Trotz des Schattens war es heiß geworden auf der Terrasse. Die Sonne stand hoch, ich ging zurück ins Haus, um ein Glas Wasser zu trinken. Ich ging in Hinnerks Arbeitszimmer, setzte mich an den Schreibtisch und zog einen Bogen Schreibmaschinenpapier aus dem linken Unterschrank, das dort in hohen Stapeln gebunkert war. Dann nahm ich einen der perfekt gespitzten Bleistifte aus der Schublade und schrieb eine Einladung an Max: Heute Abend, kurz vor Sonnenuntergang, kleiner Empfang, große Garderobe. Letzteres fügte ich noch hinzu, weil ich nicht die Einzige sein wollte, die verkleidet herumlief.
Ich steckte den Zettel in einen weißen Umschlag, schrieb Max Ohmstedt drauf, steckte ihn in meine Tasche und lief hinaus. Die Hitze klatschte mir wie eine Ohrfeige ins Gesicht. Den Brief warf ich bei Max in den Briefkasten. Es lag noch andere Post darin, also hatte er ihn heute noch nicht geleert und würde meine Nachricht sicher bekommen. Und wenn er schon etwas vorhatte? Nun, dann würde er mir eben absagen. Ich wollte schließlich kein Vier-Gänge-Menü kochen.
Ich radelte weiter zum Edeka-Laden, kaufte Rotwein und aus Sentimentalität eine Packung After Eight. An meinem weißen Ballkleid schien hier keiner Anstoß zu nehmen. Ich steckte alles in meine Tasche und kehrte zurück ins Haus, aß etwas von den Sachen im Kühlschrank und plante meinen Abendempfang.
Wo sollten wir sitzen? Vor dem Haus auf der Treppe unter dem Rosenbusch? Nicht festlich genug und von der Straße aus sichtbar. Auf der Terrasse unter der Weide? Angesichts dessen, was ich mit ihm besprechen wollte, war der ehemalige Wintergarten nicht der passende Ort. Im Wäldchen? Zu dunkel, zu viele spitze Äste. Im Hühnerhaus? Zu eng, außerdem frisch gestrichen. Auf der Obstbaumwiese? Mitten auf dem Rasen vor dem Haus? Oder vielleicht im Haus?
Ich entschied mich für die Apfelbäume hinterm Haus. Das Gras war zu hoch, aber es standen all diese Gartenmöbel herum, auf denen man etwas abstellen konnte. Und hinter den Obstbäumen begannen die großen Weiden. Ich ging in die Diele und holte Hinnerks Sense. Wieso sollte ich das nicht auch können? Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wie mein Großvater sie gehalten hatte, wenn er leicht und langsam durch die brechenden Halme geschritten war. Was so leicht ausgesehen hatte, war aber sehr anstrengend, und die Hitze machte es nicht besser. Ich schnitt tapfer einen etwas unförmigen Fleck neben dem großen Boskopbaum, auf dem Bertha und Anna einst ihr Versteck hatten. Es sah nicht so aus, als habe hier jemand einen hübschen Picknickplatz hergerichtet, sondern vielmehr, als habe ein Kampf stattgefunden. Hatte es ja auch, und die Sense hatte gewonnen. Ich hängte das stumpfe Ding wieder an seinen Platz zurück. Da halfen nur Decken. Ich ging nach oben, wühlte in den Truhen und fand einen großen Flickenteppich, mehrere grobe Wolldecken und einen braungoldenen Brokatvorhang. Als wären es erlegte Tiere, schleifte ich meine Beute die Treppe hinunter. Ich schleppte sie durch die Diele bis nach hinten auf die Wiese.
Diese Aussteuertruhen waren wundervoll. Ich ging zurück und holte ein weißes Tischtuch mit Lochstickerei heraus. Beim Hinuntergehen blieb mein Blick am Bücherregal hängen. Die Buchrücken schauten mich an. Ich blieb stehen. Es gab gar kein System, die Dinge passierten einfach, und manchmal passten sie.
Ich nahm die Tischdecke, griff mir noch ein paar dunkelgrüne Samtkissen mit goldenen Troddeln aus dem Wohnzimmer und ging damit hinaus. Das Tischtuch flatterte auf den angerosteten viereckigen Klapptisch. Ich harkte das frischgeschnittene Gras zur Seite und breitete den Teppich aus. Darüber kamen die Wolldecken und dann der Brokatvorhang darauf. Die Samtkissen warf ich dazu und war entzückt, als ich mich auf dem prächtigen Lager ausstreckte und in den Baum hinaufsah. Ich konnte aber nichts sehen, weil ich gegen das Licht schaute. Ich legte die Hand aufs Gesicht.
Als ich aufwachte, stand die Sonne schon tiefer. Benommen wühlte ich mich aus den Kissen. Ich konnte mich nicht erinnern, zu irgendeiner Zeit meines Lebens so viel geschlafen zu haben. Aber ich konnte mich auch nicht erinnern, zu irgendeiner Zeit meines Lebens so viel die Sense geschwungen zu haben. Also taumelte ich die Treppe hinauf, mittlerweile bildete ich mir ein, auch einen resignierten, aber nicht unfreundlichen Unterton in ihrem Gejammer zu hören.
Ich wusch mich von Kopf bis Fuß am Waschbecken, steckte mir die Haare hoch und schlüpfte in das nachtblaue Tüllkleid, das einst Inga gehört hatte. Die Röcke dieses Kleides bestanden aus unzähligen Bienenwaben von Nichts, begrenzt durch einen blauen Faden. Und je mehr von diesen Löchern übereinanderlagen, desto verschwommener war das, was sich darunter verbarg. Beim Spielen mit Rosmarie und Mira war es immer meins gewesen.
Ich dachte daran, wie wir Mira kennengelernt hatten. Max war damals auch schon dabei gewesen. Rosmarie und ich spielten vorne auf der Einfahrt mit einem Ball, den wir gegen die Hauswand warfen und dann klatschten, erst einmal, dann zweimal, dann dreimal und so weiter. Diejenige, die den Ball fallen ließ oder ein Klatschen vergessen hatte, hatte verloren. Wir spielten es mit Drehen und mit Zungenbrecheraufsagen und was uns noch so einfiel. Plötzlich standen dieses Mädchen mit den schwarzen Haaren und sein kleiner Bruder mitten auf der Einfahrt. Rosmarie wusste, wer das Mädchen war und wo es wohnte. Sie waren auf der gleichen Schule, aber das Mädchen war eine Klasse über Rosmarie. Der Bruder war eindeutig viel, viel jünger als ich, mindestens ein Jahr, das konnte man sofort sehen. Das Mädchen hob mit unbewegtem Gesicht kleine Steine vom Boden auf und warf sie auf Rosmarie. Ich freute mich schon auf das, was meine angriffslustige Kusine gleich tun würde. Aber zu meiner Empörung tat sie nichts. Ja, sie schien geschmeichelt zu sein und zeigte ihre Zahnlücken, die spitzen Eckzähne hatte sie noch, dafür fehlten aber alle oberen Schneidezähne. Ihr Ausdruck wurde dadurch noch wilder und auch etwas bösartig. Ich nahm einen Stein und warf ihn auf das Mädchen. Doch ich traf nur seinen kleinen Bruder, der sofort anfing zu heulen. Und da durften beide mitmachen.
Ich fragte mich, an was Max sich erinnerte. Er musste damals sechs gewesen sein, seine Schwester neun, ich sieben und Rosmarie acht Jahre alt. Jetzt waren wir zwanzig Jahre älter. Bis auf Rosmarie natürlich. Sie würde für immer bald sechzehn sein. Ich raffte meine Tüllröcke und ging hinunter, um Kristallgläser aus der Vitrine im Wohnzimmer zu holen. Gerade als ich schon wieder darüber nachdachte, was ich machen sollte, wenn er gar nicht käme, wenn er direkt nach der Arbeit mit Freunden aus- oder ins Kino gegangen war, hörte ich das Klingeln an der Haustür. Die Gläser klirrten in meinen Händen. Ich lief zur Tür und öffnete. Max stand da und hielt einen Strauß Margeriten in der Hand. Er trug ein weißes Hemd und eine schwarze Jeans und lächelte verlegen.
- Danke für die Einladung.
- Komm rein.
- Du siehst …, also du bist …
- Danke schön. Los, komm und hilf mir.
- Was ist das denn für eine Einladung? Alles muss man selber machen.
Doch er blickte ganz zufrieden drein, als er mir in die Küche folgte. Ich versorgte die Blumen und legte ihm die volle Vase in den einen, die Weinflaschen in den anderen Arm. Ich nahm den Korb vom Küchenschrank und tat Gläser, Teller, Messer, Käse, Brot, Karotten, Melone, Schokolade, After Eight und große Leinenservietten hinein. Und so zogen wir durch die Diele auf die Obstbaumwiese.
- Hey, was ist das?
Er meinte offenbar die Decken unter dem Baum.
- Ich musste das Zeug hier hinlegen, darunter befindet sich nämlich ein von mir mit der Sense gerupftes Stück Ackerland. Aber ich habe heute schon köstlich darauf geschlafen.
- Ach. Du hast also hier herumgelegen und deinen sündigen Körper darauf geräkelt.
- Für einen, der beim Anblick meines sündigen Körpers sofort panisch in ein schwarzes Gewässer rennt, bist du ziemlich keck.
- Touché. Iris, ich –
- Schweig und schenk den Wein ein.
- Jawohl, Madame.
Wir tranken erst ein paar Schlucke im Stehen und ließen uns dann unter dem Apfelbaum nieder.
- Ein bisschen frugal ist das hier schon, aber du bist ja nicht zum Essen hier.
Max warf mir einen langen Blick zu.
- Nein? Bin ich nicht?
- Hör schon auf. Ich muss mit dir reden.
- Gut. Ich höre.
- Über das Haus. Was geschieht, wenn ich mein Erbe nicht annehme?
- Darüber reden wir besser in meinem Büro.
- Aber was würde theoretisch geschehen?
- Deine Mutter und dein Vater würden es bekommen. Und du dann irgendwann einmal wieder. Möchtest du das Haus nicht? Ich fand Berthas Entscheidung, es dir zu vermachen, geradezu einen Geniestreich.
- Ich liebe das Haus, aber es ist ein schweres Erbe.
- Ich kann mir vorstellen, was du meinst.
- Weiß deine Schwester, dass ich hier bin?
- Ja. Ich habe mit ihr telefoniert.
- Was sagt sie?
- Nicht viel. Sie wollte wissen, ob wir über Rosmarie gesprochen haben.
- Nein, haben wir nicht.
- Nein.
- Möchtest du über sie reden?
- Ich habe alles nur am Rande mitbekommen, ich war jünger als ihr und dann noch ein Junge. Und du weißt ja vielleicht noch, wie es damals bei uns war. Ich meine, mit meiner Mutter. Nach Rosmaries Tod war Mira nicht mehr die Gleiche. Sie sprach mit niemandem mehr, nicht einmal mit meinen Eltern, vor allem nicht mit meinen Eltern.
- Und mit dir?
- Mit mir schon. Jedenfalls manchmal.
- Bist du deshalb hiergeblieben? Als Sprachrohr zwischen deinen Eltern und deiner Schwester?
- Quatsch.
- Ich habe ja nur gefragt.
- Stell dir vor, Iris, du hast nicht das Monopol auf die Liebe zum Moorsee und den Birkenwäldern, zur Schleuse und zu den Wolken über verregneten Kuhweiden. Ja, stell dir das mal vor.
- Du bist ja romantisch.
- Du mich auch. Jedenfalls, was ich sagen wollte. Also wegen Mira. Nach dem Tod deiner Kusine flippte sie nicht aus, nahm keine Drogen und ging auch nicht vor die Hunde. Sie saß den ganzen Tag in ihrem Zimmer und lernte für die Abschlussprüfungen. Sie machte das beste Mathematikabitur der Schule, hatte einen Null-Komma-irgendwas-Durchschnitt und studierte Jura in Rekordzeit. Sie ist promoviert.
- Worüber? Paragraph 218?
Das war mir rausgerutscht. Max’ Augen wurden schmal. Er musterte mich scharf.
- Nein. Baurecht.
Es gab eine unangenehme Pause. Max fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Dann sagte er ein bisschen zu beiläufig:
- Ich habe hier einen kurzen Artikel über sie. Mehr eine Notiz darüber, dass sie jetzt Partnerin in dieser Berliner Kanzlei ist. Er war vor ein paar Wochen in einer juristischen Zeitschrift. Willst du mal sehen?
Ich nickte.
Umständlich zog Max zwei ausgerissene und doppelt zusammengefaltete Seiten aus seiner hinteren Hosentasche. Er hatte also vorgehabt, über seine Schwester zu reden. Ob er noch weitere Pläne hatte für diesen Abend?
- Es …, also, es ist auch ein Foto drin.
- Ein Foto von Mira? Zeig her!
Ich griff nach den Seiten. Und dann sah ich das Bild.
Alles begann sich langsam zu drehen. Das Gesicht auf der Seite kam näher, und dann entfernte es sich wieder. Ich fing an zu schwitzen. In meinen Ohren hämmerte es, ein hässliches, metallenes Wummern. Jetzt bloß nicht in Ohnmacht fallen, mit dem Fallen war Schluss. Ich riss mich zusammen.
Das Gesicht auf der Seite. Miras Gesicht. Ich hatte einen mondänen Haarschnitt erwartet, schwarz und glänzend wie ein Helm, ein schickes Kostüm, wenn schon nicht schwarz, dann vielleicht grau oder von mir aus ein exzentrisches Dunkelviolett. Sexy und sophisticated und immer noch die Stummfilmdiva.
Aber was ich in den Händen hielt, war das Bild einer schönen Frau mit langem kupferrotem Haar und kupferroten Augenbrauen, die ein vanillegelbes Satinkleid trug, das fast wie Gold schimmerte. Ihre Augen sahen ohne den dicken Lidstrich ganz anders aus. Die Wimpern waren dunkel getuscht. Mit einem trägen Lächeln auf den dunkelrot geschminkten Lippen schaute sie mich an.
Ich ließ das Bild sinken und guckte Max feindselig an.
- Was … was ist das? Ist sie krank, oder hat sie nur einen kranken Sinn für Humor?
- Sie hat sich die Haare wachsen lassen und statt schwarz rot gefärbt. Das tun meines Wissens viele Leute.
Max betrachtete mich. Ein wenig kühl, schien mir. Er hatte mir den Paragraphen 218 noch nicht verziehen.
- Aber Max! Schau doch hin!
- Das mit den Haaren ist schon eine ganze Weile so. Haare wachsen ja auch nicht von heut auf morgen. Sie hat sofort aufgehört, sie schwarz zu färben, als das mit Rosmarie passierte. Dann ließ sie sie wachsen, das Rot kam erst später.
- Aber du siehst doch, dass …
- … dass sie aussieht wie Rosmarie. Ja. Ich habe es aber auch erst auf diesem Bild gesehen. Vielleicht ist es auch das goldene Kleid. Keine Ahnung, was das soll. Warum macht es dir denn so viel aus?
Ich wusste es nicht genau. Schließlich mussten wir alle irgendwie mit der Sache mit Rosmarie klarkommen. Harriet war in eine Sekte eingetreten, Mira verkleidete sich. Vielleicht war ihre Weise sogar ehrlicher als meine. Ich zuckte mit den Schultern und mied Max’ Augen. Der Wein schimmerte dunkel in den großen Gläsern. Er hatte die Farbe von Miras Lippenstift. Ich mochte ihn nicht mehr trinken. Er machte mich dumm. Und vergesslich.
Miras und Max’ Mutter, Frau Ohmstedt, war eine Trinkerin gewesen. Wenn ihre Kinder aus der Schule kamen und klingelten, dann konnten sie anhand der Zeit, die es dauerte, bis sie ihnen die Tür aufmachte, ungefähr ausrechnen, wie betrunken sie war. »Je länger, desto breiter«, erklärte uns Mira mit ausdrucksloser Stimme. Mira verbrachte so wenig Zeit wie möglich zu Hause. Sie trug ihre schwarzen Sachen, die ihre Eltern schrecklich fanden, zog am Tag ihres mündlichen Abiturs zu einer Freundin und bald darauf nach Berlin. Bei Max lag die Sache anders. Weil Mira so schwierig war, musste er lieb sein. Er räumte die leeren Flaschen weg, deckte seine Mutter zu, wenn sie es vom Sofa nicht mehr ins Bett schaffte.
Herr Ohmstedt war selten zu Hause, er baute Brücken und Staudämme und war meistens in der Türkei, in Griechenland oder in Spanien. Früher war Frau Ohmstedt mit ihm dort gewesen, sie hatten über drei Jahre in Istanbul gewohnt. Frau Ohmstedt hatte es geliebt dort: die türkischen Basare, die Feste und Veranstaltungen der Botschaft, die anderen deutschen Frauen, das Klima, das schöne große Haus. Als sie mit Max schwanger war, beschlossen sie, wieder zurückzugehen. Schließlich hatten sie ja nicht vorgehabt, auszuwandern, außerdem sollten die Kinder in Deutschland aufwachsen. Aber was sie nicht gewusst hatten, war, dass es viel einfacher war, wegzugehen als zurückzukommen.
Herr Ohmstedt hatte seine Arbeit und musste weiterhin reisen, aber Heide Ohmstedt saß nun hier, in Bootshaven. Der Kinder wegen waren sie nicht in die Stadt gezogen. Sie vermisste das dichte Netz der Deutschen im Ausland. Hier jedoch waren alle in ihren Häusern, keiner war neugierig auf sie. Ihre Gleichgültigkeit nannten sie hier Diskretion und waren stolz darauf. Ihre Unhöflichkeit nannten sie Direktheit, Geradlinigkeit oder Ehrlichkeit und waren ebenfalls stolz darauf. Frau Ohmstedt galt als exaltiert, anstrengend, überkandidelt und oberflächlich. Sie sagte solche Dinge wie »ich pfeife auf die Leute hier, auf ihre ach so weichen Kerne in den rauen Schalen«. Das sei doch nur ein Vorwand, um ungestört unverschämt zu sein, fand sie. Frau Ohmstedt wurde bald sehr einsam. Sie pfiff drauf. Besonders gut drauf pfeifen konnte sie, wenn sie etwas getrunken hatte, dann pfiff sie so dreckig und froh wie ein Spatz.
Herr Ohmstedt war verzweifelt. Und hilflos. Und vor allen Dingen war er nicht da.
An dem Tag, als Max aus der Schule kam und sie bei minus sieben Grad im Schlafanzug auf der Terrasse liegend fand, wurde sie mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren. Sie war nicht erfroren. Sie ließ sich aber in eine Klinik einweisen und machte eine vierwöchige Entziehungskur. Max war damals sechzehn, Mira wohnte schon in Berlin. Die Mauer gab es damals noch, und Berlin bedeutete weitweitweg.
Frau Ohmstedt schaffte es. Sie fing an, viel für die Kirche zu arbeiten, nicht weil sie plötzlich Jesus gefunden hatte, sondern weil das Gemeindenetzwerk sie an den engen Zusammenhalt der Deutschen in Istanbul erinnerte. Es gab Veranstaltungen, Ausflüge, Vorträge zu organisieren und zu besuchen, Frauenkreise, Seniorenfeiern, Wanderungen. Sie versuchte, nicht so viel allein in ihrem Haus zu sein.
Jetzt wohnte Max allein in diesem Haus und ging auf den Friedhof, um zu saufen. Und eine Frau hatte er auch nicht mehr. Eigentlich müsste er kaputter aussehen, dachte ich und suchte sein Gesicht nach Spuren ab. Max beobachtete mich dabei und kniff die Augen zusammen.
- Und? fragte er. Was gefunden?
Ich schämte mich.
- Wieso? Was meinst du?
- Na, ich sehe doch, dass du gerade darauf lauerst, Indizien zu finden, um mich als Co-Abhängigen zu überführen.
Jetzt wurde ich sehr rot. Das konnte ich fühlen.
- Also, ich würde es an deiner Stelle tun.
Er zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck. Ich fragte vorsichtig:
- Warum solltest du denn trinken wollen?
- Was willst du denn hören? Soll ich sagen: »um zu vergessen«, hm?
Ich biss mir auf die Innenseite der Backentaschen und schaute weg. Ich wollte plötzlich, dass er nach Hause ging. Ich wollte morgen früh das Erbe ausschlagen und auch nach Hause gehen. Ich wollte das hier jetzt nicht. Ich wollte auch nicht mehr reden. Er sollte weg.
Max fuhr sich wieder mit der Hand über das Gesicht.
- Es tut mir leid, Iris. Du hast recht, ich bin bescheuert. Ich wollte dir nicht wehtun, dir am allerwenigsten. Es ist nur, ich hatte mich hier gut eingerichtet. In meinem Leben, meine ich. Mir fehlte nichts. Es war nicht aufregend, aber ich will es auch nicht aufregend. Ich wollte es nicht. Ich wollte es unaufgeregt. Ohne Überraschungen. Ich kriege das alles gut hin, ich tu keinem weh, keiner tut mir weh. Ich bin für niemanden verantwortlich, niemand für mich. Ich breche keinem das Herz und keiner mir. Und dann kommst du wieder hierher, nach weiß ich wie vielen Jahren. Du tauchst überall auf – und ich meine das mit dem Tauchen wörtlich –, und ich bekomme jedes Mal einen Riesenschrecken. Und wahrhaftig, ich beginne, mich auch noch darüber zu freuen! Und das, wo ich doch weiß, dass du in zwei Tagen wieder weg bist, vielleicht für immer. Und jetzt kann ich nicht mehr schlafen, nicht mal mehr zum Schwimmen kann ich fahren, ohne wegen akuter Herzrhythmusstörungen vom Fahrrad zu fallen. Verdammt: Ich male nachts Hühnerställe an! Da frage ich dich doch: Kann es noch schlimmer kommen?
Ich musste lachen, aber Max schüttelte den Kopf:
- Nein. Neineineineinein. Spar dir das. Was willst du eigentlich?
Die Sonne war fast weg. Von dort, wo wir saßen, konnten wir die Linden vorne auf der Einfahrt sehen. Das letzte grüngoldene Licht zitterte in ihren Blättern.
Als Mira damals in der Einfahrt stand und dabei zusah, wie Inga dabei zusah, wie Rosmarie Peter Klaasen auf den Mund küsste, verschüttete sie die ganze Limonade. Sie stellte die beiden Gläser, ihres und das für Rosmarie, neben sich ins Gras und biss sich mit den Zähnen ihres kleinen roten Mundes in den Rücken der rechten Hand, bis er blutete. Rosmaries Augen glänzten silbrig, als sie mir das erzählte.
Mira ging am Tag nach dem Kuss zur Tankstelle und wartete so lange, bis Peter Klaasen freihatte. Er hatte sie längst gesehen und wollte nicht mit ihr reden. Er quälte sich mit Vorwürfen und traute sich nicht, mit Inga zu sprechen, aus Angst, sie könnte ihm endgültig verlorengehen. Rosmarie hatte ihn einfach überrumpelt. Er wollte nichts von ihr, er wollte Inga.
Mira lehnte an seinem Wagen, als er einsteigen und nach Hause fahren wollte. Sie sagte, er solle sie ein Stück mitnehmen, sie wisse etwas, das ihn interessieren könne, es habe mit Inga zu tun. Was konnte er anderes tun, als ihr die Beifahrertür zu öffnen? Wir fahren zu dir, hatte Mira bestimmt, er nickte. Dort ließ er sie in sein Zimmer. Mira setzte sich auf sein Sofa und sagte ihm, was er schon wusste: Inga habe gesehen, wie er Rosmarie geküsst habe, und wolle, dass er nie wieder ins Haus komme, weder für Nachhilfestunden noch für sonst irgendwelche Treffen. Inga habe weiter gesagt, es gebe kaum einen Menschen, den sie tiefer verachte, als den Verführer seiner minderjährigen Nachhilfeschülerin. Peter brach zusammen. Er lehnte seinen Kopf auf den Tisch und weinte. Mira sagte nichts. Sie schaute ihn an mit diesen Augen, die aussahen, als lägen sie verkehrt herum im Kopf, und dachte an Rosmarie. Dachte daran, dass Rosmarie diesen Mann geküsst hatte. Also öffnete sie ihr schwarzes Kleid. Peter Klaasen schaute sie an, ohne sie zu sehen. Mira trug einen schwarzen BH, ihre Haut war sehr weiß. Sie öffnete sein Hemd, doch er merkte es kaum. Als Mira ihm die Hand auf die Schulter legte, dachte er an Inga und daran, dass dieses seltsame schwarz-weiße Mädchen vor ihm das Letzte war, das Inga mit ihm verband. Mira blickte auf seinen Mund, den Rosmaries Mund berührt hatte. Viel zu spät merkte Peter Klaasen, dass Mira noch Jungfrau war, aber vielleicht wollte er es auch nicht früher merken. Er fuhr sie nach Hause, sie war blass und sagte kein Wort. Als Peter Klaasen zurück in sein Zimmer kam, fiel sein Blick auf den Brief mit dem Stellenangebot in der Nähe von Wuppertal. Als es eintraf, hatte er es nicht einmal in Erwägung gezogen. Doch jetzt war nichts mehr so wie vorher. Noch in derselben Nacht schrieb er zurück und sagte zu. Eine Woche später zog er nach Wuppertal. Mit Inga sprach er nie mehr ein Wort.
Mira wurde schwanger. Vom ersten Mal. Dabei hasste sie Peter Klaasen. Und er war sowieso schon lange fort. Sie erzählte es Rosmarie, als sie in der Küche saßen und Apfelsaft tranken. Es war alles so wie immer, der Apfelsaft, die rote Wachstuchdecke, und zugleich war nichts mehr wie vorher.
Rosmarie sagte:
- Du hast es wegen mir getan, stimmt’s?
Mira schaute sie nur an. Rosmarie sagte zu Mira:
- Lass es wegmachen.
Mira blieb stumm und schüttelte den Kopf.
- Lass es wegmachen, Mira, sagte Rosmarie. Du musst.
Mira schüttelte den Kopf. Sie schaute Rosmarie an. Das Weiße zwischen dem unteren Lid und der braunen Iris war zu sehen.
- Mira. Du musst. Du musst!
Und Rosmarie lehnte sich über den Küchentisch und küsste Mira hart auf den Mund. Der Kuss dauerte lang. Beide keuchten, als Rosmarie sich wieder hinsetzte. Mira sagte immer noch nichts, ihr Gesicht war jetzt sehr weiß, und sie hatte aufgehört, den Kopf zu schütteln. Sie starrte Rosmarie an. Rosmarie schaute zurück, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber dann legte sie den Kopf in den Nacken und lachte.
Rosmarie lachte auch, als sie es mir an jenem Abend erzählte. Es war August, das Ende meiner Sommerferien nah. Obwohl es schon nach zehn Uhr war, war es noch nicht ganz dunkel, als sie nach oben kam. Wir saßen auf der breiten Fensterbank unseres Zimmers, das einst das Mädchenzimmer ihrer Mutter gewesen war. Harriets Arbeitszimmer lag nebenan. Als Schlafzimmer nahm sie inzwischen das zweite Esszimmer, gleich neben der Eingangstür. So konnte sie besser hören, ob Bertha unten herumlief.
Ich fragte Rosmarie:
- Wann habt ihr darüber gesprochen? Gerade eben?
- Nein, schon vor ein paar Tagen.
- Und gerade eben? Warst du da bei Mira?
Rosmarie nickte kurz und wandte sich ab.
Ich fror, und mir fiel auch nichts ein, was ich noch hätte sagen sollen. Mein Gehirn war völlig leer. Vielleicht hoffte ich auch, dass Rosmarie gelogen hatte, um sich für den Streit heute im Garten zu rächen, als wir zu dritt »Friss oder stirb« gespielt hatten. Schließlich trug ich ihr auch noch die Ohrfeige nach. Doch im Grunde wusste ich, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Am liebsten wäre ich zu meiner Mutter gelaufen und hätte ihr alles erzählt, aber das ging nicht. Jetzt nicht mehr. Kurz darauf gingen wir noch einmal hinunter, um gute Nacht zu sagen. Inga war auch da. Die drei Schwestern und ihre Mutter saßen im Wohnzimmer. Inga und Rosmarie sprachen nicht mehr viel miteinander seit der Sache mit Peter Klaasen. In dieser Nacht jedoch stand Inga auf und stellte sich vor ihre Nichte. Sie waren inzwischen beide gleich groß. Inga hob beide Arme und strich mit einer fließenden Bewegung ihre Hände von Rosmaries Scheitel über ihre offenen Haare, seitlich die Arme entlang. Durch den ganzen Raum hörten wir das elektrische Knistern. Rosmarie bewegte sich nicht. Inga lächelte.
- So. Und nun schlaf gut, Kind.
Schweigend gingen wir hinauf. In dieser Nacht erzählten wir uns keine Geschichten über Rosmaries Vater. Ich drehte Rosmarie den Rücken zu und versuchte einzuschlafen, indem ich mir vornahm, am nächsten Tag doch noch alles meiner Mutter zu erzählen. Schlaf kam nur langsam, aber schließlich kam er.
Ich träumte, dass Rosmarie hinter mir stehe und auf mich einflüstere, und irgendwann wachte ich auf. Rosmarie kniete hinter mir auf dem Bett und flüsterte auf mich ein:
- Iris, bist du wach? Iris. Wach auf. Bist du wach, Iris? Iris. Komm schon. Wach endlich auf. Los. Iris. Bitte.
Ich dachte nicht daran, schon wieder wach zu sein. Rosmarie hatte sie wohl nicht mehr alle. Erst schlug sie mich im Garten, dann machte sie all diese Dinge mit Peter Klaasen und mit Mira. Und Mira machte sie mit Peter Klaasen. Und ich wollte das alles nicht wissen. Sie sollten mich in Ruhe lassen.
Rosmaries Wispern wurde noch drängender, fast flehentlich. Sollte sie mich ruhig bitten. Ich genoss es, einmal die Stärkere zu sein, obwohl ich nichts tat, außer so zu tun, als schliefe ich. Und fast musste ich nicht einmal so tun, als ob. Sollte sie doch zu Mira gehen. Oder zu dem grauhaarigen Mathematikgenie mit der Blumenvase. Ich stand jedenfalls nicht zur Verfügung.
Obwohl ich mit dem Rücken zu ihr lag, konnte ich Rosmaries Anspannung spüren. Mein Körper fühlte sich an, als hätte er Stacheln, die von innen durch die Haut wüchsen. Lange konnte ich nicht mehr so regungslos liegen bleiben. Ich spürte, wie Rosmarie kurz davor war, mich zu rütteln. Gleich würde ihre Hand meine Schulter packen. Dann würde ich gewiss auf der Stelle schreien müssen. Rosmaries Zögern war kaum auszuhalten. Jetzt spürte ich ihren Atem auf meinen geschlossenen Lidern, sie beugte sich über mich. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen, um nicht die Augen aufzumachen und ihr zuzuzwinkern. Ich fühlte, wie ein Kichern in mir hochstieg. Als es meinen Hals erreicht hatte, wollte ich gerade den Mund öffnen und es herausspringen lassen, da merkte ich an den Bewegungen der Matratze, dass sie sich von mir abgewandt hatte und aus dem Bett stieg. Ich hörte sie im Zimmer herumtapsen. Der lange Reißverschluss eines Kleides – es war, wie ich später feststellte, das violette mit den durchsichtigen Ärmeln – jaulte auf, als Rosmarie ihn mit einem entschlossenen Ruck hochzog. Sie wollte also noch weg? Sollte sie doch zu Mira gehen. Vielleicht wollten sie sich ja treffen, um kleine schwarze Mützchen und kleine schwarze Jäckchen zu stricken. Für Babys mit eisgrauem Haar.
Ich hörte, wie Rosmarie die Treppe hinunterschlich. Ich war mir sicher, das ganze Haus würde bei diesem Lärm zusammenlaufen und Rosmarie unten erwarten, noch bevor sie die letzte Stufe erreicht hätte. Doch nichts geschah. Ich hörte noch das Geräusch der Küchentür, demnach ging sie an der Seite hinaus. Das war klug, denn die Messingglocke hätte sicher Tante Harriet geweckt. Dann Stille.
Ich musste wieder eingeschlafen sein, denn irgendwann schreckte ich auf, als sich mir eine Hand sanft, aber nachdrücklich auf die Schulter legte. Ich dachte erst, Rosmarie sei zurückgekommen, aber es war meine Großmutter, die an meinem Bett stand. Rosmarie war nicht da. Ich blinzelte Bertha verschlafen an. Normalerweise kam sie auf ihren nächtlichen Wanderungen nicht in die oberen Zimmer. Meine Mutter schlief unten bei ihr und hätte eigentlich etwas merken müssen.
- Kommen Sie, flüsterte Bertha.
Ihre weißen Haare hingen offen herab. Das Gebiss hatte sie nicht eingesetzt, sodass ihr Mund aussah, als habe er sich selbst verschluckt. Ich musste mir Mühe geben, freundlich mit ihr zu sprechen.
- Oma, ich bring dich wieder ins Bett, ja?
- Wer sind Sie denn, mein kleines Fräulein?
- Ich bin es, Iris. Deine Enkelin.
- Stimmt das auch? Ich muss haschen.
- Halt, warte. Ich komme mit.
Ich stolperte hinter Bertha die Treppe hinab, sie war schnell.
- Nein, Oma. Nicht rausgehen. Ins Bett!
Aber sie hatte schon den Schlüssel vom Haken genommen, ins Schloss gesteckt, umgedreht und die Klinke heruntergedrückt. Die Messingglocke hallte wie ein Schuss durchs Haus. Meine Mutter schlief. Inga musste noch oben sein.
Bertha trat hinaus. Hier draußen war es wärmer als in dem alten Haus. Und heller. Der Mond leuchtete vor einem dunkelblauen Himmel. Er war groß und fast voll und schnitt scharfe Schatten ins Gras. Bertha lief die Stufen hinunter und blieb mit einem Ruck stehen, als sei sie gegen eine unsichtbare Mauer gerannt. Sie blickte auf etwas, das vor ihr in der Luft, aber nicht über ihrem Kopf zu sein schien. Ich wurde aufmerksam. Eigentlich wanderte ihr Blick immer ruhelos umher, als suche er etwas zum Festhalten. Aber jetzt sah sie etwas. Und dann sah ich es auch. Hoch in der Weide saß eine dunkle Gestalt. Erst nach längerem Hinsehen konnte ich Mira und Rosmarie ausmachen. Sie hockten so dicht nebeneinander, dass man ihre Umrisse nicht getrennt wahrnehmen konnte. Dann löste sich die eine Gestalt, es war Rosmarie, und ließ sich langsam vom Ast der Weide auf das flache, aber leicht abfallende Dach des Wintergartens gleiten. Das durften wir nicht. Der Wintergarten war alt. Das Dach war nicht dicht, jede zweite Scheibe war gesprungen oder hatte sich zum Teil aus ihrem Stahlrahmen herausgeschoben. Rosmarie balancierte oben auf den Metallrahmen entlang. Die Ärmel ihres Kleides bauschten sich im Nachtwind. Ihre Arme schimmerten weiß. Ich konnte nicht rufen. Mund und Zunge fühlten sich an, als hätten sich dicke graue Spinnweben über sie gelegt. Bertha neben mir begann zu zittern.
Mira begann zu schreien. Ich brauchte mehrere Sekunden, bis ich begriff, dass diese Schreie wirklich von einem menschlichen Wesen stammten. Für einen Moment war ich abgelenkt. Als ich Rosmarie wieder im Blick hatte, sah sie mir voll ins Gesicht. Ich erschrak. Ihre Augen waren fast weiß im Mondlicht. Sie schien ihr Raubtierlächeln zu lächeln, aber vielleicht hatte sich auch nur ihre Oberlippe über den Schneidezähnen hochgeschoben. Plötzlich warf sie den Kopf in den Nacken, nahm den Fuß vom Metallrahmen und setzte ihn auf das Glas. Erst passierte gar nichts, dann knirschte es. Mira verstummte. Streckte die Hand aus. Rosmarie ergriff sie.
Und dann geschah es: Mira zuckte zurück. Rosmarie hatte ihr einen elektrischen Schlag verpasst. Sie verlor die Hand ihrer Freundin. Krachen und Knirschen. Ein dumpfer Aufprall und ein nicht enden wollendes schrilles Klirren: eine Glasscheibe nach der anderen löste sich aus der Verankerung und fiel zu Boden. Glas spritzte auf Stein. Glas spritzte. Glas. Die monddurchflutete Nachtluft funkelte von Splitterstaub und Scherben. Ich schrie und rannte hinein, um meine Mutter und Harriet zu holen. Als ich in den Flur lief, kamen mir alle drei Schwestern schon entgegen. Inga war nicht im Schlafanzug. Wir rannten zusammen in den Garten. Mira war von der Weide geklettert und kniete neben Rosmarie und schrie.
Rosmarie lag mit dem Rücken auf den hellen Steinen. Der Nachtwind spielte mit den Ärmeln ihres Kleides. Glasscherben lagen wie Kristalle um sie herum. Ein kleiner Blutfaden rann ihr aus der Nase.
Harriet warf sich auf ihre Tochter und versuchte Mund-zu-Mund-Beatmung. Meine Mutter und Tante Inga rannten ins Haus und riefen den Krankenwagen. Er kam und nahm Rosmarie, Mira und Harriet mit.
Als sie fort waren, blieb eine dunkle Blutlache zurück.
Es stellte sich heraus, dass Rosmarie an einer Gehirnverletzung gestorben war. Sie hatte kaum Blut verloren.
Die Blutlache war von Mira.
So erfuhren wir von dem Schwangerschaftsabbruch, den Mira am Tag zuvor hatte vornehmen lassen.
Bertha war verschwunden. Wir mussten sie suchen. Christa, Inga und ich waren froh, dass wir etwas zu tun hatten. Gemeinsam streiften wir durch den Garten. Sie stand bei den Johannisbeerbüschen.
- Anna, stuck mich mal.
Sie lächelte mich unsicher an.
- Du bist nicht Anna.
Ich schüttelte den Kopf.
- Wo ist Anna? Sag mal. Ich fips nicht, was diese Bälle klecken.
Sie zeigte auf die Beeren.
- Wohin sollen wir das milzen? Ich meine, davon wird es auch nicht besser. Oder? Sag doch mal. Das bafft ein Sprang. Wenn wir wollen. Ich armes Kind. Ich armes Kind.
Bertha wurde noch unruhiger. Sie bückte sich immer wieder, um heruntergefallene Beeren vom Boden aufzuheben.
- Und da wird immer noch getanzt und getanzt. Hier ist nur Grotsch. Man kann doch auch nicht. So wie es mal war. Die Post ist da. Tralala. Und jetzt ist alles.
Sie weinte.
Außerdem hatte sie sich in die Schlafanzughose gemacht. Ich hätte so gerne auch geweint. Aber es ging nicht. Ich nahm Bertha bei der Hand, aber da wurde sie böse und riss sich los. Ich drehte mich um und ging weg. Christa und Inga sollten das hier machen. Ich konnte es nicht. Bertha kam hinter mir her. Als sie Christa und Inga sah, winkte sie und fiel ihnen um den Hals.
- Da sind meine Mütter! Das ist ja eine Freude. Die Gnädigen.
Inga und Christa hakten Bertha unter, ich ging langsam hinter ihnen her. Wer hier eigentlich wen stützte, war nicht zu erkennen.
Seit jener Nacht weigerte ich mich in jeder darauf folgenden Nacht, mir folgende Fragen zu stellen:
Was wollte mir Rosmarie sagen? Warum wollte sie mich wecken? Wollte sie mit mir sprechen? Wollte sie, dass ich mit Mira spreche? Wollte sie, dass ich sie begleite? Und wenn ja, wo hatte sie ursprünglich hingewollt? Vielleicht an die Schleuse oder zum See, um zu schwimmen? Vielleicht einfach nur auf den Apfelbaum hinterm Haus? Vielleicht sogar zu Tante Harriet? Hatte sie mich und Bertha dort in der Dunkelheit stehen sehen? Warum hatte ich nicht gerufen? Warum sie mich nicht? Wusste sie von Miras Abtreibung? Wenn nein, hatte Mira es ihr dann am Abend erzählt, und Rosmarie war deshalb gesprungen? Ein Leben für ein Leben? Wenn ja, wollte sie mir das vielleicht erzählen? Wenn ja, war sie erleichtert? Wenn ja, hatte sie dann Angst bekommen? Und warum war sie da hinaufgeklettert? War sie gesprungen? War sie gefallen? War es eine Laune gewesen? Hatte sie es geplant? Hatte Mira sie aus Versehen losgelassen? Mit Absicht? Hatte sie Mira gezwungen, sie loszulassen? Was sollte das elektrisierende Gute-Nacht-Sagen? Wollte sich Tante Inga rächen? Wollte sich Rosmarie von mir verabschieden? Wollte sie mir noch ein Geheimnis verraten? Wollte sie sich versöhnen? Wollte sie um Verzeihung bitten? Wollte sie, dass ich sie um Verzeihung bitte? Was wäre gewesen, wenn ich gezwinkert hätte? Was wäre gewesen, wenn ich nicht die Beleidigte gespielt hätte? Was wäre gewesen, wenn ich hinter ihr hergeschlichen wäre? Was wäre gewesen, wenn ich sie draußen gerufen hätte? Was wollte mir Rosmarie in dieser Nacht sagen? Warum hatte sie versucht, mich zu wecken? Wollte sie von Anfang an rausgehen, oder wollte sie nur hinaus, weil ich nicht aufwachen wollte? Was wollte mir Rosmarie sagen, was, was? Was wollte Rosmarie mir sagen? Warum habe ich mich schlafend gestellt? Was wäre gewesen, wenn ich gekichert hätte? Was wäre gewesen, wenn ich gezwinkert hätte? Was wäre gewesen, wenn ich gehört hätte, was sie mir hatte sagen wollen? Was wollte sie mir sagen? Was?