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Professor Grasmais galt als Kapazität auf dem Gebiet der Psychiatrie. Aus seiner Feder stammte unter anderem das bekannte Werk »Reflexion des Unbewußten«, eine Arbeit, die ihn in allen Kulturstaaten bekannt gemacht hatte. Auf internationalen Tagungen war Grasmais ein oft und gern gesehener Gast. Verständlich, wenn seine Sprechstunden überlaufen waren, vor allem die in seiner Privatpraxis. Zwei Sekretärinnen überwachten und teilten seine kostbare Zeit ein.

Am fünften Tage meiner Kaltwasserabreibungen weilte Grasmais bis zum Mittag in der Klinik. Zweimal hatte ihn das Sekretariat seiner Privatpraxis angerufen; das Wartezimmer sei überfüllt. Der Professor beeilte sich, nach Hause zu kommen. Er zog den Wintermantel an, beauftragte telefonisch die Fahrbereitschaft, den Wagen vorfahren zu lassen, zündete sich die vierte Zigarre an und wollte aus dem Zimmer treten, als Schwester Hildegard aufgeregt eintrat. Vor der Tür warte eine fremde Dame, die sich nicht abweisen ließe. Die Schwester machte bei dieser Erklärung eine unmißverständliche Handbewegung zur Stirn.

Grasmais winkte ab. »Oberarzt Hauschild oder Doktor Kaliweit soll sich ihrer annehmen. Ich bin nicht mehr im Hause.«

»Das habe ich ihr schon klarzumachen versucht«, beteuerte Schwester Hildegard, »sie will nur mit Ihnen verhandeln, ja, verhandeln hat sie gesagt. Eine Ausländerin…«

In diesem Augenblick trat die angekündigte Besucherin unaufgefordert ein. Die Schwester zog sich zurück. Unwillig blickte Grasmais auf die fremdartig gekleidete junge Frau. Sie war wie eine Orientalin gekleidet, doch wirkte der grobe Stoff aus hellgrünem Leinen ärmlich. Er hing ihr unordentlich über der Schulter, darunter trug sie ein enganliegendes, schillerndes Trikot. Ihre Schuhe waren aus Bast geflochten, langes dunkles Haar lag locker über der eigenwilligen Kleidung. In der Rechten trug sie einen gelben Beutel aus Kunststoff.

Das fremdartige Äußere des ungebetenen Gastes fesselte den Professor zunächst ein wenig, ließ ihn vorübergehend seinen Ärger vergessen. »Ich habe nicht viel Zeit«, sagte er. »Was haben Sie auf dem Herzen?«

»Auch meine Zeit ist bemessen«, antwortete der Eindringling, »ich bin nach langem Flug vergangene Nacht angekommen. Mein Name ist Aul. Sagt er Ihnen etwas?«

»Angenehm«, antwortete Grasmais und stutzte. »Wie war Ihr werter Name?«
»Aul.«
Grasmais vergaß seine Zigarre. »Habe ich richtig gehört, Aul?«
»Allerdings.«
»Und woher kommen Sie?«
»Von der ›Quil‹.«
»Von der ›Quil‹, natürlich, sechster Mond…« Seine Verblüffung wandelte sich in lebhaftes Interesse. Während er der rätselhaften Besucherin einen Sessel anbot, gingen ihm zahlreiche Vermutungen durch den Kopf. Er vergaß sein überfülltes Wartezimmer, legte den Mantel ab und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Zweifellos eine Kranke, konstatierte er, aber in welchem Zusammenhang steht ihr Besuch mit unserm Weyden? Die Angelegenheit wäre durchsichtiger gewesen, säße ein normal gekleidetes Mädchen vor ihm, eine Roswitha etwa…
»Von der ›Quil‹ kommen Sie also. Hm, interessant, ich kenne mich dort gut aus. Sie haben einen Vater, der zweieinhalbtausend Jahre alt ist, stimmt’s?«
Die Besucherin nickte zustimmend.
»Sind Sie nicht zufällig auch diesem Me begegnet?«
»Gewiß, ich habe mich erst vor drei Wochen von ihm verabschiedet. Ich bin also an der richtigen Stelle bei Ihnen…«
Allmählich glaube ich, daß meine Klinik doch ein Tollhaus ist, dachte Grasmais und sog an seiner erkalteten Zigarre. Er argwöhnte ein Komplott, suchte nach Zusammenhängen. Ehe er jedoch eine weitere Frage stellen konnte, sagte die Besucherin: »Ich kenne mich in irdischen Lebensgewohnheiten nicht gut aus; ich weiß jedoch, daß Hans hier gefangengehalten wird, und bin gekommen, ihn mitzunehmen.«
»Hans?« erkundigte sich Grasmais verwundert. »Was für ein Hans? Reden Sie ganz offen – haben Sie nicht häufig starke Kopfschmerzen?«
»Nein, ich habe keine Kopfschmerzen. Ich sprach von Hans Weyden, den Sie hier festhalten. Leugnen Sie es nicht, ich war bei seiner Frau.«
Nach dieser Erklärung glaubte der Professor klarer zu sehen. Das verzerrte Bild nahm Konturen an. Mit überlegener Ruhe setzte er seine Zigarre wieder in Brand, sagte dann in väterlichem Tone: »Mein verehrtes Fräulein, ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, daß Sie Ausländerin sind. Ihre Regierung hat Ihnen einen Studienplatz bei uns ermöglicht. Irgendwann haben Sie Herrn Weyden kennengelernt, ein verträumter, schwärmerisch veranlagter Mensch, ein wenig introvertiert, aber ohne Zweifel sympathisch. Ich verstehe das alles, sogar den Honigmond, aus dem dann später der sechste Mond bei ihm wurde. Doch glauben Sie mir, ich bin seit einigen Jahrzehnten Arzt. Aus Erfahrung ist mir bekannt, zu welchen Denkkombinationen und Listen labile und gemütskranke Menschen fähig sind, wenn sie ein bestimmtes Ziel erreichen wollen. Mein Fräulein…«, Grasmais erhob sich, zeigte ein verständnisvolles Lächeln, »Sie helfen weder sich noch Ihrem Freund, wenn Sie mit derartigen Mätzchen einen Patienten der ärztlichen Kontrolle entziehen wollen. Außerdem gefährden Sie dadurch Ihren Studienplatz.«
Er setzte sich wieder, wartete auf eine Antwort. Da sein Gast schwieg, fuhr er fort: »Durch Ihren Besuch haben Sie ihm dennoch geholfen. Ich ahne nun, wo, um mich volkstümlich auszudrücken, der Hund begraben liegt…«
»Er ist begraben?« erkundigte sich die Ausländerin bestürzt. »Waldi ist tot?«
Der Professor drohte mit dem Zeigefinger. »Wir wollen es nicht übertreiben, mein Fräulein, die Angelegenheit ist nicht zum Spaßen. Zweifellos kann der Patient durch Ihren Besuch über jeglichen Verdacht behördlicherseits erhaben sein. Wo Sie Ihren Honigmond erlebt haben, soll uns nicht interessieren. Doch ein kleiner Tick ist nun einmal zurückgeblieben. Das werden wir in Ordnung bringen, ich verspreche es Ihnen. Jetzt wollen wir brav nach Hause gehen. Vielleicht rufen Sie in den nächsten Tagen wieder einmal an…«
Er war des Geredes überdrüssig, blickte nervös auf die Uhr. Die Besucherin dachte indes nicht daran aufzustehen. Nach einer kurzen Pause sagte sie plötzlich laut und akzentuiert: »Du bist ein Racha.«
Dunkel erinnerte er sich, dieses Wort schon einmal gehört zu haben. Für einen Moment verlor Grasmais die Selbstbeherrschung, vor allem deswegen, weil er so unerwartet geduzt wurde. »Meine Dame«, rief er aufgebracht, »solche Töne bin ich nicht gewohnt – es sei denn, ich habe Patienten vor mir. Mit Rücksicht auf Ihre Staatsangehörigkeit will ich mich beherrschen. Bitte, verlassen Sie jetzt mein Büro!«
Die »Dame« antwortete respektlos: »Ich bin jetzt am Ende mit meiner Geduld. Mit dem stinkenden Qualm, den du ständig aus deinem Munde abläßt, kannst du mich nicht erschrecken. Öffne die Tore und bringe mich zu meinem Geliebten, oder ich werde dir die Leviten lesen…«
Fehldiagnose, doch eine Geisteskranke, überlegte der Professor. Es ist wohl am besten, wenn ich sie hierbehalte. Merkwürdige Übereinstimmung, vielleicht eine beginnende Epidemie von kosmischer Schizophrenie, eine neuartige Seuche…? Er lächelte liebenswürdig und meinte beschwichtigend: »Nicht gleich aufbrausen, kleines Fräulein, das bringen wir schon in Ordnung. Du kannst bei uns bleiben, auf Station vier habe ich noch ein Bett frei…«
Die Besucherin nestelte an ihrem Plastikbeutel, murmelte dabei: »Hans hatte recht, es ist doch schwieriger, als ich zuerst annahm. Man muß sich an das dreidimensionale Denken erst gewöhnen. Armer Mensch, wie bringe ich es dir nur bei?«
Nun, da der Professor überzeugt war, eine Patientin vor sich zu haben, nahm er den Zwischenfall mit der Routine des erfahrenen Mediziners zur Kenntnis. Eine Liebesaffäre mit tragischem Ausgang, auf beiden Seiten leichte Debilität. »So also sieht unsere kleine Roswitha aus«, sagte er in scherzhaftem Ton, »nun, das bringen wir schon wieder in Ordnung. Später dürft ihr euch dann auch mal sehen. Ich verstehe nur die Schlamperei in der Anmeldung nicht, lassen jeden durch.«
»Wer ist Roswitha?« erkundigte sich die Besucherin interessiert. »Ist sie eine von seinen Kebsweibern?«
»Kebsweiber ist gut«, meinte Grasmais belustigt. »Schluß jetzt damit. Die Oberschwester wird deine Personalien aufnehmen und dich in ein Zimmer einweisen. Dann wirst du schön gebadet und bekommst andere Wäsche. Wie kann man nur bei dieser Kälte in solchen Kleidern herumlaufen?« Er streckte die Hand nach dem Klingelknopf aus. »Und daß mir keine Zänkereien mit den anderen Frauen zu Ohren kommen…«
»Die Hand weg!«
Professor Grasmais wollte auf den Knopf drücken, um die Schwester zu rufen. Der Befehlston, in dem diese Aufforderung erfolgte, ließ ihn einen Augenblick zögern. In der gleichen Sekunde stieg eine kleine Rauchwolke auf. An der Stelle, wo sich der Klingelknopf befunden hatte, lag ein verkohlter Rest. Es stank nach verbranntem Kunststoff.

Aul war entschlossen und zielbewußt auf die lange Reise gegangen, hatte sich auf alle erdenklichen Zwischenfälle vorbereitet. Gelassen sagte sie: »Ich bin weder Roswitha noch eine Ausländerin, die hier studiert. Was sollte ich von euch wohl lernen? Ich heiße Aul und komme von der ›Quil‹. Das wirst du heute noch begreifen. Was du soeben gesehen hast, nennen wir verdampfen. Möchtest du noch eine Probe davon, oder bringst du mich jetzt zu ihm?«

Irritiert betrachtete der Professor den verkohlten Rest des Klingelknopfes. Es qualmte noch immer ein wenig. Er nahm eine Blumenvase und goß einige Tropfen Wasser auf die erhitzte Stelle. Grasmais lag es fern, zu glauben, seine Besucherin könnte dieses Malheur verursacht haben, er vermutete vielmehr einen Kurzschluß in der Leitung. »Das haben Sie aber gut beobachtet«, sagte er anerkennend, »die Klingel hatte schon immer einen Defekt. Schönen Dank, daß Sie mich rechtzeitig darauf aufmerksam gemacht haben. Ich werde jetzt Schwester Hildegard holen…« Er stand auf. Ein Warnruf Auls ließ ihn am Schreibtisch verharren.

»Du bleibst hier. Ich bin Aul und komme von der ›Quil‹. Drei lange Wochen war ich unterwegs. Und nun betrachte das gräßliche Bild an der Wand. Es erinnert mich an den sechsten Mond, so pflegt Vater zu essen…«

Der Professor betrachtete schmunzelnd sein Ölgemälde, doch das Lächeln erstarb ihm auf den Lippen, als das Bild plötzlich herunterfiel. Der Rahmen zerbarst krachend auf einer Stuhllehne, die Leinwand schlitzte auf. Im ersten Schreck brachte er kein Wort hervor, starrte fassungslos auf sein zerstörtes Ölgemälde. Dann fiel ihm auf, daß Aul an ihrem Plastikbeutel herumnestelte: eine Ahnung stieg in ihm auf. Kam dieses Mädchen nicht aus dem Orient, wo Magiertricks noch Tradition waren?

Ihr unschuldiges Lächeln brachte ihn in Rage. »So ist das also«, schnob er erzürnt, »mit Taschenspielertricks willst du mich überzeugen! Du Luder bist wahrscheinlich vom Variete oder von einem Wanderzirkus. Aber für dich habe ich Beruhigungsmittel, so klein wirst du bei mir…« Grasmais deutete prophetisch mit Daumen und Zeigefinger Auls künftige Ausmaße an. »Und das Bild setze ich dir auf die Rechnung, das wirst du mir auf Heller und Pfennig bezahlen. Ein echter Heidemüller, ein Erbstück – na warte, du Luder…«

»Was ist das, ein Luder?« erkundigte sich Aul interessiert. »Ruhe jetzt! Ich will kein Wort mehr von dir hören! Raus mit dir!« Er wollte auf Aul zueilen, doch maßlose Verblüffung malte sich auf seinem Gesicht, als er sich plötzlich allein im Zimmer befand. Der Sessel, in dem seine Besucherin eben noch gesessen hatte, war leer.
Verstört öffnete der Professor die Tür. Auf dem Korridor war kein Mensch zu sehen, überall tiefe Stille. »Langsam werde ich nun auch verrückt«, murmelte er und blickte verstohlen unter den Schreibtisch. Er setzte sich, eine wachsende Beklemmung lähmte sein Denken.
»Ich heiße Aul und komme von der ›Quil‹. Hast du das jetzt endlich begriffen?« fragte eine Stimme neben ihm.
Langsam wandte Grasmais den Kopf. Neben ihm saß Aul. Er riß sich zusammen. »Nicht schlecht gemacht«, ächzte er, »Spieglungen, du verstehst deinen Beruf…«
»Wie ist mein Name?«
»Meinetwegen Aul. Aber jetzt ist es genug mit deinem faulen Zauber – oder soll ich erst die Pfleger rufen?«
»Woher komme ich?«
»So hören Sie doch endlich mit diesem Unsinn auf«, protestierte Grasmais schwach. »Was wollen Sie eigentlich von mir?«
»Ich sehe, du bist noch immer nicht ganz überzeugt. Dieser Raum hat schöne große Fenster, und draußen ist es kalt. Sieh her, es ist kein Trick…«
Er sah, wie Aul ein winziges Gerät auf die Fenster richtete, hatte nicht mehr die Kraft zu protestieren. Die Scheiben klirrten leise, in das Glas schnitten sich Buchstaben ein. »Was machen Sie?« stöhnte er leise.
»Lies, was dort steht«, befahl Aul.
In der Scheibe, zwanzig Zentimeter groß, waren die Buchstaben R A C H A eingeschnitten. Ein kühler Wind wehte durch die entstandenen Öffnungen. Grasmais blickte scheu auf das Wort. »Ich begreife nichts mehr«, bekannte er.
»Du sollst es vorlesen.«
»Racha«, murmelte er kleinlaut und erinnerte sich nun genau, daß ihn dieser Weyden einmal so genannt hatte.
»Vater nennt die Roboter mitunter so«, erläuterte Aul sachlich. »Kannst du mir jetzt sagen, woher ich komme?«
»Ich glaub’s nicht«, brabbelte der Professor, »ich kann’s einfach nicht glauben… Es wäre… Nein, nein…«
»Dann muß ich einen Beweis erbringen, an den du dein ganzes Leben denken wirst«, erklärte Aul entschieden und entnahm ihrem Plastikbeutel ein anderes Gerät. Sie drehte an den Knöpfen, stellte etwas ein und erläuterte dabei gelassen: »Dies ist eine interferrektive Pulsationskammer, mit der man gewisse Dinge dematerialisieren kann. Ich werde dich jetzt zu einem Zwerg zusammenschrumpfen lassen, auf etwa achtzig Zentimeter. Deine geistigen Fähigkeiten wirst du dabei nicht einbüßen. In einer Minute wirst du etwa so groß sein…« Sie deutete nun ihrerseits seine künftigen Ausmaße an. »Es tut nicht weh…«
Entsetzt sprang Grasmais auf. »Nein, bitte nicht! Ich glaube Ihnen, ich schwör’s, ich glaube Ihnen alles. Sie sind Aul und kommen von der ›Quil‹! Verzeihen Sie, ich konnte nicht ahnen…«
»Wirst du mich jetzt zu ihm bringen?«
Der Chef der Klinik kämpfte einen stummen, verzweifelten Kampf mit der Logik des Naturwissenschaftlers gegen alle menschlichen Erfahrungswerte, gegen Vernunft und Wissen, bewegte sich auf der Grenzlinie von Realität und Transzendenz. Er glaubte nicht an Wunder, und doch stand es für ihn fest, daß seine Gesprächspartnerin über ungewöhnliche Fähigkeiten verfügte. Gab es aber keine Hexen und Zauberer, so ließen sich die hier gesehenen Phänomene nur durch die Anwesenheit eines außerirdischen Wesens erklären. Dies lag um so näher, als sich dadurch auch das unbegreifliche Verhalten seines Patienten aufhellte.
Grasmais war in diesen Minuten viel zu verwirrt, um sich über die Folgen seiner Schlüsse Rechenschaft ablegen zu können. Er wußte nur eines: In seiner Klinik und in diesem Raum geschah etwas Ungewöhnliches, etwas Bedeutendes. Deutete nicht auch die Kleidung des Mädchens auf ein Intermundium hin? Wer lief bei Schnee und minus fünf Grad mit Bastschuhen und ohne Wintermantel herum? Er entsann sich des Briefes, den sein Patient geschrieben hatte. »Frage am besten den unsterblichen Me um Rat…« Ehrfürchtig und mit einem Gefühl der Erleichterung sah der Professor, wie Aul das geheimnisvolle Gerät wieder in ihrem Beutel verstaute. Eilfertig ging er zur Tür. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Fräulein Aul, ich begleite Sie zu Herrn Weyden. Selbstverständlich wird er noch heute als völlig gesund entlassen.«
»Einen Moment noch.«
Grasmais argwöhnte Schlimmes, beteuerte, alles nur in bester Absicht getan zu haben. Ihm war die Kaltwasserbehandlung für Weyden eingefallen.
Aul sagte: »Hans besaß ein wertvolles Sendegerät, aber er hat meine Anfragen unbeantwortet gelassen. Weißt du etwas über den Grund?«
»Ich bedaure außerordentlich«, antwortete der Professor erleichtert, »Patient sprach davon. Ja, ich besinne mich, es sei ihm im Autobus gestohlen worden. Doch ich bin Arzt, für Diebstahl ist auf der Erde die Polizei zuständig. Wenn ich nicht irre, hat Herr Eichstätt auch schon etwas eingeleitet, das heißt, er glaubte wohl nicht… Wenngleich – wer hätte es ahnen können…«
Aul erhob sich. »Ich bin sehr froh, daß es ihm gestohlen wurde«, erklärte sie, »denn zuerst hatte ich geglaubt, er antwortete aus einem anderen Grunde nicht. Bring mich jetzt zu ihm.«
Professor Grasmais vermochte zwar Auls Gedankengängen nicht zu folgen, doch er war zufrieden, sein gespenstisches Arbeitszimmer endlich verlassen zu können. Eilfertig lief er voraus, dachte: Ein Wunder, ein echtes Wunder. Jetzt kann ich den Weyden voll und ganz verstehen. Da habe ich was Schönes angerichtet. Ich muß zufrieden sein, daß sie so friedfertig ist. Es lief ihm kalt den Rücken herunter, als er an ihre Drohung dachte, ihn zusammenschrumpfen zu lassen. Ein entsetzlicher Gedanke, nur noch achtzig Zentimeter groß zu sein – Liliputaner… Er fürchtete fortwährend, Aul könnte es sich noch einmal überlegen und ihn hinter seinem Rücken verkleinern. Ich werde mich bei Weyden in aller Form entschuldigen, überlegte er. Hätte ich nur die Kaltwasserkur nicht verordnet. Hoffentlich ist er nicht nachtragend…
Völlig durchgedreht, stotterte er: »Wissen Sie, Fräulein Aul, ich konnte wirklich nicht ahnen… Als der Patient uns überstellt wurde – nun, wir dachten zuerst an Dementia praecox… Es war schwierig – die Psychologie ist so ein Gebiet, nicht wahr? Man hat auch wenig Zeit, sich weiterzubilden… Vielleicht sollte man doch die Parapsychologie… Ich weiß nicht recht, unsere Zeit birgt so manche Geheimnisse. Der Mond, die Sterne – aber wie gesagt, errare humanum est… Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, es ist ja wohl nicht mit dem Okkultismus vergleichbar…«
»Ich verstehe dich nicht«, sagte Aul. »Ist es noch weit?«
»Nur noch eine Treppe. Ich versichere Ihnen, er hatte es gut bei uns, Einzelzimmer mit Handwaschbecken, der Park vor dem Fenster – wunderbare Aussicht… Auch das Bett – Schaumgummimatratze; gewiß, der Preis, das ist jetzt natürlich alles hinfällig, geht auf meine Rechnung…«
Grasmais verstummte, wurde sich bewußt, daß er dummes Zeug redete. Die Nähe des Sternenmädchens verwirrte ihn. Als sie am Schwesternzimmer vorbeikamen, bat er Aul um einen Augenblick Geduld, öffnete die Tür. Zu seinem Mißfallen waren außer einigen Schwestern auch Oberarzt Hauschild und Dr. Kallweit anwesend. »Schwester Hildegard, machen Sie bitte unverzüglich die Entlassungspapiere für Herrn Weyden fertig!« rief er energisch.
Dr. Kallweit und Oberarzt Hauschild kamen neugierig näher, um Aul in Augenschein zu nehmen. »Entlassung oder Überführung?« erkundigte sich die Schwester.
»Spreche ich so undeutlich?« donnerte Grasmais. »Ich sagte Entlassung! Die Rehabilitation diktiere ich Ihnen später.«
»Sie wollen den Weyden als gesund rausschicken?« erkundigte sich Hauschild verwundert.
»Allerdings, als völlig gesund, meine Herren.«
»Darf ich Sie an den Brief des Patienten erinnern, Herr Professor?« Der Oberarzt war überzeugt, es müsse ein Irrtum vorliegen.
Der Professor zeigte ein wissendes Lächeln. Er fühlte sich jetzt seinen Kollegen gegenüber nicht nur beruflich, sondern auch geistig überlegen. Betont antwortete er: »Verehrter Kollege Hauschild, es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde – nun, Sie wissen, was ich meine. Kommen Sie, Fräulein Aul…« Mit diesen geheimnisvollen Andeutungen ließ er seine Kollegen stehen und führte Aul an das ersehnte Ziel.
Dr. Kallweit und der Oberarzt blickten sich ratlos an. Beide hatten die Vermutung, daß etwas Ungewöhnliches vorgefallen sein mußte.