01
Die tiefschwarze Nacht lag wie eine zudrückende Pranke über dem U-Bahnhof Ecke Karlsstraße/Steinstraße. Tom stand schwer atmend neben der dunklen Limousine, der er gerade entstiegen war, hielt sich den Arm mit der verletzten Hand, die trotz der starken Schmerzmittel immer noch pochte, und versuchte irgendwie zu begreifen, in was er hier geraten war. Unter den vielfältigen Motorengeräuschen, den Rufen, dem Trampeln von Schritten, dem Zuschlagen von Autotüren und den harten Rotorschlägen der Hubschrauber, die nach wie vor wie Aasgeier über dem Sperrgebiet kreisten, lag ein anderes Geräusch: ein leises, niederfrequentes Brummen, das er nicht nur über seine Ohren wahrnahm, sondern auch durch seine Fußsohlen spürte.
Irgendetwas war unter ihm zugange. Etwas, das erst erwachte und seine widerlichen Fühler zu ihnen ausstreckte.
Polizeidirektorin Juretzko war bereits auf einen großgewachsenen Mann in robuster grauer Einsatzjacke zugeeilt, den sie jetzt offensichtlich zusammenzustauchen versuchte. Tom bezweifelte, dass es ihr gelang. Ihr augenblickliches Opfer war Eberhard Meier, der neu ausgerufene Star, den die Katastrophe geboren hatte – der Nachfolger des selbst tödlich verunglückten Retters der verschütteten Jugendlichen. Und der jetzt laut Medienberichten vorhatte, auch noch die beiden letzten Vermissten »der Unterwelt zu entreißen«. Der Mann wirkte in seiner kraftvollen Präsenz so unbeeindruckt von der Polizeidirektorin, dass Tom innerlich Beifall klatschte. Trotzdem hielt er dessen Vorhaben für puren Größenwahn.
Als die Polizeidirektorin seinen Blick zu spüren schien, drehte sie sich zu Tom um. Sie runzelte die Stirn, als sie sah, dass er alleine war, und winkte zwei Polizisten in Zivilkleidung heran, die beide Schutzwesten mit der grell leuchtenden Aufschrift Polizei trugen.
»Kümmern Sie sich um ihn«, herrschte sie die beiden – einen kräftigen Mann und eine zierliche Blondine – an. »Sie sind mir für seine Sicherheit verantwortlich – und dafür, dass er nicht plötzlich Heimweh kriegt und verschwindet.«
»Aber …«, begann die Blondine.
»Wissen Sie nicht, wer ich bin?«, unterbrach Polizeidirektorin Juretzko scharf.
»Doch, natürlich …«
»Dann ist ja alles klar«, sagte die Grauhaarige, während sie sich schon wieder abwandte. »Also, machen Sie Ihren Job.«
Tom hatte dem kurzen Wortwechsel kaum Beachtung geschenkt. Er starrte zur Absperrung hinüber. Die dortigen gelb flackernden Warnlichter vereinigten sich mit den rotierenden Blaulichtern der Polizeiwagen und dem Scheinwerferlicht der Einsatzfahrzeuge zu einer unruhigen Sinfonie. Die Hektik schien auf allen Ebenen zu wüten. Die zu einer Spitze zusammenlaufenden Straßen waren gesäumt von Feuerwehrwagen, Einsatzfahrzeugen des THW, Kranken- und Notarztwagen sowie verschiedenster Polizeifahrzeuge. Dazwischen wuselten jede Menge Leute herum, die nicht alle zu wissen schienen, was sie taten.
Über all dem lag eine Anspannung, die förmlich zu greifen war. Bevor sie die Limousine bestiegen hatten, war die Luft auf eine erfrischende Art kalt und rein gewesen, wie er erst jetzt zu würdigen wusste. Hier war sie muffig und modrig, durchsetzt von undefinierbaren beißenden Ausdünstungen, die aus dem Schoß der Erde aufstiegen. Er hätte wahrscheinlich noch ewig so dagestanden und das Treiben der Frauen und Männer anstarren können, die geschäftig hin und her liefen oder abwarteten, bis sie ihren Einsatzbefehl bekamen.
»Nun kommen Sie schon«, sagte eine Stimme neben ihm. »Es geht gleich los.«
Tom zuckte erschrocken zusammen und fuhr herum. Schräg hinter ihm stand ein durchtrainierter Mann mittleren Alters mit Bürstenhaarschnitt.
»Renegard!«, entfuhr es Tom.
Statt seines obligatorischen Maßanzugs trug er jetzt tarnfarbene Einsatzkleidung, die sicherlich die passende Kleidung für einen Dschungelkrieg war, hier aber eindeutig deplatziert wirkte. »Freddy, Sandra« erwiderte Renegard und nickte dabei den beiden Polizisten zu, die neben Tom standen. »Hat euch die Juretzko abkommandiert, den Knaben hier im Auge zu behalten?«
»Das kann man so sagen«, bestätigte die zierliche Polizistin. »Aber wir bleiben oben. Wenn Sie übernehmen wollen …?«
Renegard zuckte mit den Schultern. »Wenn unsere geschätzte Polizeidirektorin nichts dagegen hat.« Erst jetzt begann Tom zu begreifen, dass sie mit einer gemischten Mannschaft in den Untergrund wollten, mitten hinein in den Bereich, in dem das Unglück seinen Lauf genommen hatte. Bei allem Aufwand wirkte ihr Vorhaben allerdings ziemlich improvisiert. Er sah Streifenpolizisten, die ihre Dienstmützen gegen Helme mit Grubenlampen ersetzten, und am provisorischen Eingang des ehemaligen Notausstiegs stand eine Gruppe von SEK-Männern, die sich ebenfalls mit Lampen, aber auch Seilen für den Abstieg in die Unterwelt ausrüsteten. Am auffälligsten aber waren Meier und zwei Männer, die alle drei graue Einsatzjacken trugen und an deren Gürtel ein ganzes Sammelsurium unterschiedlichster Werkzeuge und Gegenstände hing, die Tom auf die Entfernung nicht genauer identifizieren konnte.
Seine Phantasie brauchte keinen großen Anlauf, um sich die verschiedensten Szenarien einer geheimen Welt unter ihnen auszumalen. Er hatte unzählige Filme gesehen, die den Erstkontakt mit einer fernen Zivilisation gezeigt hatten, und immer hatte er sich dabei einer Faszination nicht entziehen können, die tief aus seinem Inneren kam, gespeist von der Sehnsucht, über fremdes Leben sein eigenes zu finden. Auch wenn das nicht gerade wahrscheinlich war, reizte ihn die Vorstellung, dass dort unter ihnen ein bislang unentdecktes Raumschiff verborgen sein konnte, das vor unendlicher Zeit auf der Erde gestrandet war und nun durch Erschütterungen – aber hoffentlich nicht durch ihr Handystrahlenexperiment! – wieder zum Leben erwacht war. Oder auch die Phantasie von Alien-Robotern, die sich von hier aus in das Versorgungsnetzwerk der Stadt bohrten, ihre Datenleitungen aussaugten und die Wasserversorgung kontaminierten …
»Nun kommen Sie schon, Wilkens«, riss ihn Renegards Stimme aus seinen Tagträumen. »Die Juretzko will den Mikrocontroller. Vielleicht hilft er uns ja, die Typen zu schnappen, die hinter der ganzen Scheiße hier stecken!«
Er packte Tom am Arm und zerrte ihn ein Stück mit sich, direkt auf die Polizeidirektorin zu. Noch bevor sie bei ihr ankamen, drehte sich die grauhaarige Frau mit den harten Gesichtszügen zu ihnen um. »Beeilen Sie sich, Renegard«, fauchte sie ihnen entgegen. »Wir müssen sofort runter.«
»Wieso?« Renegard versetzte Tom einen sanften Stoß, der ihn ein paar Schritte weitertaumeln ließ. »Ist etwas passiert?«
Die Juretzko nickte grimmig. »Kann man wohl sagen. Es gab wieder einen Anruf. Und diesmal haben die Medien Wind davon gekriegt.«
»Was für einen Anruf?«, fragte Renegard. »Der Minister?«
Polizeidirektorin Juretzko lachte humorlos auf. »Der hält seinen Kopf sowieso in jede Kamera, der braucht keine Anrufe, um auf sich aufmerksam zu machen. Nein«, sie schüttelte den Kopf. »Görgens hat angerufen.« Sie machte eine kurze Pause. »Sie haben ein Telefonat rausgefiltert, das wohl schon vor ein paar Stunden auf die Mailbox einer gewissen Susan Slawoski eingegangen ist.«
Tom fuhr herum und starrte die Polizeidirektorin an. Er war sicher, diesen Namen schon einmal gehört zu haben – sogar ganz sicher.
Und dann fiel es ihm wieder ein. Die Mutter des kleinen Robbie, der mitsamt ihres Wagens in das Loch in der Karlsstraße eingebrochen und seitdem verschollen war.
»Die Slawoski sitzt doch in der Psychiatrie«, sagte Renegard ruhig.
»Ja, aber nicht ihr Sohn«, sagte Polizeidirektorin Juretzko. »Und der hat ihr jetzt irgendetwas auf ihre Mailbox gequatscht. Nichts Verwertbares, natürlich, sondern nur, dass er Angst hat und seine Mama anfleht, ihn da rauszuholen.«
Als Tom das hörte, musste er an sich halten, um nicht laut aufzuschreien. Er erinnerte sich daran, wie sich Renegards Tablet verformt hatte, als sie Davids Anruf abgehört hatten; und genauso wie damals glaubte er auch jetzt wieder etwas auf sich zukriechen zu sehen; etwas Schleimiges, Wurmähnliches, das sich unaufhaltsam in die Wirklichkeit schlängelte. Doch diesmal kam es aus keinem Gerät, diesmal kroch es aus dem Eingang des U-Bahnhofs hervor; und es begnügte sich nicht damit, ihn nur ein paar Augenblicke zu narren, diesmal kroch es wirklich und für immer und so endgültig aus den dunklen Tiefen der Erde hervor, als wolle es ihn zu sich holen.
Tom begann trotz der Kälte zu schwitzen, und er hätte geschrien, wenn er die Kraft dazu gefunden hätte. Aber das konnte er nicht. Er konnte gar nichts mehr, er war wie gelähmt. Er wusste, dass diese … Kreatur nicht wirklich Tentakel hatte, nicht haben konnte … Aber … er glaubte sie zu sehen, trotz tiefschwarzer Nacht, schlängelnde Krakenarme, die auf ihn zuhielten, die aus der U-Bahn-Station hervorkrochen, sich über den nassen Asphalt wanden, sich durch Schnee und Matsch wühlten und ihm dabei immer näher kamen …
»Das ändert natürlich alles«, hörte er wie aus der Ferne Renegards Stimme.
»Das sehe ich auch so«, drang die Stimme der grässlichen Alten in seine Ohren. »Also kleine Planänderung. Wir gehen sofort runter. Sie suchen mit ein paar ausgewählten Leuten den Mikrocontroller. Und Meier wird mit allen verfügbaren Kräften den Jungen suchen …«
»Wenn Sie das sagen.«
»Vergessen Sie Tom Wilkens nicht. Er hat den Mikrocontroller konstruiert und kann ihn notfalls anpeilen.«
*
Die erste Begegnung von Alina mit Nico und Jana lief genau so ab, wie Maya befürchtet hatte. Als sie das fremde Mädchen zu ihrem geheimen Treffpunkt am Rande des Biergartens des heruntergekommenen »Schattenbräus« mitgeschleppt hatte, starrte Nico ihnen so grimmig entgegen, als hätte Maya eine ganze Polizeimannschaft im Schlepptau. Jana dagegen wirkte eher verstört, vielleicht war sie aber auch nur wegen Davids Verschwinden verzweifelt.
Maya tat das Einzige, was ihr in dieser Situation einfiel: Sie ging auf Jana zu und umarmte sie stürmisch – soweit sie dafür noch Kräfte aufzubringen vermochte –, sodass ihrer Freundin fast die Luft wegblieb und sie sie von sich zu schieben versuchte. Doch schon nach wenigen Sekunden gab Jana ihren Widerstand auf, und dann klammerten sich die beiden Mädchen wie zwei Ertrinkende aneinander – oder eher wie zwei Boxer, die nach einem langen Fight völlig ausgepowert waren und nur noch versuchten, irgendwie auf den Beinen zu bleiben. Nico dagegen trat einen Schritt vor, verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete Alina mit einem misstrauischen Blick, der sie automatisch ein Stück zurückweichen ließ.
Nee, da habe ich jetzt wirklich keinen Bock drauf, schoss es Alina durch den Kopf.
Sie hatte sich Mayas Freunde ganz anders vorgestellt. Nico, der auf dem Handybild so fröhlich gegrinst hatte, trug viel zu große Klamotten, die ihn wie ein Kind hätten wirken lassen, das sich Jacke und Hose seines großen Bruders ausgeliehen hatte, wäre da nicht der ernsthafte und sehr erwachsen wirkende Ausdruck in seinem erschöpften Gesicht gewesen.
»Wer bist du?«, fragte er mit rauer Stimme, die klang, als hätte er drei Tage durchgesoffen.
Alina legte den Kopf in den Nacken und schloss einen Moment lang die Augen. Es war dunkel am Fuße der Eiche, unter deren ausladenden Ästen sie standen. Dicke alte Mauern umfassten den verwaisten Biergarten und hielten die Außengeräusche so vollständig ab, dass sie ihr eigenes Blut in den Ohren rauschen hörte.
Sie hätte es sich ja denken können. Sie war unwillkommen.
»Ich bin niemand und will auch nix«, sie ließ ihr Kinn wieder heruntersinken, sah Nico dabei herausfordernd in die Augen, »und bin gleich wieder weg. War nur ein Versehen.«
Nico hob bremsend die Hand. »Maya bringt niemanden aus Versehen mit.« Er tippte Maya auf die Schulter, die sich daraufhin von ihrer Freundin löste und sich zu ihm umdrehte. »Eine alte Bekannte von dir?«
»Nee«, antwortete Maya verwirrt. »Nur eine Nervensäge, die Stress mit der Polizei hat.«
Nico lächelte flüchtig, was ihn in Alinas Augen gleich zehnmal sympathischer wirken ließ. »Diese Art von Stress kenne ich gut.« Sein Lächeln erlosch schlagartig. »Und wir haben leider auch Stress.«
»Wieso?«, fragte Maya alarmiert. »Ist was mit David?«
Nico schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben nichts von ihm gehört, wenn du das meinst.«
»Was ist los?«
Jetzt war es Jana, die antwortete. Sie packte ihre Freundin an beiden Händen und sah ihr tief in die Augen. »Wir waren gerade mal unten, in dem Gewölbe hinter dem Weinkeller. Und weißt du was?«
»Jetzt mach es nicht so spannend«, entfuhr es Maya. »Was ist dort?«
»Sie haben den Zugang zugemauert«, sagte Jana. In ihren Augen schimmerten Tränen, und ihre Stimme klang brüchig wie die einer Verzweifelten. »Wir kommen da nicht mehr rein.«
Maya starrte ihre Freundin verständnislos an. »Das letzte Mal, als wir hier gewesen sind, war doch noch alles in Ordnung! Da sind wir über diesen Zugang problemlos in die Wartungsschächte der U-Bahn gekommen …«
»Aber letztes Mal ist nicht jetzt«, sagte Nico müde. »Und jetzt stehen wir auf dem Schlauch.«
Alina hatte den kurzen Wortwechsel atemlos verfolgt. Sie spürte die Verzweiflung der drei, als wäre sie ihre eigene – und vielleicht war es ja auch ein Stück weit so.
»Ihr steht überhaupt nicht auf dem Schlauch«, sagte sie. »Ihr habt ja mich.«
Nico wandte sich ihr auf eine Art zu, wie sie es von den Bullen her kannte, wenn diese sie mal wieder in die Mangel nehmen wollten. »Was soll das heißen?«, fragte er misstrauisch.
»Das soll heißen, dass ich euch einen Weg ins U-Bahn-System zeigen kann«, antwortete Alina betont forsch. »Vorausgesetzt, ihr nehmt mich mit.«
Nicos Misstrauen explodierte geradezu. »Und warum sollten wir das?«
»Weil ich euch helfen kann«, sie zögerte kurz, bevor sie weitersprach, »und ich da runter muss.«
Nico schüttelte den Kopf. »Niemand muss da einfach runter! Und vor allem jetzt nicht.«
»Gerade jetzt!«, widersprach Alina heftig. »Schließlich werden da unten immer noch ein Typ und ein kleines Kind vermisst.«
In Nicos Blick funkelte plötzlich etwas, das Alina überhaupt nicht gefiel. »Das«, sagte er langsam und jedes Wort betonend, »ist mir bekannt. Und was diesen Punkt angeht, verstehe ich überhaupt keinen Spaß. Wenn du also nur auf Abenteuer aus bist, dann verpiss dich. Nicht mit uns!«
»Und auch nicht mit mir!« Alinas Stimme drohte zu kippen. Und gleichzeitig begann ihre Umgebung zu verschwimmen und etwas anderem Platz zu machen …
Das wunderschöne blaue Licht strahlte von den Wänden der Höhle ab und umschmeichelte sie wie eine sanfte Sommerbrise. Sie hätte aufschreien können vor Glück. Der Zeitpunkt war gekommen. Die fernste Vergangenheit und die Gegenwart verschmolzen miteinander, pulsierten im langsamen, alles verschlingenden Rhythmus um sie herum.
Sie war nicht mehr alleine. Die Gestalt, die dem unterirdischen See entstiegen war und nun mit langsamen Schritten auf sie zukam, ließ in ihr ein Gefühl fast unerträglicher Sehnsucht aufsteigen. Es war etwas tief Vertrautes in ihren Bewegungen, so als hätten sie sich schon tausendmal gesehen, ohne sich wirklich zu erkennen.
Sie wollte auf die Gestalt zugehen. Aber sie konnte nicht. Etwas schob sich zwischen sie, etwas Graues, Eiskaltes, das alles mit schrecklicher Belanglosigkeit auszulöschen drohte …
»Was ist los?«, fragte Nico. »Ist dir nicht gut?«
Alina schüttelte den Kopf. Es gelang ihr kaum, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Trotzdem nahm sie die Absurdität der Frage des Jungen wahr: So wie er selbst und die beiden Mädchen aussahen, waren sie diejenigen, die dringend ärztliche Versorgung benötigten, sollte man sie alle drei für die nächsten zehn Tage in einer Krankenstation einsperren – mindestens.
Der Gedanke zerbarst, als sie wieder in ihre Vision eintauchte …
Sie sah ihn vor sich. Gesichtslos wie immer, aber zum Greifen nahe. Sie fühlte eine so tiefe Verbundenheit zu ihm, dass es schmerzte. Sie wollte zu ihm, sie musste zu ihm … Sein Gesicht … Jetzt glaubte sie, seine Züge zu erkennen, glaubte die Andeutung eines Lächelns zu sehen … glaubte das Aufblitzen von Sympathie in seinen Augen wahrzunehmen …
Und mit einem Mal wusste sie, wer er war. Ihr wurde schwarz vor Augen. Tausende Lichtpunkte tanzten wild aufgeregt vor ihren sich halb öffnenden Augen …
»He, was ist mit dir?«, fragte Nico besorgt.
Alina blinzelte angestrengt. Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus. Die Vision war so plastisch gewesen, so zum Greifen nahe – und dann so schnell und ohne konkrete Erinnerung zerstoben, dass sie hätte verzweifeln können.
»Ihr … Ihr würdet wohl alles für euren Freund tun, oder?«, flüsterte sie.
Die drei sahen sich an, nacheinander und mit einer Ernsthaftigkeit, dass Alina ein kaltes Frösteln überlief. Dann nickten sie, einer nach dem anderen auf eine Art, die etwas von einem feierlichen Schwur hatte.
»Ja«, sagte Jana dann. »Für wahre Freunde tut man alles.«
Alina stieß zischend die Luft aus. »Das ist gut. Ich helfe euch. Vertraut mir: Ich weiß einen Weg, wie wir da runterkommen.«
»Tatsächlich?«, fragte Jana leise.
Alina nickte. »Tatsächlich«, sagte sie mit solcher Ernsthaftigkeit, dass die anderen sie nur sprachlos anstarrten.
»Ich kenne mich da unten aus«, fügte sie hinzu. »Ich war praktisch in jeder freien Minute unter der Stadt. Gemeinsam werden wir euren Freund schon finden!«
Nico runzelte die Stirn. Doch statt Alina erneut anzufahren, wandte er sich jetzt an Maya. »Was hältst du davon?«
Maya wechselte einen raschen Blick mit Jana, dann sagte sie leise: »Ich weiß nicht. Alina ist ein vollkommen durchgeknallter Typ. Wahrscheinlich meint sie ernsthaft, was sie sagt.«
»Und glaubst du, dass sie uns wirklich helfen kann?«
Maya zuckte mit den Schultern. »Kann schon sein. Kompetent erscheint sie mir jedenfalls.«
»Und wie es vorhin durchklang, ist sie auch schon häufig genug mit dem Gesicht voran im Matsch gelandet, um zu wissen, wie man danach wieder aufsteht«, sagte Nico. Er nickte. »Damit passt sie eigentlich ganz gut zu uns.«
Und damit war die Sache erledigt. Vorerst.
*
Es gab keinen Ort auf der Welt, den Tom mehr fürchtete als das unterirdische Labyrinth, in das Renegards kleiner Trupp mit ihm als ausgerufenen Mikrocontroller-Scout aufgebrochen war. Ausgestattet worden war er zu diesem Zweck mit einem Peilgerät, das er nun um den Hals hängen hatte. Die beiden Zivilpolizisten, die von der Polizeidirektorin Juretzko dazu abkommandiert worden waren, auf ihn aufzupassen, hatten ihn in die Mitte genommen, und als Vor- und Nachhut agierten jeweils zwei voll ausgerüstete SEK-Männer: Flucht unmöglich.
Also blieb ihm nichts anderes übrig, als mitzuspielen. Dennoch wäre er am liebsten wie ein trotziges Kind stehen geblieben und keinen Schritt mehr weitergegangen. Vielleicht konnte er die Sache wenigstens etwas verzögern. Er begann sich so schleppend und langsam zu bewegen, bis sich der voranschreitende Renegard zu ihm umdrehte und sagte: »Los jetzt, Wilkens. Je schneller wir den Controller finden, umso schneller sind wir auch wieder draußen!«
Die Logik konnte Toms Verstand durchaus nachvollziehen, sein Gefühl sperrte sich aber jetzt erst recht. Er taumelte, als würden ihm seine Beine nicht mehr richtig gehorchen, und stöhnte mehrfach wie unter großen Schmerzen auf.
»Na los!«, befahl Renegard. »Lasst uns die Sache endlich hinter uns bringen.«
Der Mann mit dem Bürstenhaarschnitt und dem übertrieben militärischen Gehabe hatte sich bereits wieder an die Spitze dieses merkwürdigen Erkundungstrupps gesetzt. In seiner grünen Kampfmontur hätte er mit Sicherheit lächerlich gewirkt, wären sie in einem ganz normalen alten U-Bahn-Tunnel unterwegs gewesen.
Das aber waren sie nicht. Ganz und gar nicht. Und deswegen konnte und wollte Tom hier nicht weitergehen und wurde noch ein Stückchen langsamer.
Schließlich reichte es dem neben ihm gehenden Polizisten. Er blieb stehen und packte Tom hart an der Schulter. »Nun komm schon, Mann«, herrschte er ihn an. »Reiß dich ein bisschen zusammen. Wir wollen hier nicht überwintern!«
»Lass mal, Freddy«, mischte sich seine junge Kollegin ein. »Der kommt schon. Sonst müssten wir ihn von den SEK-lern mitschleifen lassen. Die können so was.«
Freddy grinste humorlos Tom an. »Na, hast du es gehört? Sollen wir den Kollegen Bescheid sagen?«
Tom schüttelte hastig den Kopf. »Nein, nein. Es geht schon wieder.«
Damit begann er weiterzuschlurfen, zwar auf eine nicht sehr elegante Art, aber deutlich schneller als zuvor.
Am meisten Angst hatte er vor dem, was ihm aus dem U-Bahnhof entgegengekrochen war. Auch wenn es sich so plötzlich wieder in Luft aufgelöst hatte, als wäre es nie da gewesen, und auch wenn er sich einzureden versuchte, dass er sich dieses Etwas nur eingebildet hatte: Die Bilder speisten seine Vorstellungskraft mit ungeheurer Hartnäckigkeit. Nur mit Mühe drängte er die Erinnerung an das kranke Wuseln zurück, das er nun schon zweimal gesehen hatte.
Es hatte sich nur ein Stück zurückgezogen. Es wartete mit der Geduld eines Raubtiers, das sich seiner Beute sicher ist. Es wusste, wer da kam, und es traf seine Vorbereitungen.
Tom rieb sich so gut es ging die Arme, um die Gänsehaut fortzuwischen. Das funktionierte nicht: Die Gänsehaut blieb, aber seine verletzte Hand pochte jetzt mit seinem harten Herzschlag um die Wette. Er merkte davon jedoch kaum etwas. Sein Atem ging hektisch, kalter Schweiß lief ihm über den Rücken, und seine Gedanken rasten in allen möglichen Richtungen davon, ohne dass er sie einfangen oder ihnen eine bestimmte Richtung geben konnte.
Der modrige Geruch hatte sich zu einer schier unerträglichen Intensität gesteigert und machte es ihm fast unmöglich, durch die Nase zu atmen. Das war so unangenehm und beunruhigend wie alles hier unten. Die Schritte ihrer gemischten Truppe hallten merkwürdig verzerrt aus allen Richtungen der ehemals weitläufigen unterirdischen Anlage zurück, und er wäre nicht überrascht gewesen, wenn er plötzlich ganz andere Geräusche gehört hätte als nur den Widerhall ihrer selbst.
Es horchte gespannt. Lauerte.
Überall stießen sie auf Spuren der Verwüstung, ausgelöst durch die ungeheure Kraft, die sich hier am Erdreich, an Gestein und den brüchigen Werken menschlicher Ingenieurskunst ausgetobt hatte. Der Boden, über den sie liefen, war rissig und an etlichen Stellen aufgebrochen, so als ob irgendetwas von unten mit aller Gewalt dagegen drückte.
Tom glaubte zu spüren, wie der Boden unter seinen Füßen vibrierte. Er nahm ein leises Rumoren wahr, harte, kantige Geräusche, als würde irgendetwas gegeneinanderstoßen, und dann ein Poltern, als rutsche etwas nach. Gleichzeitig verlief ein Zittern durch den Gang. Renegard, der voranging und mit seiner starken Stablampe den Gang ausleuchtete, wurde etwas langsamer – und beschleunigte seine Schritte dann wieder. Die Polizistin neben Tom – Sandra, erinnerte er sich – quittierte das mit einem leisen Fluch, und auch ihr Kollege sah alles andere als glücklich aus.
»Da vorne müssen wir rechts abbiegen, Wilkens, stimmt’s?«, fragte Renegard, ohne sich umzudrehen.
Tom griff zu seinem Peilgerät und starrte auf die Anzeige. Mit der Past-Funktion konnte er überprüfen, wie sich das Signal in den letzten Minuten verändert hatte. Die Kurven zeigten ihm eindeutig an, dass es beständig stärker geworden war. Der Controller war ganz in der Nähe.
Er nickte, und Sandra sagte laut: »Ja!«
Renegard hatte die Antwort gar nicht abgewartet, sondern war schon vorgegangen, dicht gefolgt von den zwei SEK-Männern ihrer Vorhut, die ihre Waffen schussbereit in den Händen hielten.
Nachdem sie Renegard in den etwas breiteren Gang gefolgt waren, sahen sie überall Spuren der Zerstörung, Spalten im Beton, durchbrochen von rissigen Wölbungen, die wie Eiterpusteln und schwärende Wunden eines riesigen Ungeheuers wirkten. Aus der gesprungenen, rissigen Betondecke über ihnen rieselte es so beständig auf sie herab, dass sie innerhalb weniger Sekunden mit Zementstaub überzogen waren.
Aber was Toms Puls erst richtig auf Hochtouren brachte, war ein schreckliches Winden und Wuseln, das er nun wieder zu seinen Füßen zu sehen glaubte. Doch sobald er es mit seinem Blick genauer einfangen wollte, löste es sich wie ein Spuk auf – um ihn dann gleich darauf wieder zu narren.
»Ich weiß nicht, ob es klug ist, weiterzugehen«, sagte die zierliche Blondine in der Polizeiweste neben ihm, und ihr Kollege murmelte daraufhin eine Antwort, in der die Worte »Statik« und »zusammenstürzen« herauszuhören waren, bevor sie endete mit den Worten: »Er weiß schon, was er tut.«
Er weiß schon, was er tut? Wer? Renegard? Tom hätte beinahe laut aufgelacht.
Die beiden Polizisten warfen ihm einen besorgten Blick zu, als er ein glucksendes Geräusch von sich gab. Tom fühlte sich in seine Kindheit zurückversetzt, in die Zeit, als er noch an Geister geglaubt hatte und an Außerirdische, die plötzlich in seinem Zimmer erscheinen konnten, um ihn in den Weltraum zu entführen.
Er konnte nicht verhindern, dass die alten Gefühle und Vorstellungen plötzlich ungehemmt in ihm aufbrachen, als wäre ein innerer Staudamm gebrochen. All die Gruselbilder aus Filmen, die seine kindliche Phantasie beflügelt hatten, stürmten nun über ihn hinweg. Jedes noch so kleine Geräusch, das irgendwo aus den Tiefen zu ihnen vordrang, stach auf seine Seele ein wie mit einer glühenden Klinge. Alles in ihm schrie danach, sich umzudrehen und wegzulaufen – aber das hätte ihm Renegard bestimmt nicht durchgehen lassen.
Schließlich blieb Renegard stehen und hob die Hand. »Wartet mal … Ich glaube, ich habe jemanden rufen hören.«
»Jemand von Meiers Gruppe?«, fragte Sandra, während die beiden vor ihr stehenden SEK-Männer einen kurzen Blick tauschten und dann ihre erprobte Kampfposition einnahmen.
»Schon möglich«, murmelte Renegard.
Er hatte seine Stablampe etwas gesenkt, wodurch sie zerrissene Lichtmuster auf den zerstörten Boden warf. Tom hatte ganz kurz das Gefühl, als zöge sich dort unter ihnen etwas blitzschnell zurück, als versuche es sich still zu halten, um kein verräterisches Geräusch zu machen und sie in Sicherheit zu wiegen.
Die Zeit des Wartens war vorbei. Die Zeit des Handelns war gekommen.
»Meier hat mehrere Gruppen eingeteilt«, sagte Renegard dann, »vielleicht kommt uns gerade eine von ihnen entgegen.« Er drehte sich zu Tom um. »Wie weit ist es noch?«
Tom schüttelte verständnislos den Kopf. »Wie weit …«, begann er, bevor er begriff. »Ich weiß nicht genau. Wenn wir im richtigen Gang sind, dann kann es nicht mehr weit sein.«
»Wenn wir im richtigen Gang sind«, echote Renegard. »Was soll das denn heißen? Wir haben uns doch genau an den Plan gehalten, den Sie uns vorgegeben haben!«
»Ja, ja«, stammelte Tom. »Aber schauen Sie sich doch um! Hier bricht doch gleich alles zusammen!«
»Das Einzige, was gleich zusammenbricht, ist mein Glaube an Sie«, sagte Renegard scharf. »Mensch, Wilkens, reißen Sie sich doch ein bisschen zusammen! Wir brauchen diesen Mikrocontroller, um auszuwerten, was die Sensoren während des Unglücks aufgezeichnet haben. An die Daten, die Sie in Ihrer Zentrale gespeichert haben, kommen Sie ja jetzt nicht mehr ran …«
Tom stöhnte auf. Natürlich wusste er selbst am besten, warum der Controller für die Ursachenforschung des Unglücks so wichtig war. Schließlich hatte er im kritischen Moment vor Ort mehr Daten aufgezeichnet als andere Messstationen des Landes zusammen. Aber alles, was mit seinem früheren Leben zu tun hatte, die Strahlenexperimente, die er und Angy durchgeführt hatten, und die vielen Rechenverfahren, die vor allem er entwickelt hatte, verblassten mittlerweile wie die ferne Erinnerung an eine längst vergangene Schulzeit. Nichts davon war noch wichtig.
Der Lichtstrahl von Renegards Stablampe strich über die Wand und wieder zurück, streifte dabei ganz kurz einen Bereich des Bodens, in dem ein handbreiter Spalt klaffte. Tom hatte erneut den flüchtigen Eindruck von winzigen Bewegungen, so als zöge sich dort unterhalb der Spalte etwas zusammen. Er erstarrte. Sein Magen verwandelte sich in einen eiskalten Klumpen.
»Was …?«, begann Sandra neben ihm.
Sie stieß einen schrillen Schrei aus, als der Boden neben ihr zu vibrieren begann und zeitgleich Renegards Stablampe auf Flackerlicht überging und über, neben und unter ihnen ein dumpfes Grollen aufbrandete, als würde dort plötzlich Wasser mit Urgewalt einströmen. Tom stand stocksteif, ohne einen einzigen klaren Gedanken fassen zu können, und er hätte mit Sicherheit an seinem Verstand gezweifelt, wenn die Polizistin nicht erneut so schrill aufgeschrien hätte, als würde sie etwas Schreckliches sehen.
Den Grund dafür sah Tom, als es ihm endlich gelang, sich aus seiner Starre zu lösen und sich zu ihr umzudrehen. Der Boden zu seiner Linken – und damit unter seinen Füßen – brach in rasender Geschwindigkeit auseinander. Die Polizistin hatte noch versucht, sich mit einem Sprung an die Wand in Sicherheit zu bringen, was sich jetzt jedoch als fatale Fehlentscheidung erwies. Auch die Wand hatte einen Teil ihrer Stabilität verloren und dort, wo bislang nur wenige haarnadelfeine Risse zu sehen waren, klafften auf einmal mehrere Spalten auf.
Und dann begann der gesamte Gang zusammenzubrechen.
»Raus hier!«, schrie einer der SEK-Männer, und gleichzeitig flammten zwei weitere Lampen auf und zerrissen das Chaos um sie herum mit zusätzlichen Lichtfingern. Sandra kreischte in Todesangst auf, während sich ein Tentakel um ihren Fußknöchel wand und sie mit sich in den Bodenspalt hinabriss.
Tom versuchte panisch, sie zu greifen, aber er kam zu spät. Er starrte gerade noch in die schreckensweiten Augen der Polizistin, die ihre Hände nach oben riss, um irgendwo Halt zu finden und dann machtlos und mit einem schrecklichen Schrei in die Tiefe stürzte.
*
David hatte Angst. Er wusste, dass sie verloren waren. Der kleine Robbie lag in seiner Armbeuge und schlief, vielleicht war er auch bereits ohnmächtig. David hatte sein Bestes gegeben, um sie hier herauszubringen, aber letztlich hatte er alles nur noch verschlimmert und sie endgültig immer weiter weg von dem eingestürzten U-Bahnhof und damit in den sicheren Tod geführt.
Er hatte nicht mehr die geringste Ahnung, wo sie jetzt waren. Das Gestein um sie herum war von einem leicht grünlichen Schimmer durchtränkt, der gerade so viel Licht spendete, dass David grobe Umrisse wahrnehmen konnte.
Nicht, dass es ihm bislang etwas zur Orientierung genutzt hätte. Er vermutete, dass sie schon längst den Bereich verlassen hatten, durch den die Bauarbeiter einst den U-Bahn-Tunnel getrieben hatten. Sie waren durch niedrige Gänge gekrochen, in denen teilweise brackiges Wasser stand, das widerlich schmeckte, aber immerhin ihren ärgsten Durst stillte, und hatten sich durch Spalten gezwängt, hinter denen er sich jedes Mal einen Ausgang oder zumindest die Spur menschlicher Zivilisation erhofft hatte.
Vergebens.
Robbie hatte irgendwann nicht mehr weitergewollt. Aber David hatte ihn immer wieder dazu gebracht, sich aufzurappeln und neben oder hinter ihm herzutrotten. Schließlich hatten sie Abzweigungen gefunden, an denen seltsame Markierungen angebracht waren, waren von dort aus bizarr geformten Mulden gefolgt, die aussahen, als wären sie in den Boden geschliffen worden, waren durch schiefe Gänge und Röhren gekrochen, die nach oben zu führen schienen – aber die Hoffnung, über sie einen Ausgang zu finden, hatte sich jedes Mal zerschlagen.
David hatte zunehmend das Gefühl für Zeit und Raum verloren. Er war in ein unendliches Labyrinth aus Steinen und Gängen geraten, komplex wie eine überdimensionale Bienenwabe. Ein fremder Kosmos, in dem sie nichts als Eindringlinge waren, die man nicht mehr in die Außenwelt entlassen konnte – weil sie dann unweigerlich die Geheimnisse der unterirdischen Sphäre verraten würden.
Die Zeit war gekommen. Die Zeit des Abschieds. Und der Wiedererneuerung.
Immer wieder hatte Davids Verstand ihm seinen Dienst verweigert, und dann war er in einen Dämmerzustand abgedriftet, der ihm vollkommen unmögliche Dinge vorgaukelte. Manchmal hatte er ein entferntes Schaben gehört, gefolgt von einem Rascheln und Poltern. Dann hatte er geglaubt, dass sich irgendetwas durch die Gänge und Spalten hier unten schlängelte, als wäre etwas in dieser unterirdischen Welt zu Hause, in der Menschen aus gutem Grund nichts zu suchen hatten.
Das war natürlich Blödsinn. Oder?
Es machte keinen Unterschied. Er dachte jetzt immer häufiger an seine Freunde, aber auch an seine Eltern. Die Vorstellung tat weh, dass er sie alle vielleicht nie wiedersehen würde. Alltagsszenen kamen ihm in den Sinn, stachen wie Splitter in seine Seele: sein zehnter Geburtstag, an dem ihn seine Eltern mit einem Mountainbike überrascht, oder die Skiausflüge in die Berge, bei denen sie so viel Spaß gehabt hatten. Verrückte Sprayaktionen mit seinen Freunden. Oder auch Gesprächsfetzen, ein Blick, das Gefühl von Vertrautheit, seine erste Nacht mit einem Mädchen …
Robbie bewegte sich unruhig, murmelte etwas, das er nicht verstand. David stieß erleichtert die Luft aus. Viel schlimmer als die Vorstellung, dass er hier sein vorzeitiges Ende finden konnte, war die Angst davor, dass der Junge in seinen Armen sterben könnte.
Die stinkende Brühe, die sie hier unten getrunken hatten, hatte nur kurzfristig ihren Durst gestillt, und das auf eine Weise, die ihn nicht gerade voller Begeisterung die nächste Pfütze suchen ließ. Inzwischen war auch der Hunger zu einem ständigen Begleiter geworden und ihre Vorräte – zwei Müsliriegel und eine Packung Schokodrops – schon längst verspeist. Allzu lange würden sie unter diesen Bedingungen nicht durchhalten.
Er verlagerte das Gewicht, um seinen schmerzenden Rücken zu entlasten. Und lag dann wieder da und starrte in das grüne Fastdunkel, das ihn auf eine beinahe beruhigende Art umhüllte.
Wie vereinzelte Blitzlichter überfielen ihn die Erinnerungen an die Träume, die ihn in dunklen Nächten immer wieder aufgeschreckt hatten. Manchmal waren es gesichtslose, sich auf unverständliche Art schlängelnde Kreaturen, die vor seinem inneren Auge aufblitzten, viel häufiger aber die Erinnerungsfetzen an das gesichtslose Mädchen im tiefsten Schoß der Erde.
Er glaubte sich in einer Höhle zu befinden, tief versteckt unter der Erde, weit entfernt von jeglicher menschlichen Behausung. Er glaubte die köstliche Einsamkeit zu spüren, die nur dort existieren konnte, wo es völlige Hingabe gab.
Er stand an einem unterirdischen See, der ruhig und wie unberührt vor ihm lag. Seine Oberfläche glänzte silbern, aber als er sich ihr näherte, schien sein Spiegelbild vor ihm zurückzuweichen. Vorsichtig trat er weiter an die Lache heran. Etwas formte sich in ihrer Mitte. Es hatte nur ganz entfernt Ähnlichkeit mit einem Menschen, war viel länger gestreckt und von ungewöhnlicher Form, pulsierte in einem fremdartigen Rhythmus und schimmerte auf eine Weise, die sich nicht beschreiben ließ.
Er spürte den unwiderstehlichen Sog, der von der Erscheinung ausging. Langsam schlich er sich noch ein Stück näher an die Lache heran, bis die silberne Flüssigkeit seine nackten Füße umspielte. Sie fühlte sich angenehm kühl und erfrischend an, und sie lockte ihn weiter, schon stand er bis zu den Knöcheln in ihr.
Erstaunt sah er, wie sich jetzt das Spiegelbild verwandelte, zu einem zierlichen Mädchen mit einem schmalen Gesicht und dunklen kinnlangen Haaren wurde, dann wieder zerfloss, um sich in ständiger Bewegung immer neu zu formen.
Er trat noch ein kleines Stück tiefer in die silbrige Flüssigkeit hinein. Im selben Augenblick erhob sich die merkwürdige Erscheinung, nahm vertraut menschliche Züge an und begann sich in eine dreidimensionale Säule nach oben zu strecken, die die Umrisse eines Frauenkörpers hatte – und auch wieder nicht.
Die Zeit der Begegnung war gekommen.