hüpften. Rhodry hatte die Hände an ihre Hüften gelegt und dirigierte ihren Rhythmus - mal schneller, mal langsamer. Nola erkannte, wie sich sein Körper immer mehr anspannte, je weiter er dem Höhepunkt entgegentrieb. An Hals, Schultern, Oberarmen traten Muskelstränge hervor. Nola hätte sie zu gerne berührt, stattdessen umklammerte Amelia seinen Bizeps und bewegte sich immer schneller auf ihm. Den Kopf hatte sie so weit zurückgeworfen, dass es aussah, als würde sie sich gleich den Hals brechen. Schließlich öffnete Rhodry den Mund zu einem lautlosen Schrei und ergoss sich in Amelias Schoß.
Die sah sich um und blickte Nola geradewegs an. »Er gehört mir, siehst du!«
Kaum hörte Nola die triumphierend hervorgestoßenen Worte, konnte sie sich wieder bewegen. Sie floh aus dem Raum, rannte erneut durch das Labyrinth der leeren Räume. Tränen liefen über ihre Wangen.
Rhodry öffnete vorsichtig die Tür zu Nolas Raum. Auf sein Klopfen hatte sie nicht geantwortet, aber er spürte ihre Anwesenheit. Und da war sie auch - lag auf einem Sofa und schlief. Sie sah unschuldig aus, hilflos, so zart und zerbrechlich. Eine Welle der Zärtlichkeit überflutete ihn. Dieses einzigartige Wesen gehörte zu ihm. Wenn Werwölfe an Gott glauben würden, würde er Nola für eines von Gottes Wundern halten.
Obwohl er sich immer lautlos bewegte, gab er sich jetzt besondere Mühe, leise zu sein, um sie nicht zu stören. Er nahm eine leichte Decke vom Bett und breitete sie über seine Seelengefährtin. Im Schlaf rollte sie mit den Augen, er sah die Bewegung unter ihren Lidern, ihre Zähne mahlten; sie hatte unruhige Träume. Federleicht legte er eine Hand auf ihre heiße Stirn. Nola warf den Kopf herum.
»Nola«, flüsterte er, »ich wache über deinen Schlaf, dir kann nichts passieren. Ganz ruhig.«
Sie schlug die Augen auf.
Der fehlende Fuß schmerzte. Die Wunde heilte gut, das Silbergift sei herausgezogen, sagte Moira; der Fuß würde natürlich für immer verloren sein, und ihre Liebe zu Igor auch. Welcher stolze Werwolf wollte eine hinkende Wölfin, die nicht mit ihm dem Mond entgegenlaufen konnte?
Viel dringender musste sie das Problem lösen, wen sie heute Abend zum zweiten Treffen mit Derenski schicken sollte. Sie konnte unmöglich selbst gehen, niemals käme sie aus der Burg, so langsam wie sie war. Außerdem wollte sie sich vor den Krakauern nicht in dieser armseligen Verfassung präsentieren, nicht, wenn Igor sie sehen könnte. In Gedanken ging sie die Wölfe des Schottlandrudels durch. Wem konnte sie diese Mission anvertrauen? Die meisten schieden von vornherein aus, sie würden Rhodry niemals verraten. Zwei Namen blieben auf ihrer Liste: Brandon Hatherley und Flora Smith-Ney. Sie wusste, dass sie sich nach Freiheit sehnten und sich von den Regeln beim Zusammenleben eines Rudels manchmal eingeengt fühlten - so wie es Ianthe auch ging und weshalb sie in Edinburgh lebte.
Ianthe war bekannt, dass Flora sie um ihr Leben in Edinburgh beneidete. Das hatte die ältere Frau ihr einmal gesagt — jedoch auch gleich angefügt, sie hätte nicht den Mut dazu. Sie würde sich nicht gegen den Earl und Eugene stellen. Ianthe strich die Werwölfin von ihrer gedanklichen Liste.
Blieb Brandon Hatherley. Er gehörte zu denen, die Ianthe bewunderten; das war das Pfund, mit dem sie wuchern musste. Aber nicht, wenn sie im Bett lag und aussah wie sieben Tage Regenwetter. Ianthe klingelte nach ihrer Zofe und ließ sich in ein neues Nachthemd sowie ein dazu passendes Nachtjäckchen aus weißer Spitze helfen. Die Zofe steckte außerdem Ianthes Locken neu auf, sodass sie sich verführerisch um ihr Gesicht ringelten. Zuletzt betrachtete Ianthe sich in einem Handspiegel. Sie war zufrieden mit ihrem Äußeren, kniff sich aber noch ein paarmal in ihre Wangen, um etwas Röte auf ihre Porzellanhaut zu zaubern.
Während sie auf Brandon wartete, nahm sie den neuesten Roman von Walter Scott, den sie aus Edinburgh mitgebracht hatte, zur Hand. Nachdem sie eine Seite mehrmals gelesen hatte, ohne zu verstehen, was dort stand, gab sie schnell wieder auf.
Brandon stürmte in ihr Zimmer wie ein zwölfjähriger Menschenjunge. Als er sie im Bett liegen sah, stutzte er. »Oh, ich dachte, es wäre schon verheilt.«
»Es wird nie verheilen«, entgegnete sie barsch. Gleich darauf lächelte sie wieder. »Es gibt da eine Sache, bei der brauche ich Hilfe.«
»Meine? Ich tue alles für dich, Ianthe.«
»Findest du nicht auch manchmal, dass alles hier so . Wir leben ewig, wenn kein Silber dazwischenkommt. Alles ist wie in Stein gemeißelt. Was gibt es da noch Erstrebenswertes? Und jetzt hat der Earl auch noch diese Frau hierher gebracht .«
»Was hat Lady Eleonore damit zu tun? Soll ich sie etwa für dich umbringen, Ianthe? Das kannst du nicht von mir verlangen.«
»Das will ich doch gar nicht. Diese Menschin ist völlig bedeutungslos, nur der Earl stellt ihr Wohl über das aller anderen. Aber das Leben muss doch noch etwas anderes für uns bereithalten. Denkst du das nicht auch manchmal?«
Brandon sah aus, als hätte er ihren Worten nicht recht folgen können. Er zögerte mit der Antwort. »Ja, manchmal denke ich das. Shavick Castle ist noch ewiger als unser Dasein.«
»Willst du etwas dagegen tun?«
»Was?«
Ianthe schaute ihn mit kokettem Augenaufschlag an, leckte sich über die Lippen. In ihrem fehlenden Fuß tobte der Schmerz. »Die Krakauer sind noch hier. Ich habe Maksym Derenski gesehen und mit ihm gesprochen.
»Weiß der Earl davon? Natürlich, deshalb hat er alle zusammengerufen. Es geht nur in zweiter Linie um den Ball für Lady Eleonore.«
»Können wir sicher sein, dass sie für ihn die Reihenfolge der Dinge nicht verschoben hat?«
Als sie Brandons halb zustimmende Miene sah, wusste sie, dass sie gewonnen hatte.
»Was willst du von mir, Ianthe?«
»Ich weiß, dass bei Maksym Derenski die Reihenfolge auf jeden Fall stimmt. Er würde einer Menschin nie diese Stellung einräumen, und seine Seelenpartnerin denkt genauso.«
»Du machst mit ihm gemeinsame Sache, und ich soll dir dabei helfen?«
»Du sollst mir helfen, die Werwölfe wieder zu dem zu machen, was wir einst waren und was unsere Natur ist. Keine Schaffresser. Wir sind der Albtraum der Menschheit. Mögen sie sich wieder in den Vollmondnächten in ihren Häusern verbarrikadieren und zittern. Für dieses Ziel ist jedes Mittel recht.« Sie bleckte die Zähne.
»Ausgerechnet Derenski.« Er bleckte ebenfalls die Zähne.
»Weißt du einen anderen Weg? Wir müssen vorläufig mit ihm zusammenarbeiten. Du musst das tun, da ich es nicht mehr kann.«
»Was muss ich machen?« Diesmal hatte Brandon nicht gezögert.
Sie erklärte es ihm und nannte ihm das Losungswort. Das polnische Wort für Vollmond. Sie sagte es ihm vor und ließ es ihn mehrmals wiederholen, bis sie mit seiner Aussprache zufrieden war.
Nola sah Rhodry über sich gebeugt. Er schaute sie an, als wollte er sie am liebsten ausziehen, um das mit ihr zu tun, was er eben mit Amelia gemacht hatte.
»Nola, du hast geschlafen.«
»Ich …« Sie war noch ganz in ihrem Traum gefangen.
»Und geträumt. Du warst unruhig. Waren es schlimme Träume? Ich kann sie dir nehmen.« Er machte Anstalten, sich zu ihr aufs Sofa zu setzen. »Ich möchte dir etwas sagen.«
Dass er sich für Amelia entschieden hatte, schoss ihr durch den Kopf, und sie wich vor ihm zurück. Er merkte es und blieb gekränkt stehen.
Sie stand auf und stellte sich hinter das Sofa, so fühlte sie sich sicherer. »Fass mich nicht an!« Nicht mit den Händen, die gerade noch Amelia berührt hatten. Sie konnte die Bilder des Traums einfach nicht aus ihren Gedanken verscheuchen, sie vermischten sich mit der Realität.
»Du musst einen sehr bösen Traum gehabt haben, Prinzessin. Was kann ich tun, um es dir leichter zu machen?«
»Was leichter machen?«
»Das alles hier.« Er machte eine unbestimmte Handbewegung, die Shavick Castle und ganz Schottland einschloss.
»Du kannst nichts tun.«
»Nola, ich erfülle dir jeden Wunsch, der in meiner Macht steht — und ich habe viel Macht, nicht nur bei Werwölfen, auch unter den Menschen. Du musst es nur aussprechen.«
»Da ist nichts.«
Er sprang mit einem Satz über das Sofa und schlang die Arme um sie. Sie versteifte sich, aber er kümmerte sich nicht darum. »Du bist viel zu dünn angezogen. Menschen frieren so leicht, ich vergesse das immer wieder.«
Sie befreite sich aus seiner Umarmung, brachte wieder das Sofa zwischen sich und ihn - obwohl es keine Sicherheit bot, wie sie jetzt wusste - und verschränkte die Arme vor der Brust. »War es das, was du mir sagen wolltest?«
»Natürlich nicht.« Sein Lächeln sah gequält aus. »Ich gebe übermorgen Abend einen Ball für die Mitglieder des Schottlandclans. Er ist zu deinen Ehren. Ich wäre sehr froh, dich an meiner Seite zu sehen. Die Rudelmitglieder sollen dich alle kennenlernen, und du sie. Ich wollte dich eigentlich überraschen, aber Moira meinte, es sei besser, es dir vorher zu sagen. Frauen lieben es nicht, mit so etwas überrascht zu werden, sagte sie«.
»Da hat sie auf jeden Fall recht.« Nola musste fast lachen bei der Vorstellung, mit einem Ball überrascht zu werden. Wenn alle anderen in festlicher Garderobe erschienen und sie im Tageskleid -peinlich. Garderobe, das war das Stichwort. »Ich habe nichts anzuziehen«
»Dein Kleid wird morgen fertig sein. Du wirst alle anderen überstrahlen.«
Sie war eingeladen zu einem Ball, nicht Amelia. Sie schüttelte die letzten Reste des unseligen Traums ab. »Ich werde kommen.«
»Das ist gut.« Rhodry sah aus, als hätte er sie am liebsten umarmt, aber er schien unsicher, ob er das durfte oder nicht. Das war niedlich bei einem unbesiegbaren Werwolf, deshalb tat Nola nichts, um ihn von dieser Unsicherheit zu befreien.
»Ich werde dich auf dem Ball gut bewachen müssen, damit es niemand wagt, dir ungehörige Blicke zuzuwerfen«, sagte er mit einem schiefen Grinsen.
»Und wenn ich jemandem Blicke zuwerfe?«
»Ich würde ihn töten«, antwortete er prompt.
Er sah dabei so ernst aus, dass Nola es mit der Angst zu tun bekam. Was wusste sie schon, wie ein Werwolf dachte? Seine Augen sprühten Feuer. Sie erkannte das Begehren darin und wusste mit Sicherheit, dass er keinen Nebenbuhler dulden würde. Sie fühlte, wie ihr Körper darauf reagierte. Die Heftigkeit überraschte sie. Sie konnte nicht - nicht jetzt … später … Nola war verwirrt.
»Was ist, Prinzessin?«
Als er eine Hand nach ihr ausstreckte, zuckte sie zurück. »Aber … aber … Bitte, Rhodry, nicht.«
»Was nicht? Ich will dir nichts tun.«
»Bitte geh.«
»Wie du wünschst.« Er sah enttäuscht aus, zog sich aber zurück.