XII. Kapitel

Max war nicht nach Hause gegangen. In dieser Nacht liebten wir uns unter dem Apfelbaum.

Als die Sonne aufging, fuhren wir mit den Rädern raus und schwammen im See. Das Wasser war weich und kalt, und wo es nicht silbern war, da war es schwarz. Ich begleitete ihn nach Hause, und er fragte, ob er nach der Arbeit vorbeikommen dürfe. Ich sagte ja.

Als ich durch das taufeuchte Gras zur Obstbaumwiese stapfte, fiel mir zunächst nichts auf. Erst nachdem ich mich auf unserem Nachtlager ausgestreckt hatte und in den Baum hinaufblickte, sah ich es: Über Nacht waren die Äpfel reif geworden. Schwere Boskopäpfel mit rauer grünrotbrauner Schale hingen an den Zweigen. Es war Juni. Ich stand auf, pflückte einen, biss hinein, er schmeckte süß und sauer und die Schale etwas bitter.

Da ging ich los, um Eimer und Körbe zu holen. Auf dem Weg in die Diele fiel mir etwas ein, und ich machte noch einen Abstecher zu den Johannisbeerbüschen. Aber hier war alles wie immer. Nur weiße und schwarze.

Den ganzen Tag lang pflückte ich Äpfel.

Es wurde heiß, der Baum war groß und trug schwer. Eine Aluminiumleiter hatte ich mir an den Stamm gestellt. Bei den Eimern und Körben und Wannen, die ich mir zusammengesucht hatte, lagen auch s-förmig gebogene Metallhaken, die man mit der einen Seite über einen Ast hängte. An der anderen Seite hakte man den Henkel eines Eimers ein. Mit diesem Eimer stieg ich dann viele Male die Leiter hoch und runter. Das Äpfelpflücken war anstrengend, aber der Baum machte es mir leicht. Seine Äste waren stark und ausladend, ich konnte auf ihnen stehen und klettern und die Äpfel gut erreichen.

War es dieser Apfelbaum, von dem Bertha damals gefallen war, bevor sie als alte Frau wieder aufstand? Ich wusste es nicht, und es war auch nicht wichtig. Nach Rosmaries Sturz brach Harriet zusammen. Inga suchte für Bertha einen Platz in einem Pflegeheim. Aber es dauerte fast zwei Jahre, bis Harriet aus dem Haus auszog und sich eine Wohnung in Hamburg suchte. In der Zeit kümmerte sich Inga um ihre Mutter, brachte sie oft nachmittags ins Haus und kümmerte sich dabei gleichzeitig um Harriet. Meine Mutter reiste meist außerhalb meiner Schulferien nach Bootshaven. Das war eine Erleichterung, denn ich wollte nicht mehr mit. Ein paar Mal war ich kurz in den Semesterferien dort, oder ich besuchte Inga in Bremen. Wenn sie Bertha besuchte, ging ich – bis auf das eine Mal – nicht mit. Ich merkte, dass ich meine Tante und meine Mutter damit enttäuschte, konnte es aber nicht ändern.

Harriet hielt es nicht lange in Hamburg, und sie reiste für mehrere Monate nach Indien, wo sie in einem Ashram Seminare besuchte. Das schien ihr gutzutun. Die Seminare kosteten viel Geld, sie zog in eine noch kleinere Wohnung und arbeitete noch mehr. Irgendwann trug sie eben auch diese Holzkette mit dem Gesicht des Bhagwan darauf und unterschrieb ihre Briefe fortan mit dem Namen Mohani. Aber ansonsten sahen wir keine großen Veränderungen. Die Gehirnwäsche, die meine Mutter und Inga fürchteten, blieb aus. Manchmal sagte sie Dinge über Spiritualität und Karma. Doch über so etwas hatte sie auch schon vorher gesprochen. Als Rosmarie noch lebte. Christa sagte, alles sei gut, was Harriet guttue. Denn wer unheilbar sei, der sei auch unverwundbar.

Inga war damals durch reinen Zufall an dem Praxisschild von Friedrich Quast vorbeigelaufen. Sie rief ihre Schwester an. Ein paar Tage später kam Harriet mit dem Zug nach Bremen. Sie setzte sich ins volle Wartezimmer. Weil sie weder Termin noch Karte hatte, musste sie warten, bis keiner mehr da war. Sie blieb ruhig sitzen. Sie wartete auf nichts. Und erwartete nichts. Herr Dr. Quast winkte sie schließlich persönlich ins Sprechzimmer.

Er musste eine mittelalte Frau mit etwas struppigen hennaroten Haaren gesehen haben. Ein ungeschminktes, rundes, flaches Gesicht. Falten um die Augen und zwei tiefe Kerben neben der Nase. Er hat ihre Kleider gesehen, die sie gern in den Farben von Safran, Zimt, Curry und anderen Gewürzen trug. Dazu die Turnschuhe. Und er wird sie sofort eingeordnet haben, vielleicht unter: esoterisch angehauchter Alt-Hippie, frustriert, wahrscheinlich geschieden.

Ohne Neugier erkundigte er sich danach, was sie zu ihm führe.

Sie sagte, ihr Herz tue ihr weh. Tag und Nacht.

Er nickte und hob die Brauen, um sie zum Weitersprechen aufzufordern.

Harriet lächelte ihn an.

- Ich hatte eine Tochter. Sie ist tot. Haben Sie eine Tochter? Einen Sohn?

Friedrich Quast schaute sie an. Er schüttelte den Kopf. Harriet sprach ruhig weiter, aber ließ ihn nicht aus den Augen:

- Ich hatte eine Tochter. Sie hatte rote Haare wie Sie und sommersprossige Hände wie Sie.

Friedrich Quast legte seine Hände auf den Tisch. Sie hatten die ganze Zeit in den Taschen seines Kittels gesteckt.

Er sagte nichts, aber sein rechtes Augenlid begann ganz leicht zu zucken, als er Harriet unverwandt anschaute.

- Wie alt?

Er räusperte sich.

- Entschuldigung. Wie alt war Ihre Tochter?

- Fünfzehn. Bald sechzehn. Kein Kind, keine Frau. Heute wäre sie gerade einundzwanzig.

Friedrich Quast schluckte. Nickte.

Harriet lächelte wieder.

- Ich war jung und liebte einen Studenten mit roten Haaren. Er tut mir so leid, er hatte nie eine Tochter. Sie wollte auch nie wissen, wo er ist, obwohl ich sie darin unterstützt hätte, das herauszufinden. Manchmal ist so was ja gar nicht schwer. Aber wissen Sie, es bricht mir das Herz, denn er wird diese Tochter nie haben. Und es bräche auch das seine, wenn er es wüsste.

Harriet stand auf, Tränen liefen ihr über die Wangen. Friedrich Quast war weiß. Er sah sie nur an, sein Atem ging stoßweise. Harriet schien ihre Tränen gar nicht zu bemerken, sie sagte beim Gehen:

- Es tut mir leid, Herr Dr. Quast, ich weiß, Sie können mir nicht helfen. Sie mir nicht, aber wissen Sie, was? Ich Ihnen auch nicht.

Harriet ging zur Tür.

- Nein. Nicht. Nicht gehen. Wie hieß sie? Wie hieß sie!

Harriet schaute ihn an. Ihre roten Augen waren ausdruckslos. Niemals würde sie ihm Rosmaries Namen geben. Nicht ein Stück sollte er von ihr bekommen.

Sie sagte:

- Ich muss los.

Harriet machte die Tür auf und schloss sie leise hinter sich. Die Sprechstundenhilfe warf ihr einen misstrauischen Blick zu, als Harriet mit geraden Schultern und zerstreutem Nicken an ihr vorbeischritt.

Als Inga Wochen später das nächste Mal durch die Straße kam, schaute sie nach dem Praxisschild, aber es hing nicht mehr da. Ein anderer Arzt hatte sich hier niedergelassen. Inga ging hinein und fragte am Tresen nach Dr. Quast. Er praktiziere nicht mehr hier, hieß es. Nirgends mehr in dieser Stadt.

Inga blieb in Bremen. Sie hatte immer mal Liebhaber, alle sehr gutaussehend, meistens ein Stück jünger als sie, aber nichts Ernstes. Menschen hielt sie auf Armeslänge, aber Augenblicke hielt sie fest. Ihre Fotos verkauften sich gut. Für die Fotostrecke mit den Bildern ihrer Mutter hatte sie dieses Jahr den German Portrait Award 1997 bekommen. Inzwischen ließ sie die Elektrostatik für sich arbeiten. Auf Berthas Beerdigung erzählte sie mir, wie sie Filme durch Temperaturwechsel auflade und verblitzen lasse. Aus diesen Fehlern entstünden ganz neue Möglichkeiten und Ansichten.

Mittlerweile hatte ich zwei Wäschekörbe und eine Plastikwanne mit Äpfeln gefüllt. Ich brachte sie ins Haus und stellte sie in der Küche ab. Sollten sie im Keller oder auf der Diele lagern? Wo war es kühler und trockener? Ich ließ sie erst einmal auf dem Küchenboden stehen.

Ich stützte mich auf den Apfelkorb und schaute auf die schwarz-weißen viereckigen Steinchen. Vielleicht gelang es mir ja heute. Gerade als sich die ersten Zeichen abzuheben schienen, hörte ich Schritte hinter mir. Max kam in die Küche und blieb abrupt stehen, als er mich über den Boden gebückt sah.

- Geht es dir nicht gut?

Ich schaute verwirrt hoch.

- Doch, natürlich.

Ich fasste mich rasch wieder und sagte:

- Weißt du, wie man Apfelmus kocht?

- Ich habe es noch nie gemacht. Aber so schwer kann es ja nicht sein.

- Gut. Also nicht. Weißt du, wie man Äpfel schält?

- Ja, ich fürchte, das weiß ich.

- Gut. Hier ist das Messer.

- Woher kommen diese Äpfel?

- Vom Baum, unter dem wir geschlafen haben.

- Ich habe nicht geschlafen.

- Ich weiß.

- Äpfel? Aber es ist …

- … Juni. Ich weiß.

- Da du alles weißt, erklärst du mir das vielleicht auch mal?

Ich zuckte mit den Schultern.

- Der Baum der Erkenntnis wächst in eurem Garten? Das wird den Verkaufspreis deines Hauses in die Höhe treiben. Vorausgesetzt, du schlägst das Erbe nicht aus.

Über einen Verkauf hatte ich noch nicht nachgedacht. Ich schaute Max an, sein Mund war schmal.

- Was ist los?

- Nichts. Ich dachte nur daran, dass du bald wieder weggehst. Dass du das Haus verkaufen und dann nie wieder hierher zurückkommen könntest, oder wenn doch, dann erst in hundert Jahren im Rollstuhl, den deine Urenkel schieben. Und dass sie dich auf den Friedhof rollen und du einen Apfel auf mein Grab wirfst und murmelst: Wer war das noch gleich, wie sah er nochmal aus? Ah ja, ich erinnere mich, er war der Kerl, dem ich immer nackt aufgelauert habe! Und dann wird dir ein fistelndes Kichern aus deinem immer noch majestätisch erhobenen Hals entweichen. Und deine Urenkel werden einen Schreck bekommen und dich gerade in dem Moment loslassen, als sie dich den steilen Deich hinter der Schleuse hochfahren wollten. Und du rollst rückwärts und krachst ins Wasser, aber genau in dem Augenblick wird das Schleusentor geöffnet und –

- Max.

- Tut mir leid, ich rede immer so viel, wenn ich Angst habe. Also gut. Komm und küss mich.

Wir schälten Äpfel und kochten dreiundzwanzig Gläser Apfelmus. Mehr Einmachgläser konnte ich nicht finden. Wir hatten Muskelkrämpfe und Schwielen vom Drehen der Flotten Lotte. Glücklicherweise gab es zwei Flotte Lotten in diesem Haus, eine große und eine kleine, sodass wir beide an die Kurbel konnten. Das Mus schmeckten wir mit Zimt und etwas Muskat ab. Ich nahm drei Apfelkerne, schälte und zerhackte sie. Dann warf ich sie ins Mus. Der warme, süß-erdige Duft von gekochten Äpfeln füllte jeden Winkel des Hauses, und selbst die Betten und Vorhänge rochen danach. Es war ein wunderbares Apfelmus.

Die nächsten Tage verbrachte ich im Garten. Ich riss Berge von Giersch und Warzenkraut aus und vorsichtig die Stängel des Phlox und der Margeriten aus den sich um alles schlingenden Winden. Akeleien, die sich auf den Wegen ausgesät hatten, grub ich aus und setzte sie in die Beete. Ich schnitt die Zweige von Flieder und Jasmin, damit die Stachelbeerbüsche wieder Sonne bekamen. Die kleinen, zähen Sprösslinge der Wicke löste ich behutsam von unzuverlässigen Halmen und führte sie an den Zaun oder band sie an einen Stock. Die Vergissmeinnicht waren inzwischen fast vertrocknet, nur hier und dort blinzelte es noch blau herauf. Mit Daumen und Zeigefinger zog ich von unten die dünnen Stängel hinauf, um den Samen abzufädeln. Ich hob meine Hand in den Wind und ließ die kleinen grauen Körnchen fliegen.

Am Tag meiner Abreise brachte Max mich zur Haltestelle.

Als der Bus in die Straße einbog, sagte ich:

- Danke für alles.

Er versuchte ein Lächeln, aber es verrutschte.

- Vergiss es.

Ich stieg ein und setzte mich auf eine freie Bank. Als der Bus mit einem Ruck anfuhr, drückte mich das Gewicht meines eigenen Körpers auf die Lehne zurück.