X. Kapitel

Ich fuhr zurück zum Haus. Langsam musste ich mir darüber klar werden, was mit meinem Erbe geschehen sollte. Vielleicht hätte ich Herrn Lexow besser zuhören sollen, statt dort in seinem Garten vor mich hin zu dösen, aber wer sagte, dass seine Geschichte wahrer war als meine Tagträumerei? Tante Inga war schließlich immer schon eine geheimnisvolle Frau gewesen. Legenden passten zu ihr.

Wie wahr waren Geschichten, die einem erzählt wurden, und wie wahr die, die ich mir selbst aus Erinnerungen, Vermutungen, Phantasien und heimlich Erlauschtem zusammenreimte? Manchmal wurden erfundene Geschichten im Nachhinein wahr, und manche Geschichten erfanden Wahrheit.

Die Wahrheit war eng verwandt mit dem Vergessen, das wusste ich, denn Wörterbücher, Enzyklopädien, Kataloge und andere Nachschlagewerke las ich ja noch. Im griechischen Wort für Wahrheit, aletheia, floss versteckt der Unterwelt-Strom Lethe. Wer das Wasser dieses Flusses trank, legte seine Erinnerungen ab wie zuvor seine sterbliche Hülle und bereitete sich so auf sein Leben im Schattenreich vor. Damit war die Wahrheit das Unvergessene. Aber war es sinnvoll, die Wahrheit ausgerechnet dort zu suchen, wo das Vergessen nicht war? Versteckte sich die Wahrheit nicht mit Vorliebe gerade in den Ritzen und Löchern des Gedächtnisses? Mit Wörtern kam ich auch nicht weiter.

Bertha kannte alle Pflanzen mit Namen. Wenn ich an meine Großmutter dachte, dann sah ich sie im Garten, eine hohe Gestalt, mit staksigen Beinen und breiten Hüften. Ihre schmalen Füße steckten meistens in erstaunlich schicken Schuhen. Nicht weil sie übermäßig eitel war, sondern weil sie vom Dorf, aus der Stadt, von einer Nachbarin zurückkommend nicht ins Haus, sondern immer erst in den Garten ging. Sie trug Schürzen, die man hinten zubinden musste, selten solche, die man vorne knöpfte. Sie hatte einen breiten Mund mit schmalen, ein wenig geschwungenen Lippen. Ihre lange, spitze Nase war etwas gerötet, und die leicht hervorstehenden Augen waren oft nass von Tränen. Sie hatte blaue Augen. Vergissmeinnichtblau.

Ein bisschen vorgebeugt lief Bertha durch die Beete, den Blick auf die Pflanzen gerichtet, mal bückte sie sich, um Unkraut zu zupfen, aber meistens trug sie die Gartenhacke wie einen Hirtenstab bei sich. Am Ende des Stiels war eine Art Steigbügel aus Eisen befestigt. Den schlug sie in die Erde und schüttelte den Stab kräftig mit beiden Armen. Es sah aus, als würde nicht sie den Stab, sondern der Stab sie durchrütteln. Als wäre sie aus Versehen in einen Stromkreis geraten. Doch zuckten hier nur metallblaue Libellen durch die flirrende Luft.

Mitten im Garten war es am heißesten, nichts warf Schatten. Bertha schien dies kaum zu merken. Nur manchmal hielt sie inne und streifte sich mit einer unbewussten, anmutigen Handbewegung die feuchten Haare vom Nacken hinauf zurück in ihren Haarknoten.

Je kürzer ihr Gedächtnis wurde, desto kürzer schnitt man ihr die Haare. Berthas Hände jedoch behielten bis zu ihrem Tod die Bewegungen einer Frau mit langem Haar.

Irgendwann begann meine Großmutter mit ihren nächtlichen Wanderungen durch den Garten. Das war, als sie anfing, die Zeit zu vergessen. Die Uhr konnte sie noch lange lesen, aber die Zeit sagte ihr nichts mehr. Im Sommer zog sie drei Unterhemden übereinander und noch wollene Socken an und wurde dann ganz wild, weil sie so schwitzte. Damals zog sie sich die Socken noch über die Füße. Ungefähr zur gleichen Zeit verlor sie das Gefühl für Tag und Nacht. Sie stand nachts auf und wanderte umher. Früher, als Hinnerk noch lebte, war sie auch schon um diese Zeit durch das Haus gewandert. Sie tat es damals, weil sie nicht schlafen konnte. Später jedoch lief sie draußen herum, weil ihr gar nicht eingefallen wäre, dass sie hätte schlafen sollen. Harriet merkte es meistens, aber nicht immer, wenn Bertha nachts losging. Doch sobald sie es entdeckte, stand sie stöhnend auf, warf sich ihren Bademantel über, schlüpfte in ihre Clogs, die schon neben ihrem Bett bereitstanden, und ging hinaus. In diesen Nächten dachte Harriet, dass sie das nicht mehr lange machen konnte. Sie hatte einen Beruf. Sie hatte ein halbwüchsiges Kind. An den offenen Türen konnte Harriet erkennen, welchen Weg Bertha genommen hatte, meistens hinten hinaus, durch das Scheunentor auf die Einfahrt und in den Garten. Mal entdeckte sie ihre Mutter, wie sie die Beete goss – meistens mit der alten Blechtasse, in der sie früher den Samen der vertrockneten Ringelblumen aufbewahrt hatte. Mal kniete Bertha zwischen den Beeten und zupfte Unkraut aus, aber am liebsten pflückte sie Blumen. Sie pflückte nicht den Stängel mit der Blüte ab, sondern nur die Blüte. Bei den großen Dolden riss sie die Blütenblätter ab, die sie in der Faust hielt, bis sie nicht mehr zuging. Wenn Harriet zu ihrer Mutter trat, streckte diese ihr die Hand mit den zerquetschten Blüten und Blütenblättern entgegen und fragte, wo sie das hintun könne. In vier kalten Vorfrühlingsnächten schaffte es Bertha, die Blüten eines ganzen blauweißen Stiefmütterchenbeetes abzureißen. Das Innere ihrer großen Hände war noch wochenlang violett verfärbt. Als junges Mädchen hatte sie mit ihrer Schwester Anna die verwelkten Blüten der Rosen abgeknipst, damit sie keine Hagebutten bekamen und nochmal blühten. Bertha wusste nun nicht mehr, wie alt sie war. Sie war so alt, wie sie sich fühlte, und das konnte acht sein, wenn sie Harriet Anna nannte oder vielleicht dreißig, wenn sie von ihrem toten Ehemann sprach und uns fragte, ob er schon aus dem Büro gekommen war. Wer die Zeit vergaß, hörte auf zu altern. Das Vergessen schlug die Zeit, die Feindin des Gedächtnisses. Denn schließlich heilte die Zeit alle Wunden nur, indem sie sich mit dem Vergessen verbündete.

Ich stand am Gartenzaun und tastete nach meiner Stirn. Ich musste an andere Wunden denken. Jahrelang hatte ich mich geweigert, das zu tun. Die Wunden kamen frei Haus, die hatte ich mitgeerbt. Und ich musste sie mir wenigstens einmal ansehen, bevor ich wieder das Pflaster der Zeit draufkleben durfte.

Ein langer Streifen Leukoplast hielt hinterm Rücken die Hände zusammen, wenn man das Spiel spielte, das sich Rosmarie ausgedacht hatte und das wir »Friss oder stirb« nannten. Es wurde im Garten gespielt und zwar im hinteren Teil, der vom Haus aus nicht einzusehen war, zwischen den weißen Johannisbeerbüschen und dem Brombeerdickicht am Ende des Grundstücks. Dort stand auch der große Komposthaufen, eigentlich waren es zwei, einer voller Erde, der andere mit Schalen, vergilbten Kohlblättern und braunem, abgemähtem Gras. Die haarigen Blätter und fleischigen Stiele von Kürbis, Gurke und Zucchini schlängelten sich über den Boden. Bertha hatte Zucchini im Garten, weil sie gern neue Pflanzen ausprobierte, und sie war begeistert von der Geschwindigkeit, mit der die Zucchini wuchsen. Nur was sie mit den gewaltigen Früchten anfangen sollte, war ihr nicht klar. Beim Kochen zerfielen sie sofort, und roh schmeckten sie überhaupt nicht. Also wuchsen sie und wuchsen und wuchsen, bis es im Sommer dort hinten aussah wie das verlassene Schlachtfeld aus einer früheren Zeit, in der gewaltige Baumriesen miteinander gekämpft und dann ihre fetten grünen Keulen liegen gelassen hatten.

Hier wucherten Minze und Melisse, und wenn wir sie mit den nackten Beinen streiften, verströmten sie ihren frischen Duft, als versuchten sie, die fauligen Gerüche dieses Stücks Garten zu vertuschen. Kamille wuchs hier, aber auch Brennnesseln, Giersch, Disteln und Warzenkraut, das uns mit seinem dicken gelben Blut die Kleider ruinierte, wenn wir uns draufsetzten.

Eine von uns dreien wurde gefesselt und bekam ein Tuch um die Augen gebunden. Wir nahmen meistens den weißen Seidenschal von Hinnerk, der am einen Ende ein kleines Brandloch hatte und deshalb in den großen Bodenschrank verbannt worden war. Es ging immer reihum. Meistens fing ich an, weil ich die Jüngste war. Ich kniete also blind auf der Erde. Meine Hände waren locker zusammengeklebt, ich sah nichts, doch der scharfe Geruch des Gierschs, den ich unter mir zerdrückte, mischte sich mit den feuchtwarmen Ausdünstungen des Komposthaufens. In den frühen Nachmittagsstunden war es still im Garten. Fliegen surrten. Nicht die schwarzen Schläfrigen aus der Küche, sondern die blauen und grünen, die immer auf den Augäpfeln der Kühe saßen und sich dort vollsoffen. Ich hörte Rosmarie und Mira flüstern, sie hatten sich ein ganzes Stück von mir entfernt. Das Rascheln ihrer langen Kleider kam näher. Sie blieben vor mir stehen, und eines der beiden Mädchen sagte dann: »Friss oder stirb!« Daraufhin musste ich meinen Mund öffnen, und die, die es gesagt hatte, schob mir etwas auf die Zunge. Etwas, das sie gerade im Garten gefunden hatte. Ich nahm es mir rasch – noch bevor ich etwas schmecken konnte – mit den Zähnen von der Zunge, so konnte ich erst einmal feststellen, wie groß es war, ob hart oder weich, sandig oder sauber, und meistens konnte ich auch schon mit den Zähnen herausfinden, was es war: eine Beere, ein Radieschen, ein Büschel krause Petersilie. Erst dann nahm ich es zurück auf die Zunge, zerbiss es und schluckte es hinunter. Sobald ich den anderen meinen leeren Mund gezeigt hatte, rissen sie mir das Pflaster von den Handgelenken. Ich zog mir den Schal von den Augen, und wir lachten. Dann kam die Nächste dran, ließ sich fesseln und die Augen verbinden.

Es war erstaunlich, wie sehr es einen Menschen verunsicherte, wenn er nicht wusste, was er aß, oder etwas anderes erwartete, als er dann bekam. Johannisbeeren, zum Beispiel, waren leicht zu erkennen. Doch einmal glaubte ich, mit den Zähnen eine Johannisbeere ertastet zu haben, um dann verstört und von Ekel geschüttelt auf einer frischen Erbse herumzukauen. Ich mochte Erbsen, und ich mochte Johannisbeeren, aber in meinem Gehirn war diese Erbse eine Johannisbeere, und als Johannisbeere war sie eine Scheußlichkeit. Ich würgte, aber ich schluckte. Denn wer ausspuckte, musste nochmal dran. Und das zweite Mal war eine Strafe. Wer dann wieder ausspuckte, war draußen. Unter Hohngelächter wurde die Ausgeschiedene des Gartens verwiesen und durfte für den Rest des Tages und meistens auch für den nächsten Tag nicht mehr mit den anderen spielen. Rosmarie spuckte fast nie, Mira und ich ungefähr gleich oft. Mira vielleicht sogar ein bisschen öfter, aber später war mir der Verdacht gekommen, dass die beiden mich wohl etwas geschont hatten. Wahrscheinlich fürchteten sie, ich könnte sie bei meiner Mutter oder Tante Harriet verpetzen.

Das Spiel fing harmlos an und steigerte sich dann von Runde zu Runde. Es gab Nachmittage, da aßen wir zum Schluss Regenwürmer, Ameiseneier und faulige Zwiebeln. Einmal war ich überzeugt, die kleine haarige Stachelbeere zwischen meinen Zähnen müsse eine Spinne sein, denn sie war schon die Bestrafung für ein Stück glitschigen Porree, das ich aus meinem Mund hatte fallen lassen. Als sie zerplatzte und der Saft über meine Zunge rann, spie ich sie aus, dass es um mich herum nur so sprühte. Da war ich natürlich raus.

Ein anderes Mal zerkaute Rosmarie, ohne das Gesicht zu verziehen, eine Kellerassel. Nachdem sie sie hinuntergeschluckt und wieder die Hände frei hatte, nahm sie sich langsam das Tuch ab. Wir hielten den Atem an. Sie sah Mira und mich mit diesem schillernden Blick an und fragte versonnen:

- Wie viele Kalorien hat eigentlich so eine Assel?

Dann legte sie den Kopf in den Nacken und lachte. Wir versicherten ihr, dass das Spiel zu Ende sei und sie gewonnen habe, denn wir fürchteten ihre Rache.

Wir spielten es auch am Tag vor Rosmaries Tod. Es hatte zwei Tage lang ununterbrochen geregnet, doch am Nachmittag platzte die Sonne durch die Wolken. Wie befreit rannten Rosmarie und ich hinaus. Da kam Mira sehr langsam die Einfahrt zum Haus hinunter, wir hatten sie die letzten beiden Tage nicht gesehen. Mit dem Rücken lehnte sie sich an die eine Linde. Sie gähnte und wandte ihr Gesicht der Sonne zu. Mit geschlossenen Augen sagte sie:

- Wir spielen »Friss oder stirb«.

Eigentlich bestimmte Rosmarie die Spiele, aber die zuckte nur mit den Schultern und schob mit beiden Handrücken ihre langen roten Haare zurück.

- Ich wäre zwar lieber zur Schleuse gefahren, aber von mir aus. Warum nicht.

Ich wäre auch lieber zur Schleuse gefahren. Wir waren so lange drinnen gewesen, da hätte mir eine Wettfahrt über die Weiden gut gefallen. Aber noch besser gefiel mir, dass Rosmarie diesmal nicht bestimmte, und so sagte ich:

- Ja, wir spielen, was Mira will.

Rosmarie zuckte noch einmal die Schultern, drehte sich um und ging zum Garten, sie trug das Goldene, und es schimmerte in der Sonne, wenn sie sich bewegte. Ich lief hinterher. Mira folgte uns mit einem gewissen Abstand. Der Garten dampfte. Auf den Blättern von Gurke und Kürbis lagen große Linsen aus Regenwasser, durch die man ihre Adern und Haare vergrößert betrachten konnte. Hinter den Johannisbeerbüschen roch es nach Erde und Katzendreck.

- Habt ihr das Tuch und das Pflaster?

Rosmarie hatte sich umgedreht und musterte Mira und mich mit ihren blassen Augen. Mira schaute zurück, es war etwas Herausforderndes in ihrem Blick, das ich nicht verstand. Ihre Wimpern waren noch stärker getuscht als sonst, und ihr Lidstrich war noch breiter. Dick und schwer klebte die dunkle Tusche an den gebogenen Härchen. Wenn sie die Augen bewegte, sah es aus, als liefen ihr zwei schwarze Raupen über das Gesicht.

- Nein, haben wir nicht.

Miras Haut war an jenem Tag wie Asche und ihre Stimme auch. Nur ihre Augen schienen zu leben, und die schwarzen Raupen wanden sich lautlos.

- Ich hol’s schon, sagte ich und rannte hinein, die Treppe hinauf, und holte das Leukoplast, viel war nicht mehr drauf, aber es würde reichen. Ich schloss den großen Schrank auf, griff nach Hinnerks Tuch, das über einer Krawattenstange an der Türinnenseite hing, raffte meine hellblauen Tüllröcke und polterte wieder die Treppe zurück in den Garten.

Mira und Rosmarie hatten sich nicht von der Stelle bewegt, Rosmarie redete auf Mira ein, diese blickte zu Boden. Doch als sie mich kommen sahen, wandten sich beide gleichzeitig voneinander ab und gingen weiter. Erst bei den Johannisbeerbüschen holte ich sie ein.

- Hier sind die Sachen.

- Möchtest du anfangen, Iris? fragte Rosmarie.

- Nein, diesmal fange ich an, sagte Mira.

Ich zuckte mit den Schultern und reichte Mira den Schal, sie band ihn sich um und verschränkte die Handgelenke hinterm Rücken. Ich klebte einen braunen Leukoplaststreifen um Miras Handgelenke, und als ich ihn nicht sofort abreißen konnte, kam Rosmarie dazu, bückte sich schnell und biss ihn durch. Mira sagte nichts.

Wir knieten uns hinter die Büsche in den Matsch.

- Egal, sagte Rosmarie, wir waschen die Kleider, bevor die Nornen was merken.

Die Nornen, das waren natürlich Christa, Inga und Harriet. Wir hatten die Kleider schon öfter heimlich gewaschen. Rosmarie und ich erhoben uns wieder und gingen los, um etwas zum Essen zu suchen. Ich riss ein Blatt vom Sauerampfer ab und zeigte es Rosmarie. Sie nickte und hielt ihrerseits ein Blatt hoch: Suppengrün. So nannte es jedenfalls unsere Großmutter, es roch nach Suppe und nach Maggi, und wenn man es zwischen den Händen zerrieb, wurde man den Geruch tagelang nicht los. Ich fand Suppengrün für den Anfang eigentlich ein bisschen unbarmherzig, aber ich nickte und steckte mir den Sauerampfer selbst in den Mund.

Als wir zurückkamen, hockte Mira auf der Erde und schien wie versteinert.

Ich sagte:

- Also gut, Mira, du hast es so gewollt. Friss oder stirb. Mund auf. Gibst du es ihr, Rosmarie?

Rosmarie knetete das Blatt noch einmal kräftig durch. Mira musste es schon gerochen haben, bevor es nur in die Nähe ihres Gesichts kam. Sie öffnete den Mund, stöhnte laut auf und übergab sich. Ihr Oberkörper wurde von der Gewalt dieses Ausbruchs mit einem Ruck nach vorne geworfen.

- O Gott, Mira!

Ich war so erschrocken, dass ich nicht daran dachte, das Pflaster und das Tuch zu lösen.

- Ist schon gut. Jetzt ist mir besser. Rosmarie weiß, dass ich Liebstöckel nicht mag.

Ich wusste nicht, dass Suppengrün dasselbe war wie Liebstöckel, und ich nahm an, dass Rosmarie das auch nicht wusste. Rosmarie schwieg. Sie hatte sich hinter Mira gekniet und beide Arme um sie geschlungen. Ihr Kinn lag auf Miras Schulter. Sie hatte die Augen geschlossen. Mira hatte noch immer die Augen verbunden. Es roch nach Erbrochenem.

- Na gut, kommt, wir fahren zur Schleuse.

Ich war mir sicher, die beiden würden meinen Vorschlag annehmen. Aber Mira schüttelte langsam den Kopf.

- Ich bin nochmal dran, sagte sie. Das galt nicht, ich hatte es ja noch nicht auf der Zunge.

Da küsste Rosmarie Mira auf den Mund. Der Kuss war mir unangenehm. Ich hatte noch nie gesehen, dass sie sich küssten, und außerdem dachte ich daran, dass Mira gerade fürchterlich gespuckt hatte.

- Ihr seid verrückt, sagte ich. Es wurde mir unheimlich hier im Garten, wobei ich nicht wusste, ob wegen des Spiels oder wegen des Kusses.

Rosmarie führte Mira ein paar Meter weiter und half ihr, sich wieder zu setzen. Dann ging sie auf die Suche, aber nicht sehr weit. Sie bückte sich rasch, und als sie sich wieder aufrichtete, sah ich, dass sie eine Zucchini gepflückt hatte, keine von den Keulen, sondern eine von den kleinen. Ein Stückchen Zucchini war in Ordnung, fand ich, besonders wenn sie klein und frisch war. Aber Rosmarie brach kein Stück ab, sondern murmelte:

- Friss es oder vergiss es, meine Süße.

Mira lächelte und öffnete den Mund. Rosmarie ging in die Hocke ganz nah vor Miras Gesicht. Sie knipste die Blüte von der regennassen Frucht und legte das Ende in Miras Mund. Und dann zischte sie:

- Das ist der Schwanz von deinem Liebhaber.

Miras Körper zuckte kurz zurück. Dann wurde sie ganz ruhig, brach mit einem kräftigen Biss die Spitze der Zucchini ab und spuckte sie Rosmarie blind ins Gesicht. Sie traf Rosmarie voll auf die Oberlippe. Dann sagte Mira:

- Du hast verloren, Rosmarie.

Mira zerrte am Leukoplast, es riss. Sie stand auf, zog sich den weißen Schal vom Kopf und warf ihn auf den Komposthaufen. Und dann ging sie.

Rosmarie und ich starrten ihr nach.

- Sag mal, was sollte das denn? fragte ich. Rosmarie wandte sich zu mir, das Gesicht verzerrt. Sie schrie:

- Lass mich bloß in Ruhe, du dummes, dummes Wesen!

- Gern, antwortete ich, ich spiele sowieso nicht mit Leuten, die nicht verlieren können.

Das hatte ich nur gesagt, weil ich gemerkt hatte, dass Miras Satz Rosmarie getroffen hatte. Verstanden hatte ich ihn nicht. Rosmarie kam mit zwei langen Schritten zu mir herüber und gab mir eine Ohrfeige.

- Ich hasse dich.

- Würmer können gar nicht hassen.

Ich rannte ins Haus.

Rosmarie aß nicht mit uns zu Abend. Erst als ich fast schon im Bett war, kam sie in unser Zimmer und tat, als sei nichts gewesen. Ich war immer noch böse auf sie. Doch ich setzte mich zu ihr auf die Fensterbank, und sie erzählte mir das mit Mira. Und dann kam die Nacht.

Rosmarie und ich schliefen immer in dem alten Ehebett, wenn ich im Sommer da war. Das war lustig und gruselig, wir erzählten uns unsere Träume, schwatzten und kicherten. Rosmarie sprach über Dinge aus der Schule, über Mira und über Jungs, in die sie verliebt war. Oft redete sie über ihren Vater, einen rothaarigen Hünen aus dem Norden. Ein Polarforscher, ein Pirat auf dem Eismeer, vielleicht schon tot, für immer eingefroren, ein silbergrauer Himmel sich spiegelnd in starren Augen, und andere Geschichten dieser Art. Mit Harriet sprach sie nie über ihren Vater, und Harriet fing auch nicht von ihm an.

Im Bett dachten Rosmarie und ich uns Sprachen aus, Geheimsprachen, Nachtsprachen, eine Zeit lang sagten wir alles rückwärts. Das ging erst sehr schleppend, doch nach ein paar Tagen waren wir richtig in Übung und konnten uns immerhin ein paar kurze Sätze zuwerfen. Die Namen von allen Leuten, die wir kannten, drehten wir um. Ich war Siri, sie war Eiramsor, und dann war da natürlich noch Arim. Irgendwann fand Rosmarie, dass das Gegenteil von einer Sache die Sache selbst, bloß rückwärts, sein müsse. Also nannten wir das Essen, und vor allem die Art zu essen, wie ich sie zu Hause mit meinen Büchern allein weiterbetrieb, »Neztok«. Und tatsächlich war dies genau das Gegenteil von essen – nur eben rückwärts.

Als Rosmarie, Mira und ich früher einmal auf den breiten Fensterbänken in Rosmaries Zimmer hockten und in den Regen hinausblickten, sagte Rosmarie:

- Wusstet ihr, dass ich mir Mira einverleibt habe?

Mira schaute sie unter schweren Lidern an. Träge öffnete sie ihren kleinen dunkelroten Mund:

- Ach?

- Ja, Mira ist in Rosmarie enthalten. Und du, Iris, bist mir nur um ein Haar, vielmehr um ein i entwischt.

Mira und ich schwiegen und probierten es im Kopf aus. ROSEMARIE. Nach einer Weile sagte ich:

- Oh, es sind eine ganze Menge Dinge in dir enthalten.

- Ich weiß, kicherte Rosmarie glücklich.

- IRRE, sagte Mira. Und nach einer Pause:

- IRRE und MIES.

- EIS, sagte ich. Und nach einer Pause:

- Ich habe Hunger.

Wir lachten.

Es war tatsächlich eine ganze Menge in Rosmarie enthalten. Irre und mies, Rose und Eis, Morse und Reim, Möse und Mars.

In mir war nichts. Gar nichts. Ich war nur ich selbst, Iris. Blume und Auge.

Genug. Die Wunden, die mit dem Haus kamen, hatte ich fürs Erste lange genug angestarrt. Von draußen ging ich in die Diele, dann durch die frühere Waschküche ins Kaminzimmer. Die gläserne Schiebetür quietschte, als ich sie mit aller Kraft zur Seite drückte. Die Steinplatten auf dem Boden machten das ganze Zimmer kühl. Trotz der großen Glastüren war der Raum dunkel, da die Trauerweide zu dicht an der Terrasse stand und alles Licht nur durch einen grünen Filter hineinließ. Ich trug einen der Korbsessel hinaus auf die Terrasse. Genau hier über mir war das Dach des Wintergartens gewesen. Berthas Vater hatte ihn damals selbst entworfen. »Dat Palmhuus« nannten die Bauern das gläserne Konstrukt spöttisch, denn der Deelwater’sche Wintergarten war sehr hoch, nicht nur so ein kleiner Anbau mit Butzenscheiben. Inzwischen jedoch schirmten die Arme der Trauerweide auch die neugierigen Blicke von der Straße ab.

Doch bevor ich weiter über den Wintergarten nachdachte, wollte ich mich lieber an Peter Klaasen erinnern. Meine Mutter hatte mir die Geschichte erzählt, einiges habe ich selbst mitbekommen, und Tante Harriets Gespräche mit Tante Inga wurden regelmäßig von Rosmarie belauscht, die mir dann berichtete. Obwohl Peter Klaasen damals noch ganz jung war, vielleicht vierundzwanzig, hatte er silbernes Haar. Er arbeitete bei der BP-Tankstelle an der Ortsausfahrt. Inga war jetzt wieder oft im Haus. Nach Hinnerks Tod im Jahr zuvor zerfiel Berthas Gedächtnis immer schneller. Harriet und Rosmarie wohnten zwar dort, aber Inga konnte den beiden nicht die ganze Verantwortung für Bertha überlassen. Christa wohnte weit weg. Sie kam in den Ferien zusammen mit mir angereist, aber die meiste Zeit im Jahr waren keine Ferien, also versuchte Inga wenigstens an den Wochenenden ihre Schwester zu entlasten. Jeden Sonntagabend stieg sie in ihren weißen VW Käfer und tankte an der BP-Tankstelle, bevor sie nach Bremen weiterfuhr. Jeden Sonntagabend war sie noch Stunden nach ihrem Besuch tief in Gedanken versunken, verstrickt in Angst und Trauer, aber auch Erleichterung darüber, wieder zurück in ihr Leben fahren zu dürfen. Und in Schuldgefühle gegenüber der einen Schwester, die das nicht konnte, und in Hassgefühle gegenüber der anderen, die ihr Leben einfach weiterlebte, nur weil sie verheiratet war. Inga war damals vierzig Jahre alt und nicht verheiratet, sie hatte keine Kinder und wollte auch keine, aber sie fand, dass Christa es sich schon sehr einfach machte. Dietrich war ein netter Mann, und er verdiente gut. Sie hatte ein Kind und unterrichtete acht Stunden Sport die Woche in der Realschule des Nachbarortes. Nicht weil sie es brauchte, sondern weil man sie gebeten hatte und weil sie es gerne tat. Natürlich wusste Inga, dass Christa mehr geholfen hätte, wenn sie näher an Bootshaven gewohnt hätte, aber sie tat es nicht, und das war ungerecht. Doch an den Sonntagabenden, wenn alle Menschen traurig sind, dass das Wochenende vorbei ist, saß Inga in ihrem kleinen, lauten Auto und sang.

Tankstellen waren Inga nicht geheuer. Sie zog es vor, sich bedienen zu lassen. Und es bediente sie jeden Sonntag derselbe Mann mit grauem Haar über einem glatten Jungengesicht. Jeden Sonntag wünschte er ihr höflich eine schöne Woche. Sie bedankte sich mit einem zerstreuten Lächeln ihres schön gebogenen Munds. Nach drei Monaten, als der junge Mann begann, sie mit Namen zu begrüßen, sah sie ihn zum ersten Mal richtig an.

- Entschuldigung. Sie kennen meinen Namen?

- Ja. Sie kommen jeden Sonntag hierher und tanken bei mir. Seine Stammkunden sollte man mit Namen kennen.

- So, so. Stammkunden. Aber woher wissen Sie, wer ich bin?

Inga war verwirrt, sie wusste nicht, wie alt der Mann war. Er wirkte sehr jung, aber die Haare verunsicherten sie. Inga wusste nicht, ob sie ihn jetzt mütterlich-gönnerhaft oder einfach nur distanziert und kühl behandeln sollte. Als der Tankwart sie nur kurz anzwinkerte und lachte, ertappte sich Inga dabei, wie sie zurücklächelte. Der junge Mann wollte doch nur nett sein, und sie spielte sich auf wie eine Diva. Beim Hinausfahren sah sie im Rückspiegel, dass der junge Mann mit den grauen Haaren hinter ihr herschaute, während ein Kunde versuchte, mit ihm zu sprechen.

Am Sonntag drauf war der junge Mann wieder da und begrüßte sie höflich, aber ohne ihren Namen zu nennen. Inga sagte:

- Na kommen Sie, ich bin doch Stammkundin.

Er lächelte sie offen an.

- Ja, Frau Lünschen, das sind Sie, aber ich möchte nicht aufdringlich sein.

- Nein. Das sind Sie gar nicht. Ich bin nur eine launische alte Ziege.

Der Mann schwieg. Er schaute sie an. Ein bisschen zu lange für Ingas Geschmack.

- Nein. Sind Sie nicht. Und Sie wissen es auch.

Inga lachte.

- Ich denke, das war wohl ein Kompliment. Vielen Dank.

Ich flirte mit ihm, dachte sie beim Weiterfahren erstaunt, ich flirte mit diesem merkwürdigen Tankwart. Sie schüttelte den Kopf, aber sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

An den folgenden Sonntagen sprach sie auch mit ihm, immer nur kurz, aber doch so, dass sie sich auf der Rückfahrt im Auto beim Lächeln erwischte. An Bertha und wie es weitergehen könne, dachte sie nur noch bis zur Ortsausfahrt. Und irgendwann begann sie, schon beim Abendbrot mit Bertha, Harriet und Rosmarie ans Tanken zu denken. Sie hatte herausbekommen, dass er genau wie sie immer nur am Wochenende hier war. Er war eigentlich Maschinenbauer, hatte gerade sein Studium beendet und arbeitete vorübergehend bei der Tankstelle. Sie gehörte einem Freund seines Vaters. Ingas Namen hatte er vom Tankstellenbesitzer erfahren, bei dem auch schon Ingas Vater seinen alten schwarzen Mercedes hatte auftanken lassen. Er war nett, nicht besonders wortgewandt, aber durchaus selbstbewusst. Er sah gut aus, war ein bisschen eitel, und vor allem war er viel zu jung, noch jünger als Inga zuerst gedacht hatte, und sie gestattete sich nicht, ihn näher kennenzulernen. Er bewunderte sie offensichtlich, aber das war Inga gewohnt. Deshalb musste sie sich nicht sofort für einen Mann interessieren. Aber Peter Klaasen, inzwischen wusste sie auch seinen Namen, war hartnäckig, ohne aufdringlich zu sein.

An einem der letzten warmen Herbsttage fragte er sie, ob sie gern Räucheraal möge. Als sie nickte, sagte er, er müsse jetzt gleich zu seiner Räuchertonne, ein Freund habe ihm einen Eimer grüner Aale geschenkt, schon geschlachtet und ausgenommen.

Inga lachte.

- Interessantes Geschenk.

- Ich habe ihm den Motor seines Außenborders repariert. Er hat ein paar Reusen im Hafen liegen. Wollen Sie nicht mitkommen?

- Nein!

- Ach kommen Sie, es ist schön da draußen.

- Ich weiß, ich bin dort aufgewachsen.

- Na gut, dann tun Sie es mir zuliebe.

- Warum sollte ich das tun?

- Hm. Vielleicht weil ich mir nichts Schöneres vorstellen könnte?

Nach einer Pause sagte Inga:

- Oh. Verstehe. Sehr nett. Dann muss ich ja wohl.

Inga lachte über sein Freudengeheul und stieg in seinen Wagen. Peter fuhr zu einem Schuppen in der Nähe der Schleuse. Inga war nicht beunruhigt, sie kannte diese Gegend genau, das Weideland ihrer Familie lag gleich da drüben. Obwohl Peter Klaasen ihr gegenüber auch gern den Frauenverführer gab, genoss Inga seine Fröhlichkeit und seinen Eifer.

Die alte rostige Tonne stand mitten auf der Wiese. Peter ging in den Schuppen und holte einen schwarzen Eimer heraus, in dem sich dunkle Aalrücken wanden. Die toten Tiere bewegten sich noch. Er kramte in seinen Jackentaschen. Immer hastiger durchwühlte er sie. Schüttelte den Kopf, fluchte und sah dann Inga auf die Beine. Als er aufschaute, war sein Grinsen zugleich verschmitzt und schüchtern.

- Frau Lünschen, wir brauchen Ihre Strümpfe.

- Wie bitte?

- Ehrlich. Ich habe meine vergessen. Wir brauchen Nylonstrümpfe.

- Wollen Sie meine Strümpfe räuchern oder meine Beine?

- Weder noch. Wir brauchen die Strümpfe, sonst kriegen wir die Aale nicht. Sie bekommen von mir neue, das verspreche ich Ihnen.

Er lächelte so erwartungsvoll, dass Inga seufzte, hinter das Auto ging und ihre Feinstrumpfhose auszog.

- Hier, bitte. Diese Geschichte muss bald lustiger werden, sonst gehe ich zu Fuß zur Tankstelle zurück.

Peter Klaasen fragte, ob sie ihm erlaube, seine Hand in den einen Strumpf zu tun.

Inga wurde unruhig, aber sie nickte.

Peters Hand in Ingas hautfarbener Strumpfhose sah nicht mehr so aus, als gehöre sie noch zu Peters Körper. Wie ein augenloses, farbloses Tiefseetier bewegte sie sich im Wasser des Eimers. Und schon hatte sie sich den ersten Aal geschnappt. Inga beugte sich über den Eimer. Der tote Aal zuckte, aber Peter bohrte rasch einen Haken durch den Fisch. Und diesen Haken hängte er an die Eisenstäbe, die oben quer über der Tonne lagen. Er zog die Hand aus Ingas Strumpfhose und hielt sie ihr hin.

- Jetzt sind Sie dran.

Inga streifte sich den Strumpf über die Hand, tauchte sie in den Eimer und griff zu, aber der Aal entglitt ihr.

- Beherzter.

Inga griff beherzter zu und konnte ihn packen. Sie schrie auf, als sie den Fisch aus dem Wasser zog. Sie konnte spüren, wie er sich bewegte. Peter Klaasen nahm ihn ihr geschickt ab, stach ihm den Haken durch den Kiefer und hängte ihn neben den anderen Fisch. Inga lachte, ein wenig atemlos. Einen Fisch nach dem anderen reichte sie Peter. Als alle Aale hingen, machte er ein kleines Feuer unten im Ofen an, aber er brauchte nur Glut, keine tanzenden Flammen. Peter legte einen runden Deckel auf die Stäbe mit den Fischen. Dann setzten sie sich ins Auto, schwatzten und lachten und tranken Kaffee aus einer Thermoskanne, die Peter vom Rücksitz angelte. Sie hatten nur einen Becher, wofür sich Peter Klaasen entschuldigte. Inga sagte, das mache nichts, sie habe ja auch nur eine Strumpfhose gehabt. Daraufhin lachten beide herzlich, und Inga fühlte sich jung und ausgelassen und vergaß für einen Moment die Sorge um Bertha. Als Peter ihr die Tasse mit dem Kaffee reichte, berührten sich ihre Fingerspitzen. Er bekam einen Schlag, zuckte zusammen, und der heiße Kaffee spritzte über Ingas Hand. Sie presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf, als Peter ihre Hand ansehen wollte.

Später nahm sie zwei frischgeräucherte Aale mit nach Bremen.

Peter Klaasen bot Inga an, einen Kassettenrekorder ins Auto einzubauen, und klingelte eines Freitagabends an der Haustür in der Geestestraße mit dem Werkzeugkoffer unterm Arm, um gleich mit der Montage anzufangen, damit sie schon am Sonntag auf der Rückfahrt Musik hören könnte. Es waren Osterferien, Mira und ich waren auch da, meine Mutter hatte etwas in der Stadt zu erledigen.

Inga war verlegen, als sie ihm die Tür öffnete, überwand ihre Verlegenheit jedoch schnell, als sie sah, wie verlegen er selbst war. Sie sagte sich, dass sie mindestens fünfzehn Jahre älter war als dieser Junge, und gewann damit schnell wieder ihre Fassung zurück. Sie behandelte ihn mit warmer Herablassung, in die aber auch immer so etwas wie wehmütige Selbstironie gemischt war.

Er wurde hereingebeten und mit Tee und Kuchen versorgt. Harriet sprach mit ihm, sie kannte seinen Chef, den Tankstellenbesitzer, ganz gut. Rosmarie saß am Tisch, vor ihr stand eine Vase mit einer einzelnen Dahlie, hellgelb mit rosa Blütenspitzen. Rosmarie hob den Kopf und schaute über die Blume hinweg auf Inga und ihren Besucher. Ihre feinen kupferroten Brauen hatte sie hochgezogen, und sie musterte den jungen Mann mit den silbernen Haaren von Kopf bis Fuß. Schon beim ersten Wort, das ihre Tante Inga und Peter Klaasen am Tisch wechselten, richtete sie sich im Stuhl auf, wurde ganz wach und still wie ein Tier, das eine Witterung aufnimmt. Mira beobachtete Rosmarie unter halbgeschlossenen Lidern.

Auch Harriet spürte die Aufmerksamkeit ihrer Tochter und hatte eine Idee:

- Herr Klaasen, wir suchen seit langem einen Mathematik-Nachhilfelehrer für Rosmarie. Wollen Sie sich vielleicht ein, zwei Mal die Woche dafür opfern?

Peter Klaasen schaute Rosmarie an, die schaute zurück, sagte aber nichts.

- Möchtest du, Rosmarie? fragte er ruhig.

Rosmarie schaute von ihm zu Inga, die unter ihrem Blick begann, sich die Haare zu richten. Dann sah sie Mira an und lächelte ihr Raubtierlächeln, das sie hatte, weil ihre Eckzähne ein klein wenig länger waren als die Schneidezähne.

- Warum nicht?

- Genau, jubelte Harriet, die nicht fassen konnte, dass Rosmarie so fügsam war. Also ja! Ich zahle Ihnen zwanzig Mark die Stunde.

Bertha, die mit ihrem Kuchen beschäftigt war, blickte vom Teller auf und sagte:

- Oh, zwanzig Mark. Das ist viel Geld. Das kann man … nicht wahr? Ich meine, wird das noch? Jetzt sag doch mal was.

Peter wusste offenbar Bescheid über Bertha, jedenfalls schien er nicht weiter erstaunt, sondern sagte freundlich:

- Ja, Frau Lünschen, das ist viel Geld.

Aber als er Inga ansah, hielt er plötzlich inne. Inga schaute weg.

- Gut, gut, gut! Oh Inga, er macht es!

Harriet war selig.

- Warten Sie, liebster Herr Klaasen, ich muss den Kalender holen, dann können wir einen Tag ausmachen. Rosmarie, wann hast du noch nachmittags Turnen? Ich bin sofort bei Ihnen. Einen Augenblick, bitte. Ja?

Harriets Stimme drang aus der Küche, in die sie, ein wenig kopflos, auf der Suche nach dem Kalender gestürzt war. Ihre Hast rührte sicher auch daher, dass sie verlegen war. Schließlich traf man ja nicht jeden Tag auf die jüngeren Verehrer seiner älteren Schwester und schon gar nicht auf welche, die auch noch hübsch aussahen und Mathematik beherrschten. Wir hörten Harriet zerstreut vor sich hin murmeln, während sie die Schublade des Küchentischs durchwühlte.

- Mittwochs, Mama.

Rosmarie verdrehte die Augen.

Harriet kam zurück und schwenkte einen Taschenkalender. Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen.

- Also, mittwochs hast du Turnen, mein Kind, damit du das weißt.

Rosmarie seufzte schwer und schüttelte resigniert den Kopf.

- Also, was ist denn an den anderen Tagen so los?

Harriet hielt den Kalender weit von sich gestreckt und blinzelte.

- Ach, es ist so dunkel hier drin. Man kann ja gar nichts erkennen.

Peter Klaasen schaute kurz auf den Esstisch, trat einen Schritt heran, griff sich die Vase mit der Dahlie und schob sie rasch neben Harriets Kalender. Dann trat er wieder einen Schritt zurück. Die dicke gelbrosa Blüte schwebte wie eine altmodische Leselampe über Harriets Kalender.

Harriet starrte verdutzt die Blume an, dann blickte sie hoch und lachte hell auf. Ihre Augen leuchteten, als sie von Peter Klaasen zu ihrer Schwester und wieder zurück zu Peter Klaasen schaute. Bertha lachte auch, ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Ingas Herz zog sich zusammen. Sie konnte ihn kaum ansehen, so sehr liebte sie ihn in diesem Moment. Es machte ihr Angst.

Sogar Mira lächelte unter ihrem schwarzen Pony.

Rosmaries Augen schienen noch heller zu werden.

Ich musste auch lachen. Dann betrachtete ich die Gesichter der anderen Frauen: Für diesen einen Moment waren wir ihm alle verfallen.

- Wie wäre es denn mit freitags? fragte er höflich.

Harriet lächelte ihn warm an, klappte den Kalender zu und sagte:

- Freitags also.

- Prima, sagte Inga und stand auf.

Peter stand auch auf. Rosmarie blieb sitzen und sah den beiden gespannt zu. Mira schaute erst auf Inga und Peter und dann auf Rosmarie, und dann goss sie sich mit gerunzelter Stirn Kaffee nach.

Bertha hatte ihren Schuh ausgezogen und zeigte ihn mir. Sie flüsterte:

- Das ist nicht meiner.

- Doch, Oma, das ist doch dein Schuh, zieh ihn schnell wieder an, sonst wird dir kalt.

- Er ist ganz schön.

- Ja, Harriet hat dir diese Schuhe gekauft.

- Aber er gehört mir nicht, ist es deiner?

- Nein, Oma, es ist dein Schuh, zieh ihn wieder an.

- Harriet, guck mal. Hier. Wo soll das denn hin?

Sie hob hilflos den Schuh hoch.

- Ja, Mutti. Warte, ich helfe dir.

Harriet kroch unter den Tisch und zog Bertha den Schuh wieder an.

- Wie gut, Rosmarie. Ihr könnt gleich nächste Woche anfangen!

Harriets Stimme kam etwas angestrengt von unten.

Mira setzte die Kaffeetasse ab, öffnete den Mund und sagte:

- Ich mach auch mit.

Rosmarie schaute sie an, ihre Augen schienen noch heller.

- Warum nicht, sagte Harriet und stand auf. Dann können wir uns die Bezahlung teilen. Willst du vielleicht auch mitmachen, Iris?

- Nein. Ich habe jetzt Ferien. Und bin zwei Klassen drunter. Außerdem kriege ich bei meinem Vater Mathe-Unterricht umsonst. Und mehr als mir lieb ist.

Ich verdrehte die Augen und mimte einen Brechreiz.

- Warum sind hier nicht meine …?

Berthas Stimme klang aufgewühlt. Sie hatte schon wieder ihren Schuh in der Hand, diesmal aber den anderen.

- Warum … Oh bitte, bitte, Harriet. Warum ist das nicht mehr so? Ich meine. Wird das nochmal wieder? Ich glaube nicht, oder?

Also bekamen Rosmarie und Mira freitagnachmittags Mathematik-Nachhilfe bei Peter Klaasen. Danach fuhr er mit seinem Citroën rüber zur Tankstelle.

Eine Zeit lang ging alles gut. Der Unterricht machte Peter Spaß, Rosmarie und Mira waren gar nicht so kapriziös, wie er vielleicht befürchtet hatte. Als sich Rosmarie schon in der nächsten Mathematik-Arbeit um eine ganze Note verbesserte, freute ihn das fast noch mehr als Harriet. Hinzu kam, dass er, wenn er mit der Nachhilfe fertig war, sehr oft noch ein paar Sätze mit Inga wechseln konnte, die dann gerade aus Bremen eingetroffen war. Diese Sätze waren ihm wichtig. Er hatte sich in Inga verliebt. Aber nicht einfach nur verliebt; er wollte sie heiraten, Kinder mit ihr haben und für immer ihr Mann sein. Er hatte Inga einen Brief geschrieben, in dem all das stand.

Das wussten wir von Rosmarie, die den Brief heimlich gelesen hatte. Wie sie an ihn gekommen war, verriet sie uns nicht. Inga weigerte sich, über ihre Gefühle nachzudenken. Sie fand sich zu alt oder ihn zu jung, je nachdem, wie sie sich gerade fühlte. Rosmarie fing an, am Wochenende an der Tankstelle herumzuhängen. Sie unterhielten sich. Peter tat das gern. Er fühlte sich, wenn er mit Ingas Nichte sprach, seiner Liebe ein wenig näher. Rosmarie wurde immer besser in Mathematik. Wenn Peter ihr etwas erklärte, schaute sie ihn an, ohne auch nur zu blinzeln, was ihn glauben ließ, sie höre ihm gar nicht zu. Doch dann überraschte sie ihn mit klaren Antworten. Bei Mira war es genau umgekehrt, sie schien sehr konzentriert, schaute in ihr Heft oder runzelte die Stirn, aber sie bekam überhaupt nicht mit, wovon gerade die Rede war. Ihre Mathematiknoten wurden schlecht, was sie vor der Nachhilfe gar nicht gewesen waren. Doch sie bestand darauf weiterzumachen.

Rosmarie wollte Peter. Sie wollte ihn haben. Sie sagte ihm, sie sei in ihn verliebt. Sagte es ihm mitten ins Gesicht, während der Nachhilfe und vor Mira. Peter schaute sie entgeistert an. Rosmarie war ein schönes Mädchen, groß und schlank mit langem rotem Haar. Ihre Augen standen weit auseinander. Sie hatten die Farbe von Gletschereis und unterschieden sich kaum von dem bläulichen Weiß ihrer Augäpfel, nur ihre Pupillen hoben sich stark ab. Wenn ich mich über sie ärgerte, fand ich, sie ähnele einem Reptil. Wenn wir uns gut verstanden, erinnerte sie mich an ein silbriges Feenwesen. Doch so oder so fanden Mira und ich sie atemberaubend.

Peter war verwirrt. Die Stunde endete früher als sonst. Inga war noch nicht angekommen. Weil er sie aber gerade heute nicht verpassen wollte, beschloss er, noch etwas auf dem Grundstück zu warten. Er ging nicht zu seinem Auto, sondern schlenderte hinters Haus auf die Obstbaumwiese. Es war im Mai, die Blüten waren abgefallen und die Äpfel noch nicht sichtbar. Peters Herz klopfte, als er Rosmarie von weitem auf sich zukommen sah.

Ich hatte keine Ferien, und deshalb wusste ich nur, dass Inga später weinend bei uns angerufen hatte und meine Mutter sprechen wollte. Vom Hof aus habe sie gesehen, schluchzte Inga in den Hörer, wie Rosmarie und Peter sich geküsst hätten. Sie hatte daraufhin auf dem Absatz kehrtgemacht und war zurück nach Bremen gefahren. Wir wussten nicht, ob Rosmarie wusste, dass Inga gekommen war und sie beobachtete, aber wir nahmen an, dass sie das genau wusste. Rosmarie musste Ingas Auto gehört haben, als es hinter ihr in die Einfahrt fuhr und unter den beiden Linden auf dem Hof zum Stehen kam. Ein VW Käfer hatte keinen leisen Motor. Ich wusste auch nicht, ob Rosmarie in diesem Augenblick wusste, dass auch Mira Zeugin des Kusses gewesen war. Irgendwann musste sie es jedenfalls erfahren haben, denn ich wusste es von meiner Mutter und die von ihrer Schwester Harriet, und die hatte Mira dabei zugesehen, wie Mira den Kuss beobachtete: Mira war bei Harriet in der Küche gewesen, um Limonade zu holen, hatte die beiden Gläser genommen und war nach hinten durch die Diele gegangen. Als sie die Tür zur Obstbaumwiese geöffnet hatte und einen Schritt hinausgetreten war, ging Rosmarie nur wenige Schritte entfernt an ihr vorbei, den Blick auf Peter gerichtet. Aus den Augenwinkeln musste sie Mira gesehen haben, nahm aber keine Notiz von ihr. Miras Stirn glänzte weiß unter ihrem schwarzen Pony, als Harriet sie von der Küche aus betrachtete und sich über ihre Blässe wunderte. Wie eine Schlafwandlerin sei Rosmarie an ihr vorbeigeschritten, flüsterte Mira mehr zu sich selbst als zu Harriet, als sie wieder in der Küche war. Und sie, Mira, habe sich nicht getraut, sie zu rufen. Und gerade als sie doch rufen wollte, da habe sie sich auch schon an diesen grauhaarigen Tankwart geklammert. Mira hatte Schweißperlen über der Oberlippe, ihre Augen schienen größer als sonst. So erzählte es Harriet ihrer Schwester Christa, die nach Ingas Anruf mit Harriet telefonierte. Zumindest einen Teil davon, den Rest habe ich nach und nach einfach mitgekriegt.

Wenn Rosmarie wusste, dass Inga zuschaute, fragte Christa mich ratlos, nachdem sie aufgelegt hatte, warum in aller Welt hatte sie ihn dann geküsst? Als ich meine Mutter daraufhin schweigend anblickte, vertieften sich ihre beiden Längsfalten über der Nasenwurzel. Sie schaute mich kühl an und sagte dann:

- Ach. Glaubst du? Na, ich denke, deine Phantasie geht mal wieder mit dir durch.

Dann biss sie sich auf die Lippen und wandte sich ab.

Inga hatte am Telefon auch gesagt, dass sie Peter liebe, dass ihr der Altersunterschied egal sei, dass ihr das aber leider erst in dem Moment klargeworden sei, als er ihre minderjährige Nichte geküsst habe, und sie fragte sich, ob sie ihm danach je wieder in die Augen sehen könne. Harriet sei bekümmert, aber hilflos, mit ihr könne Inga jedenfalls nicht sprechen. Christa beruhigte ihre Schwester und riet ihr, mit Peter zu reden. Inga sagte, sie brauche jetzt Zeit, um alles zu durchdenken, würde die Woche über in Bremen bleiben, und dann wolle sie mit Peter sprechen. Das höre sich gut an, fand meine Mutter, und das Telefongespräch war beendet.

In dieser Woche sollte jedoch noch viel geschehen. Nach Ablauf derselben war alles aus zwischen Tante Inga und Peter Klaasen, und Letzterer hatte eine Stelle irgendwo im Ruhrgebiet angetreten.