Kapitel 14
Auf ein Wort, Freund.« Eugene eilte hinter Rhodry her.
Es war weit nach Mitternacht, die Morgendämmerung nicht mehr fern, und beide hatten in dieser Nacht nicht eine Minute geruht. Rhodry verlangsamte seine Schritte nicht, sondern eilte die Treppe in die Eingangshalle der Burg hinunter. Ein Werwolf kam ihm entgegen, seinem Aussehen nach zu urteilen deutlich älter als der Rudelführer, tatsächlich zählte er jedoch nicht mehr als achtzig Jahre; er steckte Rhodry einen Brief zu. Der warf einen Blick auf das Schreiben und steckte es in seine Jackentasche. Eugene setzte sich mit einem Sprung neben ihn.
»Hältst du das für klug?«
»Was?«
»Was du vorhast, in dieser Lage?«
Sie hatten die Eingangshalle erreicht, und Rhodry blieb stehen, drehte sich zu seinem Freund um. »Ich muss sie in Sicherheit bringen. Dieser Köter hat sie gezeichnet.«
»Ist sie nicht sicherer auf Shavick Castle? Es sind fast fünfzig unserer Wölfe hier. Jeder wird alles für sie riskieren.«
»Derenski hat sie einmal beinahe erwischt, und er hat sich ihr in der Zukunft genähert. Ich will sie in Sicherheit wissen.«
»Wir brauchen dich hier. Die Wölfe brauchen ihren Rudelführer.«
»Würdest du in meiner Lage nicht auch zuerst an Moira denken?«
»Ich … ich kann mir deine Situation nicht richtig vorstellen«, gab Eugene zu. »Moira war nie Menschin und immer so stark wie die Besten unter uns.«
»Nola wird auch so werden, ein richtiges Alphaweibchen. Sie hat es in sich, ich spüre das. In zwei Tagen bin ich zurück. Bis dahin hältst du hier die Stellung. Derenski wird in der Zeit kaum so viele Wölfe zusammenbekommen, um einen Angriff zu wagen. Ich habe einen Boten nach London geschickt, zu den Freien. Raphael Langdon wird uns unterstützen, er ist mir was schuldig. Versucht der Köter, noch mehr seiner Kreaturen ins Land zu bringen, werden sie es verhindern.«
»War der Brief von ihm?«
»Ja. Wir führen alles so durch wie geplant.«
»Du meinst wirklich alles? Auch den …«
»Alles.«
Eugene schüttelte den Kopf. So war Rhodry: Von seinen Plänen ließ er sich durch nichts abbringen. Er konnte eiskalt sein, aber im nächsten Augenblick um den jüngsten Wolf im Rudel besorgt. Genau dafür wurde er bewundert.
»Bis dahin haben wir Derenski so zugesetzt, dass er sich wünschen wird, niemals eine Pfote auf diese Insel gesetzt zu haben. Und wenn nicht, soll er nicht glauben, dass wir uns vor ihm fürchten.«
Rhodry stürmte auf den Hof; Dalton konnte im letzten Moment die Tür für ihn öffnen. Vor den Stallungen stand eine Chaise, vor die paarweise vier schwarze Pferde gespannt waren. Ihr Atem dampfte in der kalten Nachtluft, und sie stampften unruhig mit den Hufen - entweder aus Furcht vor den Werwölfen, die auf den umliegenden Mauern und dem Turm Posten bezogen hatten, oder aus Lust auf einen Galopp in den Morgen hinein. Bei jedem Paar stand ein Stallbursche und hielt ihre Köpfe, ein dritter verstaute einen Koffer und eine Reisetasche im Kutschkasten. Der Kutscher lief neben der Chaise auf und ab, er trug mehrere Jacken und Umhänge übereinander, hatte sich Felle über die Hosen gebunden und eine Pelzkappe über die Ohren gezogen. Er hatte mehr Ähnlichkeit mit einer Tonne als mit einem Menschen.
Ein Lächeln huschte über Rhodrys Gesicht. Es war alles so, wie er es angeordnet hatte. Nur eine fehlte noch.
Und da kam sie schon, gefolgt von ihrer Zofe Jane und Eugene. Nola trug einen pelzbesetzten Mantel, hatte die Hände tief im Muff vergraben und eine Kapuze übers Haar gezogen. Eine Schulter hielt sie etwas höher als die andere, doch das war alles, was sie sich von ihrer Verletzung noch anmerken ließ. Trotzdem sah sie zerbrechlich aus.
Er trat auf sie zu, nahm die Hand, die sie ihm hinhielt, und zog sie an seine Lippen. Blitzschnell drehte er sie um und presste den Mund auf ihre Handfläche. »Alles ist bereit, Prinzessin.«
Ein Stallbursche half ihr und Jane in die Chaise, klappte den Tritt hoch und schloss den Wagenschlag. Der Kutscher war auf den Bock geklettert, und er schnalzte mit der Zunge, als die beiden Burschen die Pferdeköpfe freigaben und zurücksprangen. Die vier Rappen trabten an, die Räder der Chaise ratterten über das Pflaster und zum Tor hinaus.
Rhodry verwandelte sich binnen Sekunden und folgte in weichen Sprüngen. Zehn weitere Werwölfe begleiteten die Reisenden, um ihren Schutz im Sommerhaus zu garantieren.
In der Kutsche wickelte Jane ihre Herrin in mehrere Decken und legte ihr ein Fell über die Knie, zuletzt schob sie ihr einen heißen Ziegel unter die Füße. Nola schaute aus dem Fenster auf die vorbeigleitende Landschaft; im Osten erhob sich eine fahlgelbe Sonne über den Horizont. Sie hatte gewusst, dass Rodry nicht mit ihr in der Chaise fahren würde, dennoch war sie enttäuscht. Sie spähte angestrengter aus dem Fenster und versuchte, ihn auszumachen. Als sie einen Schatten entdeckte, der in immer gleichem Abstand zur Chaise blieb, glitt ein Lächeln über ihre Züge. Sie kuschelte sich in ihre Ecke der Kutsche und machte es wie Jane - versuchte, noch ein wenig Schlaf zu finden.
»Ich rieche das Meer«, sagte Jane, als die Sonne den höchsten Stand überschritten hatte, und zog die Nase kraus. Nola schnupperte ebenfalls. Es roch nach Salz in der Luft, nach Tang und Feuchtigkeit.
Die Kutsche fuhr eine Auffahrt entlang, und das Haus am Ende des Wegs versetzte Nola in Erstaunen. Rhodry hatte von einem Sommerhaus gesprochen, und sie hatte ein Cottage erwartet, vielleicht etwas größer, aber vor ihr stand ein zweistöckiges Gebäude, sieben Fenster zeigte die Front. Es war groß genug für eine Familie und aus dem grauen Stein der Highlands erbaut.
Rhodry trat aus der Tür, als die Kutsche davor hielt. Die Pferde scheuten bei seinem Anblick zurück, aber weil sie von der Fahrt erschöpft waren, hatte der Kutscher keine Mühe mit ihnen.
Nola dachte daran, wie Rhodry nach der Verwandlung nackt vor ihr gestanden hatte — heute war er bereits wieder angezogen. Gab es eigentlich einen Bediensteten, der die Kleidungsstücke nach der Verwandlung wieder einsammelte? Nola lachte innerlich über das Bild, dass in ganz Schottland Kleidung verwandelter Werwölfe verteilt war.
Rhodry half ihr aus der Kutsche und führte sie ins Haus.
»Bist du müde? Willst du dich ausruhen?«
»Natürlich nicht, ich will das Meer sehen.«
Rhodry lachte. Er führte sie am Haus vorbei und eine schmale Treppe hinunter in eine Bucht. Das Meer rollte in immer gleichen Wellen heran. Es war gerade Ebbe und der Strand ziemlich groß, aber er war nicht so, wie Nola erwartet hatte: Statt aus Sand bestand er aus dem grauen Stein, aus dem ganz Schottland war.
»Möchtest du wieder zum Haus?«, spottete ihr Traumann milde. Er hatte offenbar bemerkt, dass der Strand nicht ihren Erwartungen entsprach.
»Ich überlege, die Schuhe auszuziehen und durchs Wasser zu gehen.«
»Das solltest du besser nicht, Prinzessin. Das Wasser ist eiskalt, und die scharfen Steine würden deine hübschen Zehen verletzen.«
»Was hast du schon von meinen Zehen gesehen?«
»Nicht sehr viel. Wollen wir das ändern?« Er packte sie um die Hüfte und machte Anstalten, sie auf die Steine zu legen.
Nola quietschte überrascht auf. Sofort stelle Rhodry sie wieder auf die Füße, ordnete ihren Rock. »Ich wollte dir keine Angst bereiten.«
»Das hast du nicht.« Manchmal war er wirklich begriffsstutzig.
Sie gingen nebeneinander her, er hielt ihre Hand und half ihr über schwierige Stellen, machte aber keinen Versuch mehr, sie zu necken. Nach einer Weile machte sich Nola von ihm los und lief vor zum Wasser. Als sie sich umsah, stellte sie fest, dass der Werwolf ihr nicht folgte. Sie ging immer weiter, und erst als eine Welle ihren Schuh streifte, stoppte sie - noch immer war Rhodry ihr nicht gefolgt. Sie winkte ihm, aber er schüttelte den Kopf.
»Komm zurück, Nola!«, rief er, und seine Stimme klang, als wäre er wirklich besorgt.
Sie hörte nicht auf ihn, sondern schlenderte weiter am Wasser entlang. Der Stand vor ihr wurde enger, ein scharfer Fels sprang vor. Eigentlich war die Bucht an dieser Stelle zu Ende, aber die Flut war weit genug entfernt, sodass sie um den Fels herumgehen konnte. Dadurch verschwand sie aus Rhodrys Blickfeld. Sie hörte ihn rufen, kümmerte sich aber nicht darum. Ihre Schuhe waren inzwischen durchnässt, doch auch das interessierte sie nicht. Mal sehen, ob sich ihr Werwolf nicht provozieren ließ!
Sie betrachtete die Klippen: schroff, steil, unüberwindbar. Vor sich entdeckte sie zwei, drei Spalten und auf halber Höhe eine Höhle, die aber nur ein wagemutiger Kletterer erreichen konnte. Sie zwängte sich in eine Spalte und schob sich immer tiefer hinein, bis sie das Gefühl hatte, unrettbar festzustecken, sollte sie sich noch eine Handbreit weiter vorwagen. Sie zwang sich zu langsamen Atemzügen.
Eine Welle leckte in den Spalt, berührte ihre Schuhspitze und zog sich wieder zurück. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sich hier zu verstecken. Die nächsten Wellen waren allerdings wieder viel kürzer, keine reichte bis in den Spalt, und sie beruhigte sich wieder. Es konnte noch Stunden dauern, bis die Flut kam, bis dahin war sie längst wieder raus aus dem Spalt - musste sie raus sein, denn es war verdammt eng hier drin. Sie hörte Rhodry näher kommen. Seine Stiefel knirschten auf den Steinen.
»Nola!«, rief er. In seiner Stimme schwangen Sorge und Zorn.
Sie drückte sich mit dem Rücken enger an die Wand.
»Nola, wo bist du? Komm her!« Seine Stimme war jetzt ganz nah, er musste genau vor der Klippe stehen. Immer noch hörte sie Zorn und Sorge.
Dann verdunkelte seine Gestalt den Spalt. Sie hielt den Atem an. »Bist du da drin? Die Flut kommt. Wir haben keine Zeit für solche Späße.« Er beugte sich vor.
Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis er sie entdeckte. Was als Spaß begonnen hatte, kam ihr auf einmal nicht mehr lustig vor. Ihr war kalt, ihre Füße waren nass, und Rhodry war wütend auf sie. »Ich bin hier.«
»Komm raus, Prinzessin.« Die Erleichterung in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Er streckte ihr seine Hand entgegen, und als sie sie ergriff, zog er sie mit einem Ruck aus der Spalte heraus und in seine Arme. Eine Welle rollte heran, eine lange. Rhodry hob Nola hoch und brachte sie beide mit einem waghalsigen Sprung vor dem Wasser in Sicherheit. Das ganze Abenteuer hatte offenbar länger gedauert, als Nola gedacht hatte, denn das Meer war inzwischen ein ganzes Stück gestiegen. Um die Klippe konnten sie nicht mehr herumgehen, dort donnerten jetzt die Wellen an den Fels. Die Bucht, in der sie sich befanden, war viel kleiner als die, in der sie zuerst gewesen waren; der steinige Strand war schmaler, und es gab auch keine Treppe, die nach oben führte. Dafür war an den Klippen deutlich zu erkennen, bis wohin die Flut normalerweise stieg. Sie rannten gemeinsam zu den Steilklippen.
»Wir müssen hier irgendwie hoch. Schaffst du das, Prinzessin?«
Er wartete ihre Antwort gar nicht ab, sondern schob sie dem Fels entgegen. Es gab viele Spalten und Vorsprünge, die ihren Händen und Füßen Halt boten, dennoch fiel es Nola mit ihrem langen Kleid und der verletzten Schulter alles andere als leicht, die Klippe hochzuklettern. Mehrmals rutschte ihr Fuß ab, und wäre Rhodry nicht hinter ihr gewesen, hätte sie es nicht geschafft.
Oben angekommen ließ sie sich keuchend ins Gras fallen. Ihre Schuhe waren zerkratzt, ihr Rock schmutzig und zerrissen. Die überstandene Angst ließ sie immer noch zittern. Das war keine gute Idee gewesen. Der Earl schwang sich über die Kante, seine Kleidung sah ebenso derangiert aus wie ihre, aber sein Atem ging normal, und seine Miene zeigte Erleichterung. Er kniete sich neben sie.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Oh, Rhodry, es tut mir so leid. Ich hätte nicht gedacht, dass die Flut so schnell kommt.«
»Es ist ja nichts passiert.« Er strich ihr die Haarsträhnen aus dem Gesicht.
Nola lehnte sich an ihn und hielt ihm die Lippen zum Kuss entgegen. Mit den Händen klammerte sie sich an seinem Revers fest. Er presste seinen Mund auf ihren, sie öffnete ihn und ihre Zungen begannen ein Spiel. Als Rhodry von ihr abließ, war Nola trotz des schottischen Winters heiß. Ihr Traummann sollte sie nehmen - hier und jetzt, und die Seelenpartnerschaft endlich Wirklichkeit werden lassen. Sie zog an seinem Halstuch.
Rhodry beendete den Kuss. »Es ist wegen des Wassers.«
»Was?« Sie war verblüfft.
»Werwölfe vertragen kein Wasser. Es zieht uns in seine Tiefe hinunter und tötet uns. Eine unserer Schwächen neben Silber.«
Er lächelte schief auf sie herunter, und mit einem Mal wurde Nola klar, was der harmlose Strandspaziergang für ihn bedeutet haben musste, warum er ihr nicht zum Wasser gefolgt war und so besorgt geklungen hatte, als sie sich versteckt hatte. Für ihn war das alles wesentlich schlimmer gewesen als für sie. Und … ja, ihr starker Werwolf war nicht unbesiegbar. Das machte ihn menschlicher - liebenswerter.
»Du wäschst dich nicht? Du trinkst nie ein Glas Wasser?«
»So schlimm ist es nicht mit uns. Ich kann natürlich Wasser trinken, auch wenn ich keinen Grund weiß, warum ich es tun sollte.« Er hatte seine Arroganz wiedergefunden. »Wir waschen uns auch. Seen, Flüsse, Bäche und das Meer sind gefährliches Wasser für uns, tief und unergründlich. Wir können solche Gewässer nicht passieren.«
Das verblüffte Nola nun. »Aber England ist eine Insel.«
»Auf einem Schiff können wir Wasser schon überqueren, und wir können auch eine Brücke benutzen, obwohl das nicht gerade angenehm ist. Das tiefe Wasser will uns zu sich ziehen. Das ist der Preis, den wir für unser Wesen als Gestaltwandler zahlen müssen. Findest du ihn hoch?«
»Ich weiß nicht.« Im Urlaub nicht mehr am Strand in der Sonne liegen und Abkühlung im Meer suchen zu können, das war eine schreckliche Vorstellung. Für eine vornehme Lady zu Beginn des 19. Jahrhunderts war ein Strandurlaub jedoch vermutlich ohnehin nicht angebracht, sie bezweifelte deshalb, ob Rhodry sie verstehen würde.
Ludmilla trug Hosen und Stiefel, Hemd, Weste und Jacke. Sie sah aus, als hätte sie den Kleiderschrank eines Mannes geplündert, allerdings wallte ihr rotblondes Haar offen über ihren Rücken. An einer Hand baumelte ein verschnürtes Bündel.
Sie öffnete leise die Tür des Privatsalons, hinter dem Antonia Derenska seit den frühen Morgenstunden saß und aus dem Fenster schaute. Beide hatten zum Frühstück und zum Lunch eine große Portion Schinkenbraten verdrückt, jedoch kaum ein Wort gewechselt. Die Schweigsamkeit der Freundin war Ludmilla irgendwann zu viel geworden, deshalb hatte sie sich in den gemeinsamen Schlafraum zurückgezogen. Jetzt glaubte sie, ein Mittel gegen die schlechte Laune ihrer Freundin gefunden zu haben.
Antonia fuhr herum, als die Tür auf ging. Die Wut in ihren Augen verflog, als sie die Freundin erkannte, freundlich wurde ihre Miene dennoch nicht.
»Was willst du?«
»Mit dir zusammen einen Spaziergang unternehmen, damit du nicht den ganzen Tag hier hockst und immer trübsinniger wirst.«
Die junge Werwölfin hatte ja recht. Antonia erhob sich deshalb und ließ sich in einen Mantel helfen. Dabei fiel ihr Ludmillas Kleidung auf.
»Warum bist du gekleidet wie eine Landstreicherin?«
»Du weißt, dass ich mir nicht viel aus Röcken und so mache.«
Vor dem »Fat Cat Inn« wählte Ludmilla einen schmalen Fußweg, der sie vom nahen Dorf fortführte. Sie schlug ein flottes Tempo an und verlangsamte es auch nicht oder machte Anstalten umzukehren, als es immer später wurde.
»Wohin führt dieser Spaziergang?«, verlangte Antonia schließlich zu wissen.
»Nach Shavick Castle.«
Die dunkelhaarige Polin blieb stehen. »Das meinst du nicht im Ernst.«
Die andere kümmerte sich nicht um diesen Einwand, sondern ging einfach weiter. Was sie vorhatte, war Wahnsinn. Nicht wegen der Entfernung, denn Werwölfe waren daran gewöhnt, weite Strecken zurückzulegen, sondern wegen des offenen Ungehorsams.
»Maksym hat uns befohlen, hierzubleiben«, rief sie Ludmilla hinterher.
Die drehte sich nun doch um. »Das ist nur seinem männlichen Stolz entsprungen. Gegen die Schotten werden wir jeden Wolf und jede Wölfin brauchen. Ich bin eine Kämpferin des Rudels und du auch, also sollten wir da sein, wo gekämpft wird. Hast du noch nie getan, was du wolltest, statt nur die Befehle deines Seelenpartners zu befolgen?«
»Und du?«
»Ständig.«
Antonia überlegte. Sie umschmeichelte Maksym, überredete ihn mit spielerischen Drohungen oder Sex, bis er ihrer Meinung war; einem direkten Befehl hatte sie sich noch nie widersetzt. Wenn Ludmilla ständig die Wünsche ihres Seelenpartners Milan überging, war es kein Wunder, dass er lieber in Ausbildungslagern junge Werwölfe trainierte, statt bei ihr zu sein, und dass er ihr erlaubt hatte, auf diesen Kriegszug zu gehen, während er als Maksyms Stellvertreter in Krakau geblieben war.
»Dann wird es wirklich Zeit, Antonia.«
Die zögerte immer noch, schaute auf die Wiesen und Berge vor sich. Wenn sie sich beeilten, könnten sie morgen Mittag in Shavick Castle sein. In einem Punkt hatte Ludmilla recht: Sie waren nicht so viele, dass sie auf die Hilfe zweier zu allem entschlossener Wölfinnen verzichten konnten. Langsam nickte sie.
»Richtig so«, lobte die Freundin und hob das Bündel hoch, das sie trug, und das Antonia erst jetzt richtig wahrnahm. »Ich habe alles dabei, was wir brauchen. Und so unzivilisiert die Highlands auch sein mögen, irgendwo werden wir doch notfalls etwas kaufen können.«
»Wenn du dich da mal nicht täuschst! Aber wir finden schon, was wir brauchen.« Antonia entledigte sich ihrer Kleidung, rollte sie zu einem Bündel zusammen, dass sie sich auf den Rücken knotete.
Ludmilla tat es ihr gleich. Am Ende hetzten zwei Wölfe davon, die so etwas wie Rucksäcke trugen. Wenn jemand sie so sähe, würde er nicht schlecht staunen.
Rhodry hatte sich auf der Armlehne des Sofas niedergelassen, auf dem Nola saß, und stützte sich mit einem Arm ab. Nola schaute zu ihm auf. Nach ihrem Abenteuer auf der Klippe hatte sie ein Bad genommen und sich dann von Jane in ein neues Kleid helfen lassen. Die Zofe hatte darauf bestanden, dass Nola eine Tasse Tee trank und zwei Scheiben geröstetes Brot mit Butter aß, um den
Schreck zu verdauen. Beim Essen hatte Nola selbst bemerkt, wie hungrig sie gewesen war.
Jetzt lehnte sie den Kopf gegen Rhodrys Arm; sie fühlte sich erschöpft nach all den Ereignissen des Tages, aber auch gut aufgehoben in der Gegenwart des Werwolfs. Heute Abend war die Zeit, um ihre Träume endlich wahr werden zu lassen. Ein Glas Wein, eine Decke vor dem Kamin, in dem das Feuer munter flackerte …
»Du bist hier gut aufgehoben, Prinzessin. Das Haus bietet dir jegliche Bequemlichkeit«, sagte der Earl.
Das klang nun nicht nach der Erfüllung ihrer Träume, aber wer weiß … Sie ging auf sein Thema ein. »Es ist ein wirklich schönes Sommerhaus.«
Das letzte Wort hatte sie betont, denn immer noch war sie beeindruckt von der Größe.
»Hier bist du sicher vor diesem Köter Derenski. Ich selbst muss zurück nach Shavick Castle, aber es bleiben einige Wölfe zu deinem Schutz hier.«
»Wie bitte?« Sie setzte sich aufrecht hin, war alarmiert. Rhodry dachte offenbar nicht an einen intimen Abend zu zweit.
»Im Krieg mit den Krakauern braucht mich das Rudel. Ich kann die Angelegenheit nicht Eugene überlassen. Im Laufe der Nacht werde ich aufbrechen. Wenn alles vorbei ist, komme ich zurück und hole dich.«
»Ach, und das dauert wie lange?« Nola hatte Kriege vor Augen, die jahrelang anhielten — sechs, sieben Jahre oder sogar dreißig. Sollte sie hier alt werden? »Kommt nicht infrage. Ich komme mit dir. Ich bin deine Seelenpartnerin, bei so einer Sache gehöre ich an deine Seite«, widersprach sie heftig.
»Du bist eine Menschin.«
»Deine Seelenpartnerin.«
»Wenn du eine Werwölfin wärst … genügend Erfahrung hättest … vielleicht.«
»Rhodry.«
»Nein, Nola. Zum Wesen der Seelenpartnerschaft gehört auch, dass das Weibchen gehorcht. So ist das nun einmal im Rudel.«
»Ist das dein letztes Wort?«
»Mein letztes Wort.«
Die Stimmung war dahin. Nola ballte die Hände zu Fäusten, um sie dem Werwolf nicht ins Gesicht zu schlagen. Die Nägel schnitten in ihre Handballen »Prinzessin, du solltest zu Bett gehen, und morgen denkst du darüber genauso wie ich.«
Er wollte sie an sich ziehen, doch sie sprang vom Sofa auf und wich zurück.
»Ich werde zu Bett gehen. Gute Nacht, Rudelführer.«
Rhodry blieb im Salon zurück, stellte sich an den Kamin. Die Kälte in seinem Inneren konnten die Flammen nicht vertreiben. Er hatte das Gefühl, bei Nola könne er tun, was er wolle, bei ihr trat er immer ins Fettnäpfchen. Er wollte das Beste für sie. Warum sah sie das nicht ein? Sie gehörte einfach nicht in eine Auseinandersetzung zwischen Werwolfrudeln, sie war eine Menschin - schwach und schutzbedürftig. Er seufzte. Wenn sie sich zur Werwölfin machen ließe, wäre alles einfacher. Doch nach der Auseinandersetzung eben brauchte er die Frage nicht zu stellen.
Er trat nach einem im Kamin glimmenden Scheit, Funken stoben auf. Er verstand Nola oft nicht. Lag das daran, dass sie aus der Zukunft zu ihm gekommen war, oder warum war sie wohl so anders als die Frauen, die er kannte? Heute hatte er mehrmals das Gefühl gehabt, dass sie etwas von ihm erwartete, dass es ihr recht gewesen wäre, er wäre über sie hergefallen, wie es Teil seiner wölfischen Natur war. Er hatte seinem eigenen Gefühl jedoch nicht getraut und sich zurückgehalten. Offenbar war das falsch gewesen? Aber sie sollte ihn nicht für ein Tier halten.
Er hätte nicht gedacht, dass es mit einer Seelenpartnerin so kompliziert sein würde. Als Alphawolf gehörte er in einer solchen Situation an die Spitze seines Rudels, das musste sie doch verstehen!
Nola war in ihr Zimmer gegangen, aber keineswegs zu Bett. Sie hatte ihre Kleidung, die Jane erst am Nachmittag ausgepackt hatte, wieder aus dem Schrank gezerrt und aufs Bett geworfen. Nun zog sie sich ein zweites Paar Strümpfe an, legte Mantel, Pelzmütze, Muff und ein Umschlagtuch heraus; den Rest stopfte sie in eine Reisetasche. Es wäre bestimmt alles zerknittert, wenn sie auf Shavick Castle ankam, aber sie hatte jetzt nicht die Ruhe, die Sachen ordentlich zusammenzulegen. Jane wollte sie auch nicht rufen, das Mädchen sollte in ihr Vorhaben nicht mit hineingezogen werden.
Nola setzte sich an ein Fenster ihres Schlafzimmers, von wo aus sie den Platz vor dem Haus gut im Blick hatte, und blies die Kerze aus. Halb hinter dem Vorhang verborgen wartete sie. Mehrmals nickte sie kurz ein und schreckte beim kleinsten Geräusch wieder hoch - und das alte Haus ächzte und knarrte, als hätte es ein eigenes Leben. Auf dem Kaminsims tickte eine Uhr, die Zeit schlich dahin.
Auf einmal nahm sie eine Bewegung auf dem Vorplatz wahr. Rhodry trat aus dem Haus. Sofort war sie hellwach, ergriff ihre Tasche, den Mantel, rannte aus dem Zimmer und die Treppe hinunter.
»Rhodry!« Sie riss die Tür auf.
Er drehte sich halb um, schaute sie an. In der Dunkelheit konnte sie seine Miene nicht erkennen, aber sie war sich sicher, kein Lächeln zu sehen.
»Ich bleibe nicht hier und warte, ich komme mit nach Shavick Castle, wie es sich für eine Seelenpartnerin gehört.« Die Worte sprudelten aus ihr heraus, während sie sich den Mantel anzog. »Wenn du mich nicht freiwillig mitnimmst, folge ich dir eben ohne deine Erlaubnis. Du kannst mich hier nicht festhalten, notfalls gehe ich zu Fuß.«
»Du würdest Tage brauchen.«
»Dann würde es eben Tage dauern.« Sie ging ein paar Schritte auf Rhodry zu, wagte es jedoch nicht, ihn zu berühren.
»Nola, du weißt nicht, was du da sagst, und was du von mir verlangst.«
»Ich habe diesen Derenski und seine Hinterlist kennengelernt. Vergiss nicht, auch ich habe eine Rechnung mit ihm offen.« Sie hatte sich in Rage geredet. In diesem Augenblick war sie fest entschlossen, notfalls zu Fuß nach Shavick Castle aufzubrechen, und wenn es Wochen dauerte, bis sie ankam. Rhodry sollte nicht glauben, sie ließe sich wie ein dümmliches Frauchen abspeisen. Auch wenn sie blond war: Von einem einmal gefassten Entschluss war sie nicht abzubringen.
»Nola .«
»Du kannst sagen, was du willst, ich bleibe nicht hier und warte auf dich.«
»Ich kann wohl sagen, was ich will, du weißt immer eine Antwort.«
Sie hatte den Eindruck, er sei jetzt milder gestimmt. »So ist es«, antwortete sie deshalb frech.
»Ich könnte dich packen, in dein Zimmer tragen und ans Bett fesseln. Wie würde dir das gefallen?«
»Du bist mein Seelenpartner, du musst mich aus Gefahren retten, nicht mich einsperren.« Sie schaute mit einem koketten
Augenaufschlag zu ihm auf. »Lässt du jetzt die Kutsche anspannen, damit wir aufbrechen können?«
Rhodry zögerte mit der Antwort, und sie fürchtete schon, zu weit gegangen zu sein und sich tatsächlich gleich in ihrem Zimmer als ans Bett gefesselt wiederzufinden. In seiner Miene war nichts zu erkennen.
»Wir lassen anspannen«, sagte er endlich langsam.
Wie von Zauberhand tauchte aus dem Schatten des Hauses eine Gestalt auf und ging zu den Ställen, um den Befehl des Earls weiterzugeben. Im Stall erwachte das Leben, und es dauerte nicht lange, da wurde das erste Paar aufgezäumter Pferde nach draußen geführt, gleich darauf das zweite. Als die Kutsche angespannt war, kam auch Jane aus dem Haus. Sie schleppte einen Koffer, der fast zu schwer für sie war.
Der Kutscher kam zu Rhodry und verneigte sich. »Eines muss ich Ihnen sagen, Mylord. Wir müssen langsam zurückfahren, die Pferde sind noch erschöpft von der Herfahrt. Ich werde sie nicht zuschanden fahren.«
»Das werde ich auch nicht von dir verlangen.«
Diesmal fuhr sogar Rhodry in der Kutsche mit. Er kümmerte sich nicht um die Unruhe der Pferde, sondern saß gelassen neben Nola und hatte einen Arm um sie gelegt. Jane hatte sich ihnen gegenüber in eine Ecke der Kutsche gekuschelt und schlief. Der lange Tag forderte auch von Nola seinen Tribut, sodass ihr immer wieder die Augen zufielen. Schließlich legte sie den Kopf an Rhodrys Schulter und schlief ein.