13

Ich wollte schlafen, doch ich fand keine Ruhe. Mein Kopf schmerzte, der strapazierte Magen produzierte Übermengen Säure. Ich wälzte mich hin und her, ohne die Erquickung des Schlafes zu finden. Was, wenn Me uns wirklich alle drei zurückschickte? Man müßte sie als Handelsvertreter aus Bagdad ausgeben – aber woher die Pässe nehmen? Meine Probleme bewegten mich noch im Halbschlaf. Dann weckten mich näher kommende Schritte. Ich blinzelte müde auf den Vorhang, sah, wie Aul eintrat, und wußte eine Zeitlang nicht, ob die Erscheinung zum Schlaf oder zur Wirklichkeit gehörte.

Aul stellte eine große, durchsichtige Vase auf den Tisch. Dann legte sie einen Beutel daneben und wandte sich mir zu. »Guten Tag, du Weltenbummler«, begrüßte sie mich. »Hat mein Mondmensch endlich ausgeschlafen?«

Ich war noch viel zu müde, um auf ihre Begrüßung zu reagieren. Auch verspürte ich Kopfweh und einen unangenehmen Druck in der Magengegend. Sie hatte sich über mich gebeugt, wollte mich küssen. Als ihr Gesicht schon ganz nahe war, trat sie einen Schritt zurück, blickte mich konsterniert an.

»Du stinkst«, sagte sie empört, »du riechst nach Wein und Zwiebeln. Vater hat dich zum Trinken verleitet. Ich hätte es wissen müssen, man darf ihn nicht einen Tag allein lassen. Und du machst das mit – schäme dich.«

»Noch was?« brummte ich schlaftrunken. »Bist du fertig mit der Moralpredigt? Hast du mit Me gesprochen? Oder hast du nur einem Oberpriester Bericht erstattet?«

»Du sollst nicht immer Vaters Unsinn nachreden. Siehst ganz vergnatzt aus. Hast du viel gegessen und getrunken?«
»Es geht. Ein Huhn, zwei Kilo Bratkartoffeln mit Zwiebeln und Eiern. Dazu zwei bis drei Liter Wein…«
»O unsterblicher Me«, stöhnte Aul. Sie nahm einen kleinen Krug, füllte ihn mit Wasser und goß den Inhalt einer Ampulle hinein. »Trink das«, befahl sie.
»Warum?«
»Es wird dir helfen.«
»Ich will nicht«, sagte ich widerspenstig, »ich fühle mich nicht krank.«
Aul stellte den Krug zurück und ging verärgert an den Tisch. Dort nahm sie etwas Glitzerndes aus dem Beutel und ließ es in die Vase fallen.
»Was für Steine legst du immer in die Vasen?« erkundigte ich mich. »Du hast das schon öfter getan. Ist das Blumendünger?«
»Es sind nur hübsche Steine«, antwortete sie verstimmt, »nichts weiter als Kohlenstoff.«
Das Feuer der Steine riß mich hoch. Kohlenstoff – Diamanten und Rubine! Für die Schöpfer der »Quil« konnte es keine Schwierigkeit sein, solche Edelsteine im Vakuum unter hohem Druck herzustellen. Aul schüttete den Inhalt des Beutels auf den Tisch. Es waren tatsächlich geschliffene Diamanten, einige groß wie Hühnereier. Dazwischen kleine geometrisch geformte Figuren aus mattglänzendem Metall, Pyramiden, Dodekaeder, Würfel aus reinem Gold.
»Ich finde, die Steine verschönern die Blumen«, sagte Aul, als sie meine Faszination bemerkte. »Nachher werden wir auf der Wiese einen schönen Blumenstrauß pflücken.«
Ein eiskalter Wasserstrahl hätte mich nicht schneller wach machen können. Ich wog einige der Goldkörper in der Hand – ein märchenhafter Reichtum lag vor mir. In Gedanken setzte ich das Gramm in Geld um, errechnete phantastische Summen. »Aul, Sternschnuppe, hier liegt ein Vermögen. Wir sind reich, unvorstellbar reich…«
Aul sah mich fragend an, verstand meine Bemerkung nicht. »Ich freue mich, daß du Gefallen an den Steinen findest. Draußen, im Licht, funkeln sie wie Sterne…«
Mit einem Dutzend solcher »Sterne« wären wir auf der Erde von allen finanziellen Sorgen befreit. Was für ein Glück, gerade jetzt auf diesen Schatz gestoßen zu sein. »Aul, woher hast du die Steine und das Feingold?«
»Die Steine und das feine Gold sind von einer Abfallgrube an der Einflugschleuse. Es sind Abfallprodukte. Manchmal nehme ich mir davon. Ein Roboter bearbeitet mir die Steine und das Metall.«
Ich setzte mich auf die Bank. Abfallprodukte! Meine Schmerzen spürte ich nicht mehr. Mir war, als hätte sich ein Traum erfüllt. »Sternschnuppchen, wieviel ist noch dort? Ich möchte am liebsten gleich hingehen und mir den Platz ansehen…«
»Wenn wir die Blumen holen, zeige ich dir den Platz. Es liegen dort einige Zentner Metalle und Steine herum. Früher hat man das Zeugs in den Labors hergestellt. Seitdem die Kleinen auf dem Neptun ganze Gebirge davon festgestellt haben, holen sie es von dort, es geht schneller.«
Mir schwirrte der Kopf. Ich stand auf. Der Tisch zog mich mit magischer Gewalt an. »Das kam zur rechten Zeit, Aul. Jetzt erzähle. Du hast doch mit Me gesprochen?«
Sie nickte. »Vor einigen Stunden erst. Er war sehr freundlich.«
»Und? Wann fliegen wir zurück?«
Aul machte plötzlich ein ernstes Gesicht.
»Was ist? Du hast ihm doch unser Anliegen vorgetragen?«
Sie umarmte mich und sagte traurig: »Wir werden nicht zur Erde zurückkehren, es geht nicht. Du weißt, wie sehr ich mich darauf gefreut habe. Aber wenn Me es sagt…«
Ich löste ihre Arme. »Soll das ein Scherz sein, Aul?«
Bedrückt berichtete sie von ihrem Aufenthalt auf der »Quil«. Natürlich war ihre Unterredung mit Me wieder über Funk erfolgt. Er fühle sich für Aul verantwortlich und könne auf der Erde nicht für ihre Sicherheit bürgen. Es wäre auch für mich besser, wenn ich hier bleiben würde. Soweit der weise, unfehlbare und unsterbliche Me. Für Aul Grund genug, zu allem ja zu sagen.
Das Gold und die funkelnden Steine waren mit einem Male nicht mehr wert als Eisen oder Pflastersteine. Ich spürte wieder die Kopfschmerzen und hatte den heftigen Wunsch, meinen aufkommenden Zorn abzureagieren. »Er hat dir also verboten, in deine Heimat zurückzukehren«, sagte ich beherrscht. »Gut, das ist deine Sache, damit mußt du fertig werden. Was aber ist mit mir? Woher nimmt er das Recht, mich hierherzuschleppen und einzusperren? Warum darf ich nicht zurück, wenn ich es wünsche?«
»Willst du denn fort von mir?« fragte sie bestürzt.
»Was heißt von dir? Darum geht es nicht. Glaubst du, ich will auf diesem faden Mond versauern? Du gibst dich mit seinen Argumenten zufrieden, erschauerst vor Ehrfurcht, wenn du nur seine Stimme hörst. Damit Klarheit herrscht: Mir imponiert dieser Herr nicht. Was glaubt er, wer er ist? Er fängt uns von der Erde weg, als wären wir interessante zoologische Erscheinungen. Aber ich bin ein Mensch, ein Homo sapiens, und keine Eidechse und auch kein unterentwickeltes Säugetier. Für so etwas scheint er uns wohl zu halten, denn dieser ausgehöhlte Trabant ist doch nichts weiter als eine Art Terrarium. Alles bestens eingerichtet, Klimaanlage, Gras, Mäuse, Sträucher, Hühner, Kartoffeln und ein paar Spielereien gegen die Langeweile. Was die Tierchen eben zum Leben brauchen. Wie im zoologischen Garten. Vielleicht schreibt er ein Buch über uns: Menschen in freier Wildbahn, Beobachtungen in der Weltraumprovinz… Ein Großwildjäger aus einer Überzivilisation…«
Aul legte den Finger an die Lippen. »Bitte nicht«, flüsterte sie, »hier sind überall Abhöranlagen und Videophone. Er kann alles sehen und jedes Wort hören…«
Diese Neuigkeit brachte mich in Rage. »Das ist ja ausgezeichnet!« rief ich absichtlich laut. »Bis jetzt hatte ich noch keine Gelegenheit, mit diesem Halbgott zu reden. Er ignoriert mich vom ersten Tage an. Soll er endlich erfahren, wie ich über ihn denke. Was dein Me getan hat, nennt man auf der Erde Menschenraub, Kidnapping. Das wird mit Zuchthaus bestraft. Ein Räuber, ein Weltraumpirat ist dein vergötterter Me. Wer weiß, was er alles im Schilde führt. Vielleicht ist er auch nur ein verrückt gewordener Wissenschaftler, der mit uns experimentiert wie mit weißen Mäusen. Alles wäre denkbar, er verfügt ja über unbegrenzte technische Möglichkeiten und damit über Macht. Laß dir von deinem Vater erzählen, wie sich Macht auswirkt, wenn man sie mißbraucht. Er kennt die glorreichen Kriege und Massaker seiner Zeit. Auch Me scheint sich in der Rolle des Allmächtigen zu gefallen. Findest du es nicht merkwürdig, daß er sich vor uns versteckt? Keiner hat diesen Herrn je gesehen. Dazu kommt das Ammenmärchen von seiner angeblich tödlichen Verbrennung bei den ›Weißen Zwergen‹. Und du fällst auf den alten Trick herein, den bei uns bereits die Medizinmänner der Wilden beherrschten. So schafft man sich einen mystischen Glorienschein und willige Sklaven. Vielleicht wartet er nur auf eine günstige Gelegenheit, die ganze Erde auszulöschen, sie zu verdampfen, wie ihr es nennt. Er könnte auch die Erdatmosphäre beeinflussen, um die Menschheit in gefügige, ferngesteuerte Kreaturen zu verwandeln. Wie rührend, daß er sich für dich verantwortlich fühlt. Das ist ganz natürlich. Aul, Versuchstiere behandelt man pfleglich.«
Je mehr ich redete, desto mehr steigerte ich mich in eine Ekstase, die mich jedes Maß an Vorsicht und Takt vergessen ließ. Die Aussicht, für immer auf dem sechsten Jupitermond bleiben zu müssen, erschien mir wie eine Todeserklärung, verbunden mit einer Beerdigung.
Allein meine Enttäuschung war nicht die einzige Ursache meiner Erregung. Ich fühlte mich krank. Zu den rasenden Kopfschmerzen kamen noch heftige Krämpfe in der Magengegend. Aul hatte mit ihrer Warnung recht behalten, ich hätte mich langsam an feste Nahrung gewöhnen müssen. Meine schlechte körperliche Verfassung steigerte meine Gereiztheit. Ich brauchte einen Schuldigen, den ich anklagen konnte; was lag näher, als meinen Zorn auf den unsichtbaren Übermenschen Me zu richten? Er hatte mich schließlich in diese Situation gebracht.
Die Kleine hatte mich in einer solchen Verfassung noch nicht kennengelernt. Sie saß auf der Bank, auf ihrem bleichen Gesicht lag ein Ausdruck von Furcht und Entsetzen. Es rührte mich nicht – im Gegenteil, endlich konnte ich ihr zeigen, daß ich mich nicht willenlos mit allem abfand. Ich war meiner Rolle als gezwungener Liebhaber längst überdrüssig. Wütend fuhr ich fort: »Kein Ziel kann so erhaben, so groß sein, daß es unlautere Mittel zu seiner Verwirklichung rechtfertigt – daran habe ich einmal geglaubt. Jetzt sehe ich, was für ein Idiot ich war. Ich war überzeugt, daß sich mit einer höheren Zivilisation auch eine tiefere, größere Humanität verbinden müsse. Hier wurde ich eines Besseren belehrt.
Aus dem Triangel-Nebel kommt dein verehrter Me? Wann war er eigentlich das letzte Mal zu Hause? Wahrscheinlich existiert sein Heimatplanet gar nicht mehr. Er streift mit seinem Superraumschiff durchs Weltall, heute hier, morgen dort – eine Art Weltraumzigeuner. Ist dir der Widerspruch in seinem Denken und Handeln nicht aufgefallen? Was soll der Unsinn, er könne sich angeblich nicht für deine Sicherheit verbürgen, wenn du auf der Erde lebtest? Was ist auf der Erde unsicher? Milliarden Menschen leben dort, dumme und gescheite, einerlei, mit diesem Mond würde keiner tauschen wollen. Aber vielleicht hat dein weiser Me etwas entdeckt? Ich bin überzeugt, daß er das Leben auf der Erde beobachten kann. Ist wieder einmal irgendwo ein Krieg ausgebrochen? Möglich wäre es. Machthunger – diesen Trieb gab es nicht nur zu Zeiten deines Vaters. Er ist noch heute auf der Erde verbreitet. Ist das ein stichhaltiger Grund, dich nicht zurückzulassen? Kannst du das glauben?
Du weißt es selbst, Aul, die Menschen haben das Reich der vollkommenen Gerechtigkeit und des ewigen Friedens noch nicht errichtet. Aus tiefster Überzeugung sage ich dir: So dornenvoll der Weg zu diesem Ziel auch sein mag, es wird keine Utopie bleiben. Darum will ich kein Refugium außerhalb der Erde. Begreife doch, Mädchen, die Sterilität des sechsten Mondes ist ein lebendig Begrabensein. Kein Säugetier könnte sich auf die Dauer hier einleben. In einem hat dein Me allerdings recht. Auf der Erde muß man sich das Leben jeden Tag neu verdienen; Hölle und Himmel sind dicht beieinander. Stinkender Aussatz und Träume bis zu den Sternen werden auf ihr geboren. Aber glaubt euer geheimnisvoller Kommandant der ›Quil‹, wir würden jammern und klagen und verzweifeln, weil noch nicht alles so geworden ist, wie es die Besten erträumten und verkündeten? Einmal wird es anders werden, es bricht die Zeit an, da menschlicher Geist nicht mehr für die Zerstörung denkt und arbeitet… Sternschnuppe, ich will zurück, um jeden Preis. In jedem von uns sind Tränen und Verzweiflung und die Träume und Hoffnungen vergangener Generationen. Dein Me soll wissen: Die Menschen werden einst wie er zu den Sternen fliegen. Und jetzt spreche ich wie ein Prophet: Wir werden dann nicht zusehen, wenn faschistoide Horden das Leben eines ganzen Planeten bedrohen. Wir werden uns nicht hinter einem Planeten verstecken, sondern den Besten unsere Macht und unser Wissen leihen…«
Ich setzte mich erschöpft neben Aul. Trotz der immer heftiger werdenden Schmerzen nahm ich ihre Hand und sagte leise und eindringlich: »Aul, Kleines, du gehörst doch zu uns. Auf der Erde hast du die ersten Worte gestammelt, auf ihr hast du den Himmel und die Sterne gesehen. Vergiß, was man dir hier eingetrichtert hat. Ein Roboter mag das auf die Dauer ertragen, aber du hast Empfindungen und Sehnsüchte. Ich habe einen einfachen Plan: In der Einflugschleuse steht der Transporter. Die Roboter werden dir gehorchen. Wir beladen den Transporter mit den Steinen und Metallen und fliegen zurück. Deinen Vater nehmen wir mit. Sind wir erst einmal gelandet, wird uns diese triste Welt nicht mehr wiedersehen. Alles stünde uns auf der Erde offen…«
Aul hatte ihr Gesicht in beide Hände vergraben, gab keine Antwort. »So sag doch was, Mädchen. Ein Wort von dir, und wir sind frei.«
Sie hob den Kopf, sah mich mit tränenverschleierten Augen an. Ihre Lippen blieben geschlossen.
Ich zog sie an mich. »Ich habe dich nicht kränken wollen, Aul. Bitte, weine nicht mehr. Sage mir, worin ich unrecht habe. Ich kann auf die Dauer hier nicht existieren. Außerdem vertrage ich das Essen nicht. Mein Leib bläht sich auf wie ein Luftballon…«
In meinem Bauch tobte ein Bürgerkrieg, die Leibschmerzen wurden unerträglich, zugleich verspürte ich eine zunehmende Schwäche. Meine Stirn war feucht. Ich stand auf, wankte kraftlos zum Bett. »Mir ist nicht gut, Aul, ich glaube, ich bin krank. Auf der Erde könnte ich jetzt eine Tablette schlucken oder Magentropfen einnehmen«, stöhnte ich. »Was ist nur los mit mir? Ich habe Bratkartoffeln sonst immer gut vertragen, und drei Krüge Wein haben mich auch nicht umwerfen können…« Bleich und verstört beugte sich Aul über mich. Ihre Hand strich über meine Stirn. Dann rief sie ein paar unverständliche Worte, holte den Krug und setzte ihn mir an die Lippen. »Trinke etwas«, forderte sie mich auf.
Widerwillig trank ich etwas davon. »Ich gehe ein«, murmelte ich, »ich habe Fieber.« Meine Zähne schlugen aufeinander, meine Stirn war feucht. »Mit mir hat dein Me Pech. Wahrscheinlich habe ich Krebs oder Magengeschwüre. Vielleicht auch eine unbekannte Krankheit, auszehrende Mondsucht oder so was…« Ich unterstrich meine Krankheitsbilder durch grimmige Flüche. »Wären wir jetzt zu Hause, könntest du einen Doktor holen. Mist, verdammter, da bezahlt man das ganze Jahr Sozialversicherung, und wenn man dann mal krank wird, hockt man auf diesem Scheißmond…«
Ein Fieberschauer schüttelte mich. Aul war hinausgelaufen. Etwas später kam sie mit sechs Glasköpfen zurück, die eine Tragbahre bei sich hatten. Ich wurde aus dem Bett gehoben und auf die Bahre gelegt. Meinen schwachen Protest nahm niemand zur Kenntnis. »Jetzt bringst du mich wohl zu seinen Leibärzten?« versuchte ich zu scherzen.
»Ja«, sagte sie ernst.

Ich kannte mich aus in irdischen Operationssälen. Ein vereiterter Blinddarm, einige Schnittwunden und andere Verletzungen hatten mich mehrfach den Messern der Chirurgen ausgeliefert. Nun befand ich mich erneut in einem Raum, der wohl eine ähnliche Funktion besaß, obwohl er nicht im entferntesten einem Operationssaal glich. Auls Getränk hatte mich von den Schmerzen befreit, aber ich fühlte mich matt und folgte den sonderbaren Vorgängen um mich nur mit geteilter Aufmerksamkeit.

Zuerst hatte es mich geniert, als mich die Glasköpfe in Auls Gegenwart entkleideten. Dann geschah jedoch etwas, was mich in höchstem Maße verwirrte und zugleich beeindruckte. Sie hoben mich hoch und legten mich vorsichtig in die Mitte des Raumes. Nicht auf den Boden und auch nicht auf einen Tisch, sondern einfach in die Mitte des Raumes. Ich lag ausgestreckt auf nichts, war, wie die schwebende Jungfrau im Variete, schwerelos.

Aul hatte mir später das Phänomen zu erklären versucht, doch ihre Zahlen und Symbole blieben für mich noch geheimnisvoller als meine unsichtbare Stütze. Um es in einem Satz zu sagen: Ich lag auf irgendwelchen Kraftfeldern, die auf wenigen Quadratmetern die Schwerkraft des sechsten Mondes aufhoben.

Neben mir saß Aul auf einem einfachen Hocker, ernst und sorgenvoll. Rechts von mir standen sechs Roboter in rosafarbenen Trikots, an meiner linken Seite standen ebenso viele in leuchtendroten Trikots. Sie palaverten leise miteinander. Was besprochen wurde, übersetzte mir Aul nicht. Über mir befanden sich mehrere kleine Lampen und eine glatte, dunkle Fläche, geheimnisvoll wie alles in dem Trabanten. Ich erkundigte mich nach der Bedeutung dieser Vorrichtung, doch Aul legte nur den Finger an die Lippen und machte »Pssst«. Aufmerksam lauschte sie dem Disput der gelehrten Glasköpfe.

Mir gefiel meine Rolle als Patient nicht, zumal ich keine Schmerzen mehr verspürte. Mich störte vor allem das geheimnisvolle Tuscheln. Vergeblich bat ich Aul um eine Übersetzung. Sie blieb schweigsam, als hätte sie den Eid des Hippokrates geleistet. Waren am Ende meine abenteuerlichen Fluchtpläne und Anklagereden daran schuld? Obwohl Aul neben mir saß, hatte ich das Empfinden, meilenweit von ihr entfernt zu sein. Ich richtete mich ein wenig auf. »Ich bin kein Kind, Aul, dürfte ich jetzt endlich erfahren, worüber debattiert wird? Ich habe es nicht gern, wenn man in einer fremden Sprache über mich redet…«

Sie drückte mich sanft zurück. »Man untersucht dich. Es wurde C2H5OH in deinem Blut festgestellt. Das kommt vom Wein…«

Na und, dachte ich, was geht das die Glasköpfe an? Ich bin ein freier Mensch, habe meinen eigenen Willen… Wahrscheinlich habe ich nichts weiter als einen Kater. Me sollte Rollmöpse und saure Heringe herschaffen lassen…

Die Debatte wurde immer heftiger geführt. Es hörte sich an, als stritten sie. Dann wurde es mit einem Male still. Der Sprecher der Rosafarbenen ergriff das Wort. Es hörte sich an wie das Röcheln einer sterbenden Krähe. Kaum hatte er geendet, als wieder lautstarkes Palaver einsetzte. Dann ergriff der Wortführer der Roten das Wort. Er piepste wie eine erschrockene Maus. Als er schwieg, folgte erneut ein hitziges Redegefecht. Alle zwölf beteiligten sich daran.

Mir riß die Geduld. »Zum Teufel«, schrie ich wütend, »euer Gequassel geht mir auf die Nerven! Das ist rücksichtslos. Ich will jetzt endlich wissen, worüber gesprochen wird. Schaff mich weg, Aul, oder befiehl ihnen zu verschwinden.« Ich versuchte aufzustehen, es war unmöglich. Das Kraftfeld hielt mich weich und fest in seinem Bett.

»Pssst«, machte Aul wieder. Es mußte wohl sehr spannend sein, was sie sich gegenseitig zuriefen. Deutlich war zu sehen und auch zu hören, daß sich die beiden Gruppen uneinig waren. Ihre Stimmen wurden immer lauter und hektischer, ihre Gesten waren drohend. Einige hatten bereits leichtgerötete Glasköpfe.

Endlich wurde auch Aul des Gezeters überdrüssig. Sie gebot ihnen zu schweigen. Augenblicklich trat Ruhe ein. Sie wandte sich an mich: »Es ist zu einem wissenschaftlichen Streit gekommen, den nur du klären kannst. Bei der Durchleuchtung deines Körpers wurden in deiner Gallenblase drei weiße geschliffene Steine festgestellt. Sie waren die Ursache deiner Schmerzen und wohl auch deiner Erregung.

Nun vertritt die Gruppe der Empiriker in den roten Trikots die Auffassung, daß sich diese Steine durch falsche Ernährung gebildet haben, folglich Fremdkörper darstellen, die entfernt werden müssen. Dagegen vertreten die Scholastiker in den rosafarbenen Trikots die Ansicht, daß sich die Menschen solche Steine künstlich einsetzen, aus Eitelkeit, um den Körper auch von innen zu verschönern. Kannst du darüber Aufklärung geben?«

Es wurde so still, daß ich mein Herz klopfen hörte. Wäre ich nicht selbst der Patient gewesen, hätte ich über die kuriose Theorie der Rosafarbenen herzlich gelacht. Gallensteine als Schmuck – schon vor Jahren hatte ich nach dem Genuß von Hülsenfrüchten solche Schmerzen gehabt. Kein Zweifel, die Steine mußten die Ursache sein. Die schreckliche Drohung einer bevorstehenden Operation trieb mir den Angstschweiß auf die Stirn. »Fremdkörper entfernen« – als wenn es sich um einen Holzsplitter im Finger handelte »Weißt du es nicht?« erkundigte sich Aul. »Hast du wieder Schmerzen?«
Der Gedanke, sie könnten mir den Bauch aufschneiden und mich womöglich zwingen, eine Sonde zu schlucken, um den Gallensaft zu untersuchen, ließ mich schaudern. Ich war entschlossen, keinen Eingriff zu dulden, richtete mich aus meinem Nichts ein wenig auf und sagte unwirsch: »Sag den Roten, daß sie recht haben. Die Menschen sind zwar eitel, aber doch nicht so blöd, daß sie sich auch noch von innen schmücken. Nicht einmal eine Auster täte so etwas freiwillig, obwohl ihre Perle viel wertvoller ist als meine Steine, die nur aus Kalk oder Cholesterin bestehen. Sage ihnen auch, daß ich die Steine behalten will, meinetwegen aus Eitelkeit. Es soll sich niemand unterfangen, mir mit einem Skalpell oder einem Schlauch zu nahe zu kommen…«
Aul stutzte bei meinen letzten Worten, sah mich einen Moment verwundert an. Dann übersetzte sie meine Erklärung. Bei den Gelehrten im roten Trikot löste meine Klarstellung beifälliges Gemurmel aus, während die Rosafarbenen stumm und ergeben mit ihren Glasköpfen nickten. Wenig später palaverten sie wieder gemeinsam.
»Sie werden die Steine jetzt zerstören«, sagte Aul.
»Niemals!« schrie ich. »Ich kratze und beiße, wenn sie mir zu nahe kommen. Sie sollen verschwinden, sag es ihnen. Ich lasse mir nicht den Bauch aufschneiden!«
»Niemand will dir den Bauch aufschneiden. Ich begreife deine Logik nicht. Die Steine sind die Ursache deiner Schmerzen. Folglich muß man die Ursache beseitigen.«
»Laßt mich in Ruhe«, stöhnte ich, »ich verlange, daß man meinen Willen respektiert. Ich bin ein freier Mensch…«
»Wenn du so denkst, bist du nicht frei, sondern Gefangener deiner Angst«, wurde ich belehrt. »Freiheit gründet sich auf Vernunft und bewußt erkannte Einsicht in die Notwendigkeit.«
Das habe ich schon irgendwo einmal gelesen, dachte ich und beobachtete die Glasköpfe. Keiner von ihnen hatte eine Spritze oder ein Skalpell, im Gegenteil, es sah fast aus, als hätten sie jegliches Interesse an mir verloren. Alle zwölf waren an eine Wand getreten und umringten dort etwas, was ich nicht sehen konnte. »Gehen wir, Aul…« Ich bemühte mich vergeblich, aus dieser Schwebelage herauszukommen, und Aul dachte nicht daran, mir zu helfen.
»Bitte, verhalte dich wenigstens eine Minute ruhig«, mahnte sie vorwurfsvoll, »es ist gleich vorüber.«
»Was ist gleich vorüber?«
Sie antwortete nicht. Mir trat erneut der Angstschweiß auf die Stirn. Sie werden dich mit irgendwelchen Strahlen einschläfern, dachte ich. Natürlich, sie brauchen kein Skalpell, sie schneiden mit Laser… Aul lächelte mir aufmunternd zu. Ihr freundliches Gesicht ließ mich für einen Moment meine Sorgen vergessen. Ich hatte sie wohl mit meinen Fluchtplänen verletzt. Einen Transporter entwenden, das lag außerhalb ihres Vorstellungsvermögens. »Sternschnuppe«, flüsterte ich, »bitte bringe mich jetzt zurück, hilf mir, hier herunterzukommen. Ich möchte mit dir noch einmal über alles reden. Glaube mir, es lag nicht in meiner Absicht, dich zu kränken.«
»Ich weiß es«, erwiderte sie, und etwas später: »Jetzt ist alles in Ordnung, wir können gehen.«
»Was ist in Ordnung?«
Sie half mir herunter. Ich war etwas wacklig auf den Beinen. »Was ist in Ordnung?« wiederholte ich meine Frage. »Warum haben die Glasköpfe ihren Plan aufgegeben?«
Aul deutete auf die Lampen unter der Decke. »Du wurdest bereits operiert. Sie haben die Steine zerstrahlt oder, wenn es dir besser gefällt, verdampft. Jetzt brauchst du Entspannung und Ruhe.« Sie half mir, das Trikot anzuziehen.
An Ungewöhnliches gewöhnt, tastete ich über meinen Bauch. Keine Naht, keinen Druck, keine Schmerzen. Respektvoll beobachtete ich die gelehrten Glasköpfe, die nun im Gänsemarsch den Raum verließen.
»Wie fühlst du dich?« fragte Aul besorgt.
»Danke, Schwester«, scherzte ich, »wie im siebten Himmel. Schade, daß ich von dieser Operationsmethode niemandem erzählen kann.« Ich bat sie um eine Energietablette.
»Später«, sagte sie.
Versöhnend legte ich ihr den Arm um die Taille. »Ich bin ein großer Esel, Aul. Ich halte das schönste Mädchen des Weltalls in den Armen und habe dich so gekränkt. Vergiß, was ich gesagt habe.«
Um ihren Mund huschte ein schwaches Lächeln. Als ich sie küßte, wurde alles, was mich eben noch bewegt hatte, bedeutungslos.