19

Ich stand auf, drückte den Lichtschalter. »Guten Morgen, Hanni, ich bin es wirklich, du träumst nicht…« Ich rang mir ein Lächeln ab. »Ein gutes neues Jahr wünsche ich dir.«

Noch immer brachte sie kein Wort heraus.
»Darf ich reinkommen?«
Sie machte mir Platz. Ich wollte sie umarmen und küssen,

aber sie bog ihren Kopf zur Seite, ging wortlos in die Stube. »Ich begreife dich«, murmelte ich, »trotzdem könntest du dich etwas freuen…«

Ich kannte meine Frau lange genug, las in ihrem Gesicht und aus ihrem ganzen Verhalten, was sie von meiner »Auferstehung« hielt. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Monatelang hatte sie um den Vermißten getrauert, nun stand er plötzlich unversehrt vor ihr. Was lag näher als die peinigende Erkenntnis, gefoppt und betrogen worden zu sein. Die unerquickliche Situation hätte sich leichter bereinigen lassen, wäre es nur eine Angelegenheit zwischen uns beiden gewesen. Doch mein Verschwinden mußte Aufsehen erregt haben, die Polizei, Freunde und Freundinnen wußten davon; und ich stand hier, hatte als einzige Ausrede nur die Möglichkeit, ihren absurden Verdacht zu bestätigen.

»Hanni«, druckste ich, »wollen wir uns nicht wie zwei vernünftige und erwachsene Menschen über meine Abwesenheit unterhalten? Du urteilst, ehe du mich angehört hast.«

Ohne mich anzusehen, sagte sie: »Worüber sollten wir uns noch unterhalten? Ein halbes Jahr habe ich geglaubt… Kein Anruf, nicht einmal eine, Zeile – und du redest von Vernunft und Erwachsensein. Egoistisch bist du. Aber du irrst dich, wenn du glaubst, ich würde dein Bohemeleben einfach hinnehmen…« Nun weinte sie auch noch. Als ich mich ihr zerknirscht näherte, schrie sie mich an, ich möge sie in Ruhe lassen und zu dem Weibsbild zurückgehen. So schlimm hatte ich mir die Auseinandersetzung nicht vorgestellt. Dabei fiel mir auf, daß sie eine neue Frisur trug, die ihr gut stand.

Um Zeit zu gewinnen, ging ich ins Badezimmer, wusch mir die Hände und putzte mir die Zähne. Wenigstens etwas Angenehmes, stellte ich mit trüber Genugtuung fest, auch diese Zivilisation hat manches für sich. Waschmaschine, Kühlschrank, mit einem Handgriff heißes Wasser, dazu duftende Seife und Badesalze… Früher war mir das nie aufgefallen, die Gewohnheit macht alles selbstverständlich. Wenn die Sache mit Johanna ausgestanden war, wollte ich ein heißes Bad nehmen. Ich gurgelte, drehte verspielt am Wasserhahn, war in Gedanken noch immer ein wenig auf dem sechsten Mond. So ein Badezimmer fehlte dort. Ob die beiden in den zweieinhalbtausend Jahren schon einmal gebadet hatten? Auf der Erde war Auls Vater bestimmt von ähnlichem Luxus umgeben gewesen. Der Sklave, das »instrumentum vocale«, wie die Römer ihn nannten, das Werkzeug mit einer Stimme, war die Maschinerie, die dem Alten und seiner Kaste das Wohlleben ermöglicht hatte…

Nebenan klappte eine Tür; Johannas Schritte rissen mich aus meinen Betrachtungen. Ich mußte eine Erklärung abgeben, zermarterte mir den Kopf, suchte vergeblich nach einem Ausweg. Ich ging ins Zimmer zurück und bemerkte melancholisch: »Schade, ich wollte mit dir auf das neue Jahr anstoßen, doch darauf legst du wohl keinen Wert…« Selbst diese Äußerung entsprach nicht der Wahrheit, denn das Konzentrat wirkte noch immer. Ich konnte gar nichts trinken, mir wäre übel geworden. Sie sagte auf einmal beherrscht: »Du wirst zugeben müssen, daß unser Zusammenleben nach diesem Vorfall keine Ehe mehr ist. Ich bin deshalb dafür, daß wir uns scheiden lassen.«

»Das ist kompletter Unsinn!« entfuhr es mir, aber zugleich dachte ich: Wäre es nicht die beste Lösung? Alle Schwierigkeiten sind dann aus dem Wege geräumt. Zwar hatte mir Me acht Tage Zeit zum Nachdenken gegeben, doch irgendwann mußte ich Johanna meinen Entschluß mitteilen. Vielleicht war es richtig, die gereizte Stimmung auszunutzen. Ihr begreiflicher, wenn auch lächerlicher Verdacht konnte mir unter diesen Umständen den peinigenden Abschied ersparen. Denn mehr als ich es mir eingestehen wollte, ging mir die bevorstehende Trennung nun doch nahe. Anderseits war die Chance, die sich mir bot, so einmalig, daß es wohl unvernünftig wäre, Mes Angebot auszuschlagen.

Obwohl mir Johannas Empörung und auch ihr überraschender Vorschlag entgegenkamen, brachte ich es nicht fertig, ihren Irrtum für meine Pläne auszunutzen. Im Gegenteil, es traf mich schmerzlich, wie eilfertig sie von einer Scheidung sprach – als habe sie nur auf einen Anlaß gewartet. Ich zwang mich, sehr ruhig zu antworten: »Hanni, du bist jetzt erregt, das begreife ich. Aber weshalb gleich das Kind mit dem Bade ausschütten? Haben wir nicht immer gut harmoniert? Laß uns in Ruhe über alles reden…«

»Worüber?«

Ja, worüber – das fragte ich mich schon die ganze Zeit. »Ich bin da in eine Sache verstrickt«, stotterte ich, »es ist alles kompliziert und schwer zu erklären…«

»Ich erwarte auch keine Erklärung«, erwiderte sie kühl, »ich wünsche nur diesen unwürdigen Zustand zu beenden.«
Unwürdiger Zustand – was hatte ich verbrochen? Ich konnte verstehen, daß es schmerzlich war, sich getäuscht zu wissen oder zu glauben, doch weshalb drängte sie gleich so impulsiv auf eine Scheidung? So hatte ich Johanna nicht in Erinnerung. Eine Vermutung zeichnete sich mir ab, ein Verdacht, der dieser unerfreulichen Aussprache eine neue Wendung gab. Ich galt ja für Johanna als vermißt, war so gut wie tot. Konnte sie nicht in der Zwischenzeit einen anderen Mann kennengelernt haben? Drängte sie deswegen so überstürzt auf Scheidung? Der Verdacht ließ mich meine eigene verfahrene Situation für einen Augenblick vergessen. Erbittert sagte ich: »Du möchtest also frei sein. Gut, du wirst es sein, es bedarf keiner Scheidung. In acht Tagen werde ich dorthin zurückkehren, wo ich hergekommen bin, sag das deinem Verehrer…«
Ich wartete auf eine Reaktion, doch sie schwieg. »Oder willst du behaupten, daß kein Mann dahintersteckt?«
»Du machst dich lächerlich«, sagte sie und ging ins Nebenzimmer. Ich folgte ihr.
»Bis jetzt hast du noch nicht einmal die Frage nach meiner Abwesenheit gestellt. Es interessiert dich auch gar nicht, im Gegenteil, du wärst sogar enttäuscht, wenn sich deine Vermutung nicht bestätigte, meine plötzliche Rückkehr kommt dir ungelegen.«
Johanna sah mich an, erwiderte milde, aber sachlich: »Du bist verrückt.« Und etwas später: »Gut, dann beantworte mir die Frage: Wo warst du?«
Ich ging auf und ab, grübelte und wußte, daß mir nur noch ein Weg blieb. Sie hatte sich auf die Couch gesetzt und eine Zigarette angezündet. Ich nahm ihr gegenüber in einem Sessel Platz. »Hanni, hör jetzt genau zu und urteile nicht eher, bis ich zu Ende erzählt habe. Du weißt, daß ich voriges Jahr auf Manik Maya war, um das Plakat für die Ausstellung zu entwerfen. Eines Abends landete etwas auf der Wiese. Es war eine Art Raumschiff, ein Transporter…«
Ich forschte in ihrem Gesicht, fürchtete Ironie oder Abweisung, doch ihr Mienenspiel verriet nichts dergleichen. So schilderte ich ihr, ohne mich in Details zu verlieren, meine Begegnung mit den Robotern, den Aufstieg mit Waldi, erzählte von Me, Aul, ihrem Vater und Fritzchen. Auch von meiner Rückkehr berichtete ich, daß wir vor wenigen Stunden noch im südamerikanischen Urwald geparkt hatten, und von dem Versprechen, in acht Tagen die Erde für immer zu verlassen. Sie hatte, wie ich glaubte, aufmerksam zugehört, mich nicht ein einziges Mal unterbrochen. Ich schöpfte Hoffnung, sagte: »Natürlich klingt das, was ich dir anvertraut habe, phantastisch. Man ist ja immer geneigt, Ungewöhnliches, das sich mit unseren Erfahrungen nicht vereinbaren läßt, suspekt zu finden. Aber nicht wahr, eine solche Geschichte kann man sich doch nicht aus den Fingern saugen? Hanni, du glaubst mir doch?«
»Natürlich«, sagte sie. »Es ist ja alles so einfach. Du verschwindest ein halbes Jahr, und auf die Frage, wo du gewesen bist, bekommt man dann zur Antwort: Auf dem Jupiter. Warum eigentlich nicht auf dem Saturn oder auf dem Mars? Deine Frau ist ja ungebildet, der kannst du alles weismachen. O ja, ich glaube dir jedes Wort. Es wimmelt bei uns nur so von fliegenden Untertassen – das ist mal was Neues…«
Ihre beißende Ironie ließ mich meine Vorsätze und Versprechungen vergessen. Ich wollte nicht als Lügner vor ihr stehen. Erregt ‘stand ich auf. »Ich werde dir jetzt beweisen, daß ich nicht gelogen habe. Du wirst Zeuge eines Gespräches werden, das außer mir noch kein Mensch geführt hat und niemals führen wird. Ich werde eine Verbindung mit dem sechsten Jupitermond herstellen. Die Antwort wird allerdings erst nach einer Stunde und zwanzig Minuten eintreffen, es hängt mit der Entfernung zusammen. Bitte warte eine Sekunde…«
Ich ging in den Korridor, wo ich mein Jackett abgelegt hatte. Ein eisiger Schreck durchzuckte mich, als ich in die Taschen griff. Sie waren leer.
Ich fühlte die Schlagader am Hals pochen, durchwühlte alles, was Taschen hatte, suchte den Korridor und die Stuben ab, umsonst. Das Sendegerät war nicht mehr da. Benommen rekonstruierte ich meinen Weg. Mir fiel die Busfahrt ein, die angetrunkenen jungen Burschen, die sich so hartnäckig in meiner Nähe aufgehalten hatten. Jetzt wurde mir klar, warum sie so überraschend ausgestiegen waren. Sie vermuteten ein Transistorradio bei mir – einer von ihnen mußte mir unbemerkt den Sender gestohlen haben.
Mir trat der Schweiß auf die Stirn. Das wertvolle Gerät in fremden Händen! Gerade das, was ich Me versprechen mußte, hatte ich nicht gehalten. Meine Frau trat auf mich zu, sah mich forschend an. »Ist dir nicht gut?«
»Sie haben mir den Sender gestohlen«, flüsterte ich, »begreifst du, was das bedeutet? Me hat mir einen Sender auf Treu und Glauben mitgegeben.«
»Ich glaube, du fieberst«, sagte sie. »Ich werde einen Arzt kommen lassen. Kein Wunder, wie du gekleidet bist.«
Sie wollte zum Telefon: »Laß das, ich bin nicht krank!« rief ich. »Ich muß den Sender zurückhaben. Aul muß denken, ich bin verunglückt. Was mache ich nur? Es war der letzte Bus. Der Fahrer kannte vielleicht die Burschen… Ich muß zur Polizei. Sie brauchen nur den Namen des Busfahrers herauszufinden…«
Völlig durcheinander, holte ich meinen Wintermantel aus dem Schrank. Johanna stellte sich vor mich, sagte besorgt: »Sieh doch auf die Uhr, Hans, es ist nach zwei. Du brauchst einen Doktor. Bitte, geh jetzt nicht mehr auf die Straße.«
Vor einer halben Stunde noch wäre mir ihre Fürsorge wie Balsam gewesen, jetzt hörte ich nicht mehr zu. Noch auf der Treppe bat sie mich verstört zu bleiben. Wahrscheinlich wäre sie mir bis auf die Straße nachgekommen, aber sie war nicht angekleidet. Obwohl mich eine dunkle Ahnung beschlich, daß ihre plötzlich erwachte Sorge aus ganz anderen Erwägungen hergeleitet sein könnte, machte ich mir in meiner panikartigen Stimmung keine Gedanken darüber. Getrieben von der Furcht, die Diebe könnten das wertvolle Sendegerät womöglich in ihrer Trunkenheit zerstören, eilte ich, von finsteren Überlegungen geplagt, in der Silvesternacht durch die Straßen zum nächsten Polizeirevier.

Der Kreis ist durchschritten, der lange, abenteuerliche Weg unseres Träumers scheint ein Ende gefunden zu haben; wir sind wieder am Ausgangspunkt angelangt. Der unberechenbare Zufall hat die Kugel auf Zero gerollt. Etwas Wehmut befällt uns, wenn wir an seine zerstörten Hoffnungen und an die nun vergeblich wartende Aul denken. Alles, was nun noch folgen könnte und folgen wird, drängt sich mit zwingender Logik auf. Selbst ein Elektronenrechner könnte unserm Freund nicht aus dem Irrgarten heraushelfen, in dem er unverschuldet verstrickt wurde. In seinem Erdendasein fehlen fünfeinhalb Monate. Die Rechnung muß beglichen werden.

Wir ahnen den verhängnisvollen Verdacht seiner Frau Johanna, und es bedarf keiner prophetischen Begabung, den Klartext der Gedanken des Kriminalisten Eichstätt zu entziffern, dem Weyden sich mit der ganzen Naivität seines Gemüts anvertraut hat.

Da sich nun seine letzte Wegstrecke so deutlich vor uns abzeichnet, könnten wir seine phantastische Geschichte an dieser Stelle eigentlich beenden, wären wir nicht selbst die stummen Zeugen seiner Erlebnisse. Die Neugier, dieser dem Menschen innewohnende Trieb, rechtfertigt wohl auch, wenn wir ihn jetzt auf seinem letzten, nicht weniger abenteuerlichen Wegen begleiten. Die Kugel seines Schicksals, eben noch auf Zero, rollte bereits wieder. Verweilen wir also noch einen Augenblick am Spieltisch des Zufalls, und beobachten wir ihren Weg.