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Was sich von der »Quil« löste, war nicht zu erkennen, denn vorübergehend erlosch das Licht. Waldi fing an zu piepsen, sprang an mir hoch, winselte, als stünde der Weltuntergang bevor. Ich nahm ihn auf den Arm, fühlte mich in kreatürlicher Furcht mit ihm verbunden.
Nach allem, was ich bis jetzt gesehen und gehört hatte, war ich auf alles gefaßt. Was immer auch geschehen mochte, ich mußte mich in allem fügen; der Prahlhans hatte den Sprung gewagt, das Schwimmbecken erwies sich als ein Ozean, dessen Wellen mich in uferlose Fernen trugen.
Ein allmählich heller werdender Lichtschimmer durchbrach das Dunkel. Der Kuppelraum öffnete sich, gab den Blick zur Steuerzentrale des Transporters frei. An einer dunklen Wand leuchteten farbige Lichtpunkte und Lichtkurven auf. Pendelnde Zeiger und unbegreifliche Apparaturen erweckten einen vagen Vergleich mit einem irdischen Laboratorium. Vor dieser Wand entdeckte ich meine drei kleinen »Freunde« von der Wiese wieder. Roboter – jetzt wurde mir ihre Beschaffenheit mit beschämender Deutlichkeit bewußt. Mit eckigen Bewegungen kontrollierten sie die Reaktionen der Meßgeräte, ähnelten mit ihren Glasköpfen Schaufensterpuppen. Und diesen elektronischen Mechanismen hatte ich meine Armbanduhr geschenkt! Für sie war ich ein Ding gewesen, das sich aus Impulsen zusammengesetzt hatte. Jetzt nahmen sie weder von mir noch von Aul Notiz.
Aul bat mich in einen kleinen Seitenraum, wo sich ein ovales Fenster befand, das ein Panorama der Außenwelt freigab. Zum ersten Male konnte ich erkennen, daß wir wirklich flogen. Seitlich von uns ein Schatten, an einigen Stellen von grellem Licht durchbrochen. Es war das Raumschiff mit dem eigentümlichen Namen »Quil«, von dem wir uns gelöst hatten. Eine merkwürdige Form besaß dieses Sternenschiff; es sah aus wie ein gewaltiges Hufeisen. Richtantennen und Spiegel waren zu erkennen, unter dem Hufeisen mehrere flache Gebilde, die wie Tropfen aussahen. Sie ähnelten dem Raumtransporter, in den ich eingestiegen war und in dem ich mich vermutlich auch jetzt noch befand.
Unsere Geschwindigkeit mußte enorm sein, denn die »Quil« wurde zusehends kleiner, war bald zu einem Punkt zusammengeschmolzen und sah aus wie ein schwachleuchtender Stern. Dafür tauchten andere Gebilde auf, hellgraue Kugeln von unterschiedlicher Größe – Monde des Jupiters, der selbst nicht im Blickfeld lag. Hoch über uns das glänzende Band der Milchstraße. Wie oft hatte ich von der Erde aus verträumt zu ihr hinaufgeschaut, war in Gedanken zu fernen Welten aufgestiegen. Alle Dämonen und Kobolde schienen in diesen Minuten um mich zu tanzen und im Chor zu rufen: »Du bist dort, wohin du immer wolltest, deine wahnwitzigen Phantasieorgien sind Wirklichkeit geworden…«
Alles, was mir Aul erzählt hatte, war eine Sache der Vernunft, der Logik gewesen. Es war mir wie ein Abstraktum erschienen, das meine Gefühlswelt nicht erreichte. Erst während dieses Fluges, angesichts des hautnahen Universums durchdrang mich die Erkenntnis, wirklich und unwiderruflich im All zu sein, mit so elementarer Wucht, daß es wie ein Tropengewitter über mich hereinbrach. Irgendwo unter den zahllosen Sternen eine kleine gelbe Scheibe, die Sonne, umkreist von einem blitzenden Staubkorn…
Ich schloß die Augen, aber die Lichter der Myriaden Sterne leuchteten in mir weiter. Sehen, denken, erkennen, leuchtende chaotische Materie ferner Welten, werdendes Leben und Tod – nie zuvor hatte ich mich so stark als ein Teil des unendlichen Weltenraumes gefühlt, nie so bewußt die Erde als meine Heimat empfunden. Die letzte Nacht auf Manik Maya fiel mir ein, Heins Beweise für die Eroberung des Alls. Wie nahe war er der Wahrheit gekommen. Ich wollte meine Gefühle versachlichen, meinen Weg durch Raum und Zeit nüchtern, ohne Sentiment beurteilen, doch tausend Empfindungen erschütterten meine bescheidene Vorstellungswelt. Ich sog das Bild um mich mit den staunenden Augen des unschuldigen Adam auf, der von der verbotenen Frucht genascht hatte.
Lange stand ich versunken, in zweispaltige Gedanken verstrickt, vor dem Bordfenster. Bebend verspürte ich auf einmal, wie Aul meine Schulter berührte. Ich blickte sie an, aber ihr Gesicht verschwamm vor meinen Augen. Wir gingen nach nebenan, setzten uns auf die Liege. Waldi lief zurück, schnüffelte in der Steuerzentrale herum, knurrte die Roboter an. Sie nahmen von dem Dackel keine Notiz, obwohl er sogar an ihnen hochsprang. Schließlich hörten wir ihn auf jaulen; einer der Roboter hatte ihm auf die Pfote getreten.
Aul holte Waldi zurück und streichelte ihn. Nach einer Weile sagte sie unvermittelt: »Ich ahne deine Gedanken, obwohl sie mir fremd sind. In mir ist keine Erinnerung an die Erde, denn ich war nicht ganz zwei Jahre alt, als wir sie verlassen mußten. Mir ist der Planet nur als physikalische Größe ein Begriff… Jemand hat mir gesagt, daß die Erde so schön sein soll, daß man sie einst sogar den Mittelpunkt der Welt nannte. Ist es wahr, daß man sie nicht vergessen kann?«
Was für eine Frage? Gab es die Erde überhaupt noch? Nach Auls eigenen Worten befanden wir uns ganz in ihrer Nähe, aber selbst die Sonne war aus dieser Entfernung zu einem Stern unter Sternen geworden. Erde und Mond dem Auge unsichtbare Staubkörner. Wie kam Me, dieser unsichtbare Halbgott, dazu, mich hierher zu verschleppen? Was hatte er mit mir vor? Unvorstellbar der Gedanke, vielleicht niemals wieder einen Himmel über mir zu sehen. Wie ein fernes Echo klang ihre Frage in mir nach. Ich sagte versonnen: »Es ist unmöglich, seine Heimat zu vergessen.«
»Also würdest du dich immer nach ihr
zurücksehnen?« »Ja.«
»Vielleicht ist alles nur Gewohnheit… Wenn du dich hier erst
eingelebt hast und das Neue
begreifst…«
»Nein«, unterbrach ich sie, »ich kann nicht für immer
hier
bleiben.«
Es folgte ein tiefer Atemzug. »Schade, daß du so denkst.
Ich
möchte zu gern wissen, was dich so sehr an die Erde fesselt.
Es
wäre schön, wenn ich euern Planeten einmal betreten
könnte.
Ich möchte mir das Leben dort einmal ansehen.«
Wer dort leben will, braucht ein Einreisevisum, dachte
ich.
»Aul, willst du dich nicht etwas klarer verständlich
machen?
Du warst also bis zu deinem zweiten Lebensjahr auf der
Erde.
Vermutlich haben sie dich ähnlich wie mich
hierhergeschafft.
Aber wer hat dir von der Erde erzählt? Waren es die Roboter?« Meine
Vermutung entlockte ihr ein Lächeln. »Die Kleinen
sind nicht fähig, zwischen schön und häßlich zu
unterscheiden
– es sei denn…« Sie schwieg. Ihr Gesicht war plötzlich
ernst
geworden.
»Es sei denn – was, Aul?«
»Es gibt Möglichkeiten, ihren Reife- und Intelligenzgrad
zu
verändern – aber das ist absurd… Was ich von der Erde
weiß,
hat mir jemand erzählt, den du in wenigen Augenblicken
kennenlernen wirst. Er kennt die Erde wie du, denn er hat
mehr
als fünfzig Jahre auf ihr verbracht. Jetzt lebt sie in
seiner
Erinnerung weiter…«
»Wer ist dieser Jemand?« fragte ich verwundert.
»Mein Vater«, sagte sie. »Wir kamen zusammen hierher.
Inzwischen hat er eine neue Heimat gefunden und sich angepaßt. Ich
glaube, er ist ganz glücklich hier. Seine Erde ist der sechste
Jupitermond. Seit zehn Umkreisungen wartet er auf uns, brennt
darauf, dich willkommen zu heißen.«
Seltsame, verworrene Welt, endlose Kette von Zusammenhängen, die wir zurückverfolgen, bis ein Entwirren nicht mehr möglich ist und der Zufall die Kausalität ersetzen muß. Wie tief wir auch immer in die Geheimnisse der Natur einzudringen vermögen, ein gelöstes Rätsel, jede neue Erkenntnis setzt zugleich neue Fragezeichen.
»Ich war zwei Jahre alt, als wir unser Haus verließen«, fing Aul an zu erzählen. »Vater hat mir unsere Flucht wohl hundertmal geschildert. Die Perser waren in unser Land eingefallen, wollten Babylon nehmen. Zu der Zeit hatten wir die Stadt verlassen, waren bei einem Freund meines Vaters zu Gast. Dort erfuhr Vater von der Belagerung der Stadt. Er wollte zurück, war überzeugt, daß die Stadt uneinnehmbar sei. Wir kamen jedoch nicht mehr hinein, die Soldaten des Kyros waren überall. Sie verfolgten uns, Vater mußte die Wagen zurücklassen, seine Sklaven liefen zu den Persern über, die Mägde gerieten in ihre Gewalt. Am Ende hatte Vater nur noch mich. Er trug mich auf dem Arm, floh nach Chaldaci, wanderte durch Sandwüsten, bis unsere Nahrung aufgebraucht war. Eines Abends betete Vater zu den alten Göttern, zu Marduk, Nergal und Samas, dem Sonnengott. Was dann geschah, mußte auf Vater wohl wie ein Wunder wirken, denn tatsächlich stieg Samas vom Himmel herab…«
Aul lächelte versunken. »Du hast selbst erlebt, wie es aussieht, wenn ein Transporter landet. Me gab den Kleinen den Befehl, Vater und mich an Bord zu bringen. So gelangten wir in das Raumschiff ›Quil‹. Kurz nach unserer Ankunft verließ die ›Quil‹ das Sonnensystem. Sie flog zu einem Stern in der Milchstraße. Die meiste Zeit verbrachten wir im Schlaf. Als wir zurückkehrten, waren siebzehn Erdenjahre an Bord des Raumschiffes vergangen – auf der Erde dagegen zweieinhalbtausend Jahre. Du kannst leicht errechnen, wie groß unsere Geschwindigkeit war.«
Das konnte ich ganz gewiß nicht, aber es war schmeichelhaft, daß sie mir solche mathematischen Fähigkeiten zutraute. »Was ist mit diesem Me? Deine Bemerkung vorhin, er sei irgendwo verbrannt und dennoch am Leben, war doch wohl nur ein Scherz?«
»Durchaus nicht«, versicherte Aul, »jeder
Roboter kann es dir bestätigen. Me ist verbrannt…«
»Und plaudert dennoch von Zeit zu Zeit mit dir«, spöttelte
ich.
»Ja«, sagte sie ernsthaft. »Ich habe ihn nie gesehen, seine
Anweisungen erhalte ich über Funk. Er hatte auch veranlaßt, mich
während des langen Fluges umzuprogrammieren. So lernte ich die Welt
in Gleichungen und Energieumwandlungen kennen und begreifen. Nur
Vater blieb, wie er war. Sein hohes Alter erlaubte keine
Umprogrammierung. Ich glaube, richtig hat er bis heute noch nicht
begriffen, daß er hinter der Erdenzeit zurückgeblieben ist – für
ihn sind siebzehn Jahre immer und überall die gleiche
Zeit…«
Aul war näher gerückt, lehnte den Kopf an meine Schulter. Ich
streichelte flüchtig ihre Wangen, drückte ihre Hand.
»Vorhin hast du gesagt, ich sei hübsch. Ist es wahr, daß ich hübsch
bin?«
»Hm, mir gefällst du jedenfalls. Auf der Erde würden sich bestimmt
viele junge Männer nach dir umsehen…«
Ich konnte nicht ahnen, welche Gefühle meine Berührung und meine
Worte in ihr wachriefen. Sie weinte auf einmal. Unbeholfen und
verwirrt über ihren Gefühlsausbruch, versuchte ich sie zu trösten,
sie unterbrach mich schluchzend und stammelte: »Ich hasse die
Roboter, ich kann sie nicht mehr ertragen! Du mußt für immer bei
mir bleiben, ich will nicht mehr allein sein…«
Lieber Himmel, dachte ich, muß es immer gleich für ewig sein? Die
bienenfleißigen Roboter auf einmal zu hassen schien mir auch
übertrieben. Auf jeden Fall stellte ich mit Genugtuung fest, daß
Auls Gefühlsleben und Charme auf dem endlosen Flug keinen Schaden
erlitten hatten. In ihr vereinte sich weibliche Neugier mit
reizender Naivität. War es am Ende gar ihre Idee gewesen, mich an
Bord bringen zu lassen?
Ich scheute mich, sie danach zu fragen, rückte sacht von ihr fort
und sagte tröstend: »Vorerst bin ich ja noch ein Weilchen hier,
Aul. Vielleicht gibt es später eine Möglichkeit, daß wir zusammen
zur Erde zurückkehren. Auch deinen Vater könnten wir mitnehmen.
Fürs erste würdet ihr im Bauernhaus auf Manik Maya wohnen, Platz
ist dort genug…«
»Es wäre wunderbar«, sagte sie verträumt, »einmal den Fuß auf einen
Planeten zu setzen – seit wenigstens fünfhundert Jahren träume ich
davon. Wären wir dann immer zusammen?«
»Gewiß – zumindest sehr oft«, sagte ich ausweichend und dachte an
Johanna. Aul konnte nicht ahnen, welche Komplikationen sich aus
ihrer Anwesenheit ergeben würden. »Da ist noch manches zu bedenken,
Aul«, erklärte ich behutsam, »es geht nicht nur darum, einmal kurz
den Planeten zu besuchen. Bist du erst dort, gibt es vermutlich
kein Zurück mehr…«
»Oh, das weiß ich«, unterbrach sie mich, »wenn nur du bei mir
bleibst…«
»Dann darfst du nicht vergessen, daß die Uhren auf der Erde
schneller laufen. Dort ist es vorbei mit hundert, fünfhundert oder
gar tausend Jahren. In fünfzig Jahren wird unser Leben vermutlich
zu Ende sein, aber schon viel früher wird dein hübsches Gesicht alt
und runzlig aussehen, und dein schönes schwarzes Haar wird
ergrauen…«
Meine Erklärung dämpfte ihren Enthusiasmus ein wenig. Dennoch war
sie entschlossen, gleich nach unserer Ankunft auf dem sechsten Mond
mit Me in Verbindung zu treten und ihm unser Anliegen
vorzutragen.
Dann mußte ich ihr von der Erde erzählen, von den Weltmeeren und
Kontinenten, von Autos, Flugzeugen und Schiffen. Als ich ihr
erzählte, daß wir schon zum Mond fliegen konnten und bald auch den
Mars besuchen würden, erntete ich ein sarkastisches Lächeln.
Angesichts dieses Transporters und des phantastischen Raumschiffes
meines Gastgebers aus dem Triangulumnebel hatte ich Verständnis für
ihre Skepsis. Viel beunruhigender war für mich etwas anderes. Wie
konnte ich meiner Frau klarmachen, daß Aul kein gewöhnliches
Mädchen war? Es war nicht schwer für mich, mir vorzustellen, wie
sie reagierte, wenn ich sie mit Aul bekannt machte. Niemand würde
mir ihre Herkunft und Vergangenheit abnehmen. Ich sah schon
Johannas Blick, der einen Schierlingsbecher ersetzen konnte. Es gab
noch andere Probleme. Woher nahm ich die Pässe für die beiden? Wie
kompliziert war doch das Leben.
»Warum seufzt du?« fragte Aul besorgt. »Bist du nicht
glückhaftig?«
Mitunter brachte sie noch Vokabeln durcheinander. »Ich bin
glücklich, Aul«, versicherte ich aufrichtig, »alle meine
Erwartungen sind schon jetzt übertroffen worden. Ich bin sehr
gespannt, was mich noch erwartet.«
Aul stand auf und sagte etwas in einer Sprache, die ich nicht
verstand. Gleich darauf kam einer der Roboter hereingetrippelt. Er
blieb vor uns stehen, wippte mit dem Glashelm. Aus alter Gewohnheit
verneigte ich mich ebenfalls. Aul nestelte an seinem Glashelm, hob
ihn herunter. »Er wird dein Dolmetscher sein«, erklärte sie, »ihm
wurde deine Sprache einprogrammiert. Du wirst ihn benötigen, wenn
du dich mit Vater unterhältst. Schau ihn dir an, so sieht es in
seinem Inneren aus, ein wenig sinnvoll gesteuerte Energie, Metall
und Kunststoff…«
Sehen konnte ich nicht viel. Eine Pyramide von hauchdünnen,
perforierten Plättchen verjüngte sich nach oben. Aul stocherte mit
einer Nadel in dem Kleinen herum, verschob einige Plättchen
gegeneinander, irgendwo in Bauchhöhe leuchteten winzige Lämpchen
auf. Dann montierte sie den Glashelm wieder auf und befahl:
»Begrüße unsern Gast. Von jetzt an stehst du ihm zur
Verfügung.«
Der Kleine verbeugte sich und sagte: »Sprich jetzt, er frißt
Ochsen, Rinder, Pferde. Ei, wie schmeckt der Kaffee sü-hühüße…
Pieper, Stimmgabel in der Rechten… Hans Weyden, Anhäufung von
Desoxyribonukleinsäure und Ribonukleinsäure…«
»Still, sofort schweigst du! – Ich glaube, ich habe etwas
durcheinandergebracht.« Sie demontierte den Kleinen erneut und
überprüfte etwas. Die blecherne Stimme des Kleinen, der mit diesem
Wortsalat in meiner Sprache geredet hatte, belustigte und
erschreckte mich. Konnte er nicht durch einen Defekt böswillig
werden? Ich wollte Aul danach fragen, doch sie hatte den Fehler
behoben und wiederholte die Aufforderung an den Kleinen. Diesmal
begrüßte er mich sehr artig und beteuerte, mir immer zur Verfügung
zu stehen. Gleich darauf wurde es dunkel im Transporter. Ich
glaubte zuerst, es wäre ein Defekt im Kommandoraum, doch Aul sagte:
»Jetzt fliegen wir in den sechsten Mond ein.«
Ich hielt das »Einfliegen in den sechsten Mond« für einen Sprachschnitzer, dachte nicht weiter darüber nach. Mir behagte die Dunkelheit nicht, und mir war nicht wohl bei dem Gedanken, daß der Roboter auf einmal meine Sprache verstand und mich jetzt womöglich mit seinem Supergehirn analysierte oder mich mit seinen Radaraugen durchdrang. Unwillkürlich rückte ich etwas näher an Aul heran, legte kameradschaftlich den Arm um sie. Ich konnte nicht verhindern, daß sie meine Annäherung anders auffaßte und sich hingebungsvoll an mich schmiegte. Um ehrlich zu sein, es gefiel mir sogar und ließ mich vorübergehend meinen schweigenden Dolmetscher vergessen. Erst als es wieder hell wurde, erwachten wir aus unserer Versunkenheit.
»Wir sind angekommen«, sagte Aul, »draußen wird Vater auf uns warten. Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe. Er ist ein alter Mann, du mußt ihm manches nachsehen. Erwähne auch nicht unsern Plan – ich möchte erst mit Me sprechen. Wenn er mir und Vater ebenfalls die Rückkehr gestatten sollte, dann könnten wir vielleicht auch deinen Dolmetscher mitnehmen…«
»Aul, das ist eine geniale Idee!« rief ich begeistert. »Hausangestellte sind bei uns Mangelware.« Obwohl ich nicht ernsthaft an die Durchführbarkeit ihrer skurrilen Idee glaubte, erheiterte mich der Gedanke, mit dem Kleinen einen Beweis für meine Reise zu erbringen. Ihm fehlte nur noch ein Name. Ich schlug vor, ihn Fritz oder Fritzchen zu nennen, falls er nicht weiblichen Geschlechts sei. Doch mein Dolmetscher war ein Neutrum. Er verbeugte sich auch prompt und sagte gelassen: »Meine Name ist Fritz oder Fritzchen.«
Der Ernst, mit dem er diese Feststellung traf, brachte mich zum Lachen. Aul befahl ihm etwas. Fritz machte kehrt, ging auf die Wand zu, die uns von der Steuerzentrale trennte. Ich glaubte, ein Spuk narre mich, als er durch die Wand hindurchging. »Wenn das so weitergeht, werde ich wahnsinnig«, murmelte ich verstört. »Hast du das gesehen, Aul? Er ist durch die Wand gegangen…«
Aul blickte mich an, als hätte ich etwas sehr Dummes gesagt. Sie nahm meine Hand und zog mich zur Wand. »Hier ist nichts«, beteuerte sie, »nur ein Strahlenschirm, der unliebsame Elementarteilchen absorbiert.«
Ich griff in die vermeintliche gläserne Wand, spürte keinen Widerstand. Nun begriff ich, wie Aul so unverhofft aus dem Nichts aufgetaucht war.
»Das Feld erhält durch Sigmabestrahlung eine rötliche Färbung«, klärte sie mich auf. »Man kann es auch blau oder grün einfärben. Ich ändere die Farbe immer nach meiner Stimmung. Möchtest du Grün?«
Ich verneinte. »Sigmabestrahlung«, wiederholte ich respektvoll, »es ist klar, daß ihr euch in solchen Sachen auskennt. In meinem ganzen Leben würde ich das nicht kapieren.«
»Daran ist nichts zu begreifen«, versicherte sie, »man braucht nur die Kappastrahlen zu absorbieren, die beim Aufbau der Minuskerne entstehen. Dann werden Omikronteilchen in negativer Proportion mit Lambda-Minus-Hyperonteilchen eingeschlossen und mit Sigma bestrahlt… Warum lachst du? Habe ich etwas Falsches gesagt?«
Auf meinen Lippen lag ein verständnisloses Lächeln. Es fehlte nicht viel, und ich hätte auch noch die Augen verdreht und mit den Ohren gewackelt. Auls Erläuterungen erinnerten mich an meine Schulzeit. In der Mathematikstunde hatte ich mir dieses verzweifelte Grinsen angewöhnt, wenn mein Lehrer, Dr. Sandig, mich aufforderte, an der Tafel aus einem Gewirr von Zahlen, Zeichen und Buchstaben ein X herauszufinden.
»Nein, Aul, du hast das Feld ausgezeichnet analysiert. Ich bitte dich nur, vorerst nicht mehr von negativen Proportionen und Minuskernen zu sprechen. Es regt mich zu sehr auf.«
Fritz kam durch die absorbierte, negative Wand zurück. Er verneigte sich vor mir und überreichte mir etwas. Es war meine Armbanduhr. Aul wollte wissen, was es mit dem sonderbaren Gegenstand auf sich habe. Ich erklärte ihr den Sinn des Zeitmessers und befestigte ihn an ihrem Handgelenk. »Auf der Erde ist eine Uhr sehr nützlich, Aul. Sie soll mein erstes Geschenk für dich sein.«
Ich hatte an die Uhr nicht mehr gedacht und wollte nun ihr Wiederauftauchen mit einer Geste verbinden. Aul reagierte auch echt weiblich auf mein überraschendes Geschenk, hauchte mir einen Kuß auf die Wange und wurde nicht müde, den seltsamen Schmuck immer wieder zu betrachten und dem Ticken zu lauschen.
Dann fragte sie mit umwerfender Naivität: »Sag,
tragen alle Weiber auf der Erde solchen Schmuck?«
»Fast alle, Aul. Aber sage bitte nicht immer Weiber. Dieser
Ausdruck ist heute nicht mehr üblich; er klingt ordinär. Man sagt
Damen oder Frauen oder auch Mädchen. Manchmal kann man auch
Fräulein oder gnädige Frau sagen. Ein verliebter junger Mann darf
sein Mädchen auch Liebling nennen, und wenn er sehr vertraut mit
ihr ist, sagt er einfach ›Süße‹ zu ihr oder ›Puppe‹ oder auch mein
›steiler Zahn‹ – du wirst das alles noch lernen.«
Aul machte ein ratloses Gesicht und sagte seufzend: »Vater spricht
immer nur von Weibern – wie kompliziert doch die Wirklichkeit ist.
Du wirst mich umprogrammieren müssen – ich bin wohl ein sehr
unwissender steiler Zahn?«
»Du bist das klügste Mädchen, dem ich je in meinem Leben begegnet
bin«, erklärte ich schmunzelnd.
Von draußen drang eine Männerstimme zu uns herein. Fritzchen
übersetzte: »Was treibst du so lange, mein Täubchen, hast du deinen
alten Vater vergessen, weil das Panier der Liebe über dich gekommen
ist? Laß mich nicht länger warten…«
Panier der Liebe – die beiden mußten sich gründlich mit meiner
Ankunft beschäftigt haben und wer weiß was für Hoffnungen damit
verbinden. Begreiflich war die Ungeduld ihres Vaters, der in all
den Jahren nur mit seiner Töchter hatte reden können.
Aul zeigte nach der ungeduldigen Frage ihres Vaters nur ein
verträumtes Lächeln und befahl Fritzchen zu öffnen. Diesmal
verschwand der Kleine nicht hinter einer ominösen Wand, sondern
öffnete den Einstieg durch einen Knopfdruck. Strahlende Helle war
hinter der Öffnung. Als sich meine Augen daran gewöhnt hatten, sah
ich im gleißenden Licht einen Mann stehen.