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Eigentlich erging es mir ähnlich wie Auls Vater. Je nach Stimmung neigte ich mal zur Versöhnung mit meiner Umgebung, fand ich mich mit dem Unabänderlichen ab, oder es kam das Heimweh durch, die Sehnsucht nach tausend Gewohnheiten, nach Kleinigkeiten im Grunde, etwa nach Musik, einem bestimmten Essen, einem Buch oder einem Schaufensterbummel.

Schlimmer war der Gedanke an die Lebenden, die ich zurückgelassen hatte, meine Frau, die Freunde und Verwandten. In solchen Augenblicken verwünschte ich die »Quil« samt ihren Schöpfern.

Ich hatte noch einmal mit Aul über mein Anliegen gesprochen. Nicht sehr ausführlich. Für sie war es ein undiskutables Ansinnen, den Mond ohne Wissen und Zustimmung des Me zu verlassen. Sosehr sie auch meinen Wunsch teilte, erfüllen konnte ihn nur der Kommandant. In ihrem Leben gab es keine Lüge und keine unredliche Handlung. Sie versprach mir, noch einmal mit Me zu reden. Er sollte sich über meine Zukunft äußern. Ich machte mir keine großen Hoffnungen.

Mein Tagesablauf verlief von nun an mit minutiöser Genauigkeit. Ich entwarf Skizzen, zeichnete Aul, den Vater und Fritzchen, hielt die Erde und die Sternbilder fest und bannte, wenn es die Stellung des Mondes erlaubte, sogar die »Quil« und den Jupiter in Farbe auf die Folien.

Am Nachmittag vervollkommnete ich mich in der Töpferkunst. Ich hatte eine Verbesserung eingeführt. Wir holten uns von der »Abfallhalde« an der Einflugschleuse Gold und Edelsteine, ließen das Metall nach unseren Angaben von den Handwerkern formen und drückten dann das Material zu kunstvollen Reliefbildern in die noch nicht gebrannten Krüge oder Vasen. So entstanden Kunstwerke von unabschätzbarem Wert. Bald hatten wir so viele Töpfe und Vasen hergestellt, daß wir eine Kleinstadt damit hätten versorgen können. Dennoch schufteten wir weiter.

Abends, wenn der Vater schlafen gegangen war, unternahmen Aul und ich Spaziergänge. Doch ich kannte nun schon beinahe jeden Winkel in diesem Mond. Daher kam trotz meines geordneten Tagesablaufs Langeweile auf. Die monotone Wiederholung des vorangegangenen Tages drückte mehr und mehr auf meine Stimmung.

Eines Tages weigerte ich mich, weiter Töpfe zu drehen. »Ich mag nicht mehr«, sagte ich mißgelaunt. »Wozu arbeiten wir, für wen? Wir haben Kunstwerke geschaffen – wer bewundert sie oder erfreut sich daran? Wer benutzt unsere Vasen? Was wir tun, ist sinnlos, Vater…«

»Ich erfreue mich daran«, sagte er, »es erfüllt mich mit Genugtuung, all diese Herrlichkeiten und Reichtümer zu besitzen.«

»Natürlich«, höhnte ich, »dein ganzes Leben war Selbstzweck. Ich und immer wieder ich… Jetzt erst habe ich begriffen, daß der Mensch für etwas leben muß, daß er untrennbar mit der Gemeinschaft verbunden ist – sonst ist er schon zu Lebzeiten ein Leichnam. Ich kann keine Krüge und Vasen mehr sehen. Sollen sie die Roboter ins Universum schießen – vielleicht werden sie dort einmal entdeckt.«

»Ich kenne deine plebejischen Ansichten, mein Sohn, darum werde ich mit dir nicht streiten. Ich jedenfalls habe in all diesen Jahren meine Tage sinnvoll verbracht. Mir ist die Arbeit nie abgerissen. Ich grabe, jäte, dünge meinen Acker und übe mich in der schöpferischen Gestaltung. Auch wissenschaftlich lerne ich dazu. Ich studiere zum Beispiel die Natur, beobachte die Tiere und bin gut zu ihnen. Es herrscht Vertrauen zwischen uns. Baffra, das kleinste unter meinen Hühnern, legt mir beispielsweise die Eier in die Hand. Im Garten bewundere ich den Staat der Ameisen. In ihm herrscht die vollkommenste Ordnung. Die Tierchen treiben Ackerbau, sie sammeln Vorräte, trocknen Samenkörner, legen Straßen an, vermehren sich – ein idealer Staat. Sogar Vornehme und Geringe findest du unter ihnen…«

»Beinahe ein Spiegelbild deiner eigenen Gesellschaft«, antwortete ich erbittert. »Vornehme und Geringe, Herren und Sklaven. Damit du es weißt: Ich pfeife auf deine Schum-ischiukini oder wie sie heißen mögen…« Ich konnte sein Gerede nicht mehr ertragen, lief hinaus.

Er schrie mir nach: »Du verwechselst Schamasch-schumukin, Bruder des Assurbanipal, mit dessem Sohn Sin-scharischkun…«

Hol dich der Gott der Hölle, dachte ich und suchte Aul. Sie schlief. Auch der Dackel lag faul auf dem Rasen. Selbst in ihm schien eine Aversion gegen die Umwelt erwacht zu sein. Er wurde von Tag zu Tag fetter.

Als Aul aus ihrem Dauerschlaf erwachte, sprach ich mit ihr über meinen desolaten Zustand. Sie verstand mich, wollte Me bitten, mich umzuprogrammieren. Mit seiner Zustimmung hätten wir auch einen Transporter für Ausflüge zu anderen Jupitermonden benutzen dürfen. Doch Aul bemühte sich vergeblich um eine Verbindung. Der Chef hüllte sich in Schweigen. Ich sagte: »Die Verbindung zu deinem Me ist mehr als kläglich. Seit Wochen bemühst du dich um ein Gespräch. Wenn man auf der Erde von einem Kontinent zum anderen telefonieren will, ist die Verbindung in wenigen Minuten hergestellt.«

»Und wie lange dauert es, wenn ihr mit jemandem in Jupiternähe sprechen wolltet?« fragte sie.
Ich gab es auf, Kritik zu üben.

Früher, wenn ich überarbeitet war, hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als einmal unbegrenzt zu faulenzen. Das Nichtstun und Zu-nichts-verpflichtet-Sein erschien mir so begehrenswert, daß ich sogar meinen Kater um sein faules Dasein beneidete. Nun hatte ich Gelegenheit, in vollkommener Faulheit mein Leben zu verbringen, und mußte erfahren, daß die Langeweile wie eine schmerzhafte Krankheit in mir fraß. Ich war nervös und empfindlich wie eine Mimose geworden, entwickelte unausführbare Fluchtpläne. Manchmal dachte ich sogar daran, Waldis verhängnisvollen Ungehorsam im Kontrollzentrum zu wiederholen und die triste Mondwelt aus ihrer Umlaufbahn zu bringen.

Seit dem Streit mit Auls Vater ging ich dem Alten aus dem Wege, und auch er mied meine Gesellschaft. Aul entging meine gereizte Stimmung nicht, sie versuchte zu vermitteln, aber ich hatte keine Lust, mich von dem Alten belehren zu lassen, und er zeigte sich nicht weniger störrisch. Es war bemerkenswert, mit welchem Eifer er in der Töpferwerkstatt schuftete. Immer wieder mußten Roboter neuen Ton herbeischaffen. Der Alte tat, als gälte es, Exportaufträge für alle Planeten der Milchstraße zu erfüllen.

Um mich zu zerstreuen, erfand Aul eines Tages ein amüsantes Spiel. Sie führte mich in einen gewölbeartigen Raum, nahe dem Energiezentrum. Er befand sich dicht unter der Oberfläche des Mondes. Eine Glaswand gab die Sicht zur Außenwelt frei. Ich muß erwähnen, daß der sechste Jupitermond eine sogenannte gebundene Rotation besitzt, eine Erscheinung, die den Astronomen auf der Erde noch unbekannt ist. Bekanntlich hat auch unser Erdmond diese Eigenschaft, daher sehen wir immer nur die eine Seite seiner zerklüfteten Oberfläche.

Wir sahen also immer den Jupiter vor uns. In diesem Raum befand sich eine Katapultieranlage, mit der wissenschaftliches Gerät auf den Jupiter geschossen wurde. Der Vorgang ließ sich auf einem Bildschirm beobachten. Aul hatte nun den Einfall, mich durch eine vergnügliche Spielerei auf andere Gedanken zu bringen, indem sie damit begann, Steine, Metalle, sogar ungeschliffene Diamanten in die Jupiteratmosphäre zu katapultieren. Der Effekt war amüsant. Sobald nämlich die Geschosse in die Atmosphäre eindrangen, hinterließen sie leuchtende farbige Spuren, Sternschnuppen nach Maß. Meine Langeweile war vorübergehend gebannt. Wir schlossen Wetten ab, wer die schönsten und am längsten leuchtenden Sternschnuppen hervorrufen würde, bombardierten den Jupiter mit allem, was uns gerade in die Hände fiel. Ich ließ sogar einige Tonvasen und den Glaskopf eines ausrangierten Roboters in der Jupiteratmosphäre verglühen.

Eine Woche lang fesselte mich das kosmische Feuerwerk, dann erlosch mein Interesse.
»Ich weiß, du meinst es gut mit mir, Aul«, sagte ich, »aber auf die Dauer wird die Spielerei selbst für einen zurückgebliebenen Erdbewohner nervtötend.«
Aul gab mir recht, aber sie hatte schon wieder einen neuen Plan. Ich sollte mich bilden, meinte sie und war bereit, mir einige Grundlagen der Elementarmathematik beizubringen. Obwohl ich schon bei dem Wort »Elementarmathematik« eine Gänsehaut bekam, stimmte ich zunächst zu. Sie begann auch unverzüglich mit dem Unterricht, erläuterte mir die einfachen Gesetze der aperiodischen Pulsation, die sich aus Plus und Minus mit irgendwelchen Kubikwurzeln aus Delta ergäben, sprach von Axiomen und Kontraktionen und anderen Dingen. Was Aul als einfache Gesetze bezeichnete, hörte sich für mich wie die Sprache eines unbekannten Völkerstammes an. Freimütig gestehe ich, nie ein guter Schüler gewesen zu sein; vor diesem Kauderwelsch kapitulierte ich.
Dafür hatte mich ihre mathematische Exkursion zu einer ausgefallenen Idee angeregt, von der ich mir wirklich Abwechslung versprach. Ich ließ mir durch die Handwerker Goldstücke prägen, Münzen von unterschiedlichem Wert und verschiedener Größe. Dann schnitt ich zweiunddreißig Karten aus den Folien, bemalte sie mit den Symbolen eines Kartenspiels. Aul war von meinem Vorhaben nicht sonderlich begeistert, sie wäre lieber mit mir allein gewesen. Doch zum Skatspielen benötigte man nun einmal drei Mitspieler. Da ich den Alten nicht ansprechen wollte, machte ich nur Aul und Fritzchen mit den Regeln dieses Spiels vertraut. Sie begriffen es in wenigen Minuten und waren mir in kurzer Zeit überlegen.
Bald danach schaute uns der Alte über die Schultern. Aul bemühte sich, unterstützt von Fritzchen, ihm die Spielregeln zu erklären. Es war eine Tortur, denn sie mußten ihm erst das kleine Einmaleins beibringen. Als er endlich dahintergekommen war, wollte er mitspielen. Er hatte sich vorsorglich einige Kilogramm Münzen prägen lassen. Aul trat ihm ihren Platz ab, half ihm bei den ersten Spielen.
Ich konnte nicht ahnen, was für ein Laster ich auf dem sechsten Mond eingeführt hatte. Wir spielten mit Kontra und Re, mit Zibbe und Bock. Zwar warf der Alte einige Male die Karten hin, wenn er verlor – und das geschah anfangs häufiger –, aber sein Zorn hielt nicht lange vor. Er wurde immer besessener, hätte am liebsten noch in der Nacht weitergespielt. Allmählich spielte er mit raffinierter Bauernschläue, mauerte und mogelte sogar. Das neue Spielchen gegen die nervtötende Langeweile hatte den Frieden zwischen uns wiederhergestellt. Die beiden kannten nun nicht nur das Spiel und seine Regeln, sondern beherrschten auch alle dazu gehörenden Redewendungen und Fachausdrücke. Ging es nur um das Spiel, benötigte der Alte keinen Dolmetscher mehr. Doch mit seinem etwas manipulierten Glück – er verstand es sehr geschickt, sich die Buben und Asse einzumischen – fand er auch zu seiner Geschwätzigkeit zurück. Einmal, als ich ihm »Achtzehn« geboten hatte, blickte er abwesend vor sich hin und meinte dann tiefsinnig: »Weißt du, mein Sohn, ich habe lange über unser Gespräch von neulich nachgedacht. Du sprachst von der Entwicklung auf der Erde. Gut und schön, Panta rhei, alles entwickelt sich weiter. Mein Täubchen hat mir auch einiges erklärt. Also einmal war der Mensch ein Nichts, krabbelte noch in anderer Gestalt im Ozean herum. Ich glaub’ es zwar nicht, aber soll es so gewesen sein. Bei allen Göttern, wohin entwickelt sich der Mensch? Wohin soll das führen?«
»Hast du achtzehn, Vater?«
»Achtzehn.«
»Zwanzig?«
»Zwanzig.«
»Zwo…«
»Es ist schon erstaunlich, über welche Kenntnisse dieser Me verfügt. Aber ist er ein Mensch? Ich denke, darin sind wir uns einig, ein Mensch kann er nicht sein…«
»Zweiundzwanzig sind geboten, Vater.«
»Ich will dich nicht reinlegen mit deinem lächerlichen Pikspiel. Ich halte die Zweiundzwanzig.«
Ich paßte. Fritz bot weiter. Bei sechsunddreißig fing der Alte wieder an. »Ich frage mich, was treibt den Menschen zu immer neuer Forschung? Hat er es nötig?«
»Neugier ist ein Trieb wie Essen und Trinken«, sagte ich. »Wenn dieser Trieb verantwortungsbewußt gesteuert wird, zwingt der Mensch die Naturkräfte in seinen Dienst. Er muß weiterforschen, denn Stillstand bedeutet Rückentwicklung. Das hatte schon mein Freund Hein erkannt, damals, auf Manik Maya. Und darum ist auch dein Ameisenstaat keineswegs ideal. Hier obwaltet Unterwerfung und Anpassung. Wir aber verändern…«
»Darüber muß ich nachdenken«, murmelte er. »Ich frage mich nur, wo ist das Ende…«
»Kruzitürken, spielen wir Skat, oder philosophieren wir!« empörte sich Fritzchen. »Ich hatte sechsunddreißig geboten.«
»Racha«, knurrte der Alte verächtlich, »am liebsten würde ich dich jetzt mit deinem Kreuz ohne Zweien sitzenlassen und Kontra geben. Oder kannst du mehr bieten?«
Fritzchen paßte, der Alte kündete einen Grand an, spielte seine beiden Buben aus. Während er die Stiche kassierte, sagte er zufrieden: »Fortschritt hin, Fortschritt her – ist das Leben nicht auch so ganz vergnüglich? Man drischt einen Skat, philosophiert über Gott und die Welt – was wollen wir mehr? Raumschiffe und Atome, alles Schnickschnack… Bediene, mein Sohn, ich habe Herz-König serviert.«
Sein Gerede verwirrte mich, ich war nicht bei der Sache, stach den König mit dem As.
»Du spielst wie ein Nachtwächter«, meckerte Fritzchen, »warum schnippelst du nicht die Zehn heraus?«
»Jedenfalls waren es denkende Wesen, die diesen Mond eingerichtet haben. Wenn sie nicht das Atom beherrschten und Raumschiffe besäßen, wärst du längst vermodert.«
»Hierin muß ich dir zustimmen«, bekannte der Alte und schob Fritzchen nach seinem gewonnenen Spiel die Karten zum Mischen hin. »Die Sache mit dem Heiligen Geist ist ja auch interessant, ein uralter Trick. Ich erinnere mich, daß irgendeine Tochter des elenden Bil-sar-ussur eines Tages ein Kind zur Welt brachte. Zufällig weiß ich nun, daß der Vater der Obermundschenk war. Was aber wird dem staunenden Volk verkündet? Die hochgestellte Dame sei vom Heiligen Geist befruchtet worden… Fritz, du Racha, es soll sich schon mal einer totgemischt haben.«
»Wie soll man spielen, wenn du über den Heiligen Geist redest?« räsonierte Fritz.
Er hatte es in der Tat nicht leicht, denn er mußte spielen und das Gerede des Alten dolmetschen. Der ließ sich nicht abhalten, das Spiel immer wieder zu unterbrechen.
Am Nachmittag gesellte sich Aul zu uns. Sie war sehr erfreut, daß ihr Vater regen Anteil am Spiel nahm. »Den beiden ziehe ich das Fell über die Ohren«, frohlockte er, »es ist kein leichtes Spiel, eine richtige Wissenschaft. Was machst du zum Beispiel bei einem Null? Lang oder blank – reine Gefühlssache. Jedenfalls habe ich dem elektronischen Racha mehr als hundert Goldstücke abgewonnen. Ich finde übrigens, er ist schlecht konstruiert.«
Aul lächelte nachsichtig. »Hättest du ihn besser konstruiert?«
»Ich hätte sein Auge am Zeigefinger angebracht. Bedenke, wohin man dann überall sehen kann.« Er wedelte mit dem Zeigefinger durch die Luft, drehte ihn und steckte ihn unter den Tisch.
Aul amüsierte sich über die schnurrigen Ideen ihres Vaters. Ich hätte ihr den Grund für sein neuentwickeltes Konstruktionsgefühl nennen können. Der Alte grübelte nämlich unablässig darüber nach, wie er am besten mogeln könnte. Nicht dem Roboter wünschte er ein solches Auge, sondern sich selbst, um uns ungehindert in die Karten zu gucken.
Wir wollten unser Spiel fortsetzen, als ein Ereignis eintrat, das unsere Skatrunde vorzeitig beendete. Recht selbstbewußt waren plötzlich drei Roboter eingetreten. Sie trugen violette Trikots, jeder hielt einen kleinen Gegenstand in den Händen, der einer Stablampe glich. Vor unserm Tisch blieben sie stehen.
»Hinaus mit euch!« schimpfte der Alte und wies ihnen die Tür. Die drei scherten sich nicht um die Aufforderung, taten, als verstünden sie seine Sprache nicht. Dafür richtete einer von ihnen einige Worte an Aul. Ich befahl Fritzchen zu dolmetschen. Es ging um einen Roboter, der seit längerer Zeit vermißt wurde. Ob Aul wisse, wo sich der Vermißte befände. Ich beobachtete sie. Ihr Gesicht war einen Schein blasser geworden. Sie hielt den Kopf gesenkt und schwieg. Abermals wurde die Frage gestellt und hinzugefügt, daß Me diese Auskunft wünsche.
»Gebt endlich Ruhe, ihr Rachas!« schrie der Alte erbost. »Sehr ihr nicht, daß wir wissenschaftlich arbeiten? Fort mit euch, sucht euern Roboter auf dem Jupiter!«
Zu meiner Verwunderung befolgten die drei diesmal seine Aufforderung. Eine Sekunde später erhob sich auch Aul und ging hinaus. Ich fragte sie, was geschehen sei und wohin sie ginge. Aul mußte meine Frage verstanden haben, doch ich erhielt keine Antwort.
Der Alte mischte die Karten. »Laß sie laufen, es sind Weiberlaunen. Hast du gesehen, wie sie parieren? Man muß nur den richtigen Ton finden…« Er hatte das Blatt verteilt. »Wer ist vorn? Der Racha hört. Reize, mein Sohn…«
Was hatte Aul so erschreckt? »Was waren das für Roboter?« wandte ich mich an Fritzchen.
»Sie sind vom Sicherheitsdienst«, antwortete er. »Sie haben überall Zutritt, wenn eine Gefahr droht.«
Von Unruhe ergriffen, stand ich auf. »Bin gleich zurück, Vater.«
Er deutete mein Fortgehen anders. »Beeil dich!« hörte ich ihn rufen. »Das Blatt bleibt so liegen.«
Ich beeilte mich wirklich. Von unseren Spaziergängen her war mir das Tunnellabyrinth bekannt; darum fiel es mir nicht schwer, ihre Spur aufzunehmen. Ich sah, wie Aul den drei Robotern vorauseilte. Sie mußte also etwas wissen. Was ging hier vor? Wer war der verschwundene Roboter, und was hatte Aul damit zu tun?
Ob die drei meine Verfolgung bemerkten, wußte ich nicht. Wahrscheinlich besaßen sie Warnsysteme, die mich längst avisiert hatten; es war mir gleichgültig. Aul ahnte sicher nichts, sie blickte sich nicht um, ging mit schnellen Schritten durch verschiedene Seitengänge und erreichte schließlich einen Tunnel, den ich nie zuvor betreten hatte. Endlich blieb sie stehen. Sie wechselte ein paar Worte mit den Robotern. Einer von ihnen tastete über die Seitenwand. Eine Öffnung entstand.
Ich war inzwischen so nahe herangekommen, daß ich alle Einzelheiten gut erkennen konnte. Die Öffnung führte in eine Felsenkammer, nicht größer als drei Quadratmeter. In der Mitte dieser Kammer stand, unbeweglich wie eine Wachsfigur, der vermißte Roboter.
Von den Violettgekleideten trat einer auf ihn zu. Er verdeckte seinen Artgenossen, ich konnte nicht sehen, was er tat. Plötzlich kam Leben in den Roboter. Er fing an, sich zu bewegen, sein Glashelm leuchtete einige Male kurz auf. Dann kam er heraus, ging mit eckigen Bewegungen auf Aul zu, die erstarrt auf ihrem Platz verharrte. Unwillkürlich hielt ich den Atem an. In der stummen Szenerie lag etwas Gespenstisches.
Sekunden verstrichen. Der Roboter war vor Aul stehengeblieben. Sie rührte sich nicht. Ich sah Entsetzen in ihren Augen, die, als wäre Aul hypnotisiert worden, unverwandt auf den unheimlichen Homunkulus gerichtet waren. Dessen Glashelm verfärbte sich auf einmal, wurde feuerrot. Dieses Bild kannte ich von Fritzchen. Offenbar wurde der Vorgang durch innere Widersprüche ausgelöst. Doch bis jetzt hatte niemand mit dem Roboter ein Wort gewechselt. Du mußt etwas unternehmen, hämmerte es in mir, er wird sie umbringen. Uns trennten nur wenige Meter. Ich wollte auf Aul zueilen, als plötzlich Worte laut wurden.
Der Roboter sprach. Es klang hohl und monoton, ein Text, dessen Sinn mir unverständlich blieb. Nur eines begriff ich: Er wiederholte immer wieder die gleichen Worte.
Aul wankte zurück, bis sie an der Wand Halt gefunden hatte. Ihr Gesicht war aschfahl. Ich sah, wie sie sich nur noch mit letzter Anstrengung auf den Beinen halten konnte, und eilte auf sie zu. Im letzten Augenblick konnte ich sie auffangen. Aul lag ohnmächtig in meinen Armen.

Das Groteske schien zur Tragödie zu werden, meine Neugierde machte mich zum Zeugen eines grausigen, unbegreiflichen Geschehens. Ich bemühte mich um Aul, fächelte ihr Luft zu. Hinter mir schnarrte der Glaskopf weiter seinen irren Text. Dabei bewegte er sich langsam auf uns zu. »So helft doch!« schrie ich verzweifelt. Mein Ruf verhallte ungehört.

Sie schlug die Augen auf. »Aul«, stammelte ich, »Kleines…« Bestürzt bemerkte ich, daß sie mich gar nicht zur Kenntnis nahm, sondern nur den irren Roboter ansah. Dann kam ein Wort über ihre Lippen, laut und befehlend. Der Redefluß des Glaskopfes brach ab. Er machte kehrt, ging ein paar Schritte den Gang entlang. Gleich darauf umringten ihn die drei Violettgekleideten.

Weg von hier, dachte ich, fort aus diesem Labyrinth. Ehe ich jedoch dazu kam, mein Vorhaben auszuführen, geschah etwas, was mich lähmte und an meinen Platz fesselte. Was sich vor meinen Augen abspielte, war so ungeheuerlich und faszinierend zugleich, daß mich Entsetzen und fassungsloses Staunen ergriff.

Die Violettgekleideten demontierten ihren Kollegen. Sein Glashelm polterte auf den Boden, rollte scheppernd gegen die Felswand. Sie hatten ihm das Trikot aufgerissen, den Brustkorb geöffnet, holten Teile heraus und verbargen sie in ihren Taschen. Der rechte Arm des Roboters fiel ab, der Kleine schwankte. Sekunden später lag das eben noch lebendige, schöpferische Gebilde in seinen Einzelteilen auf dem Gang. Dann richtete einer der Violettgekleideten das taschenlampenähnliche Gerät auf die Wrackteile. Eine Dampfwolke stieg auf, ich verspürte eine Wärmewelle. Von

dem Roboter war nichts mehr zu sehen.

Es kam mir nicht in den Sinn, daß hier nur ein Apparat, ein elektronisches Gehirn, in seine Bestandteile aufgelöst und verdampft worden war. Gewohnt an Fritzchens kluges Verhalten, empfand ich die Zerstörung wie einen kaltblütigen Mord. Mit weichen Knien stützte ich Aul. Wir schleppten uns weg, versuchten zu rennen, stolperten und mußten immer wieder stehenbleiben, um Atem zu schöpfen. Wir sagten kein Wort, liefen und liefen. Einmal blickte ich mich um, fürchtete, sie könnten uns folgen. Doch hinter uns war der Gang leer, als wäre alles nur ein entsetzlicher Traum gewesen. Aul sackten die Beine weg. Ich trug sie das letzte Stück. Das Geschehen hatte mich wie eine Naturkatastrophe getroffen, aus der ich sie und mich retten mußte.

In der Stube des Alten lagen die Karten noch immer auf dem Tisch. Fritzchen und er waren im Garten. Unbemerkt konnte ich Aul in unser Zimmer tragen. Ich holte einen Krug Wasser und befeuchtete ihre Schläfen. Sie erwachte aus ihrer Ohnmacht wie aus einem tiefen Schlaf, sah mich grübelnd an, bis die Erinnerung zurückkehrte. In ihren Augen war jedoch nichts von Furcht zu erkennen. Nur Trauer lag darin. Ich wagte nicht, Fragen zu stellen. Sie mußte wissen, daß ich für diesen unbegreiflichen Widersinn eine Erklärung brauchte.

Eine Zeitlang saß ich bei ihr, hielt ihre Hand. Vergeblich bemühte ich mich, mir die Worte des massakrierten Roboters ins Gedächtnis zurückzurufen. Ihre Übersetzung hätte mir vielleicht Aufschluß über sein rätselhaftes Verhalten geben können. War der Text der Schlüssel zu dem Geheimnis, das bis jetzt nur Aul und die drei Violettgekleideten kannten?

Allmählich verlor sich die bleiche Farbe auf ihren Wangen. Sie richtete sich auf und sagte flüsternd: »Bitte, frage jetzt nicht. Sprich auch nicht mit Vater oder Fritz darüber…«

»Ich werde dich nicht fragen, Aul. Aber irgendwann einmal wirst du es mir sagen müssen. Ein solches Geheimnis darf zwischen uns nicht sein.«

Ihre Augen waren auf mich gerichtet, aber sie sah mich nicht, war in Gedanken weit weg von mir. Erst nach einer Weile kehrte sie aus ihren Erinnerungen zurück. »Ja, einmal werde ich es dir erzählen«, sagte sie.