05
Es kam David vor, als würde ihre Flucht schon Ewigkeiten dauern. Dabei konnte es gerade einmal eine Stunde her sein, dass der Feuerpilz unter den maroden Gleisen der U-Bahn hervorgeschossen war und sie der Pesthauch der Tiefe gestreift hatte.
Robbie strauchelte. »Ich kann nicht mehr.«
David nickte. Ihm erging es nicht besser. Kaum hatten sie den U-Bahn-Tunnel verlassen, da waren sie in eine ganz andere Welt eingetaucht. Mit letzter Kraft waren sie über einen Schuttberg geklettert, der aus zerschmetterten Ziegelsteinen, Mörtel und Putzresten bestanden hatte, Relikte aus einer fernen Vergangenheit, die direkt neben einem modernen U-Bahn-Tunnel vollkommen fehl am Platz wirkten. Dann waren sie in einen Gang geraten, der sich wie eine Schlange durch den Untergrund wand – und nun das hier.
Vor ihnen tat sich eine höhlenförmige Erweiterung auf, deren Luft von einem gelblich grünlichen Wabern erfüllt war. Wie das David hasste. Er hatte keine Angst, hier von Trümmern begraben zu werden oder sich in dem Labyrinth unterhalb der Stadt zu verirren. Er hatte Angst, hier wieder zu dem kleinen Kind zu werden, das im Heizungskeller seiner Schule vor einer Kreatur davongelaufen war, die seitdem eines kontinuierlich verfolgt zu haben schien: Das Netz um ihn immer enger zu ziehen, um ihn schließlich hier in ihre Gewalt zu bekommen.
Wie hatte er nur glauben können, ihr jemals entkommen zu können?
»Da!«, stieß Robbie hervor. Er deutete mit zitternden Fingern nach vorne. »Da ist es doch hell!«
David blinzelte. Tatsächlich. Vor ihnen, auf der anderen Seite der Höhle, zeichnete sich flackernder Lichtschein ab. David stolperte einen Schritt vor, um sofort wieder keuchend zu verharren. Er spürte ein merkwürdiges Kribbeln in seinen Gliedmaßen. Die beißenden Ausdünstungen der Tiefe, die wie ein galliger Geschmack auf seiner Zunge lagen und jeden Atemzug zur Qual werden ließen, würden noch ihren Tod bedeuten, wenn sie nicht ganz schnell hier rauskamen.
»Wo ist es jetzt?« Robbies Stimme klang schrill. »Wo ist das Licht?«
David kniff die Augen zusammen. Das Flackern war in sich zusammengebrochen und hatte etwas anderem Platz gemacht, einem unangenehmen, diffusen Schein, der mit einer Farbe durchtränkt war, für die David keine Worte fand. Es war, als kröche etwas von dort hinten in die Höhle hinein, etwas, das sich mit menschlichen Augen nicht erfassen ließ …
»Ich mag das hier nicht«, keuchte Robbie. »Ich will hier weg!«
Ja, das wollte David auch. Und wie er das wollte, wie er alles grünlich graue Wabern hasste und alles, was ihn zurückwarf in die Zeit seiner Kindergewissheit: Dass er ein Gezeichneter war, ein Fremder in der Welt der Menschen, ein böses Kind, das hier nicht hingehörte.
Aber es gab kein Zurück. Wie um ihn zu bestätigen, ertönte hinter ihnen erneut ein schreckliches Krachen und Bersten. Durch den Boden lief ein Zittern, und die Wände schienen für einen Moment aus Wackelpudding zu bestehen.
»Komm«, stieß David mühsam hervor. »Wir müssen weiter.«
Robbie wurde erneut von einem Hustenanfall geschüttelt, und ein Zittern ging durch seinen kleinen Körper, bevor er sich wieder gehorsam in Bewegung setzte. David war nahe daran, in Panik zu geraten. Das passt doch hier alles nicht zusammen, dachte er. Auf der einen Seite der nie in Betrieb genommene U-Bahnhof, auf der anderen die Spuren uralter Gewölbe, in denen sie sich wie in einem Labyrinth zu verirren drohten. Was, wenn sie geradewegs in ihr Verderben liefen?
Der Gedanke ließ ihn unsicher taumeln. Robbie, dessen Hand er eine Spur zu fest umklammerte, blieb nichts anderes übrig, als der Bewegung zu folgen. »Ist dort drüben der Ausgang?«, krächzte er.
David schüttelte den Kopf. »Kein Ausgang.« Er schüttelte nochmals den Kopf, als er begriff, was er da gesagt hatte. Er durfte die Hoffnung des Jungen nicht zerstören. Selbst dann nicht, wenn er selbst glaubte, verloren zu sein. Und sich immer mehr in die Gefühle und Gedanken seiner Kindheit verstrickte, in die Gewissheiten eines kleinen Jungen, die der spätere Jugendliche längst sicher und tief in sich begraben geglaubt hatte.
»Ich glaube, wir müssen nur noch ein kleines Stück weiter …«
Robbie machte sich von seiner Hand los, stolperte ein paar Schritte zur Seite – und hielt sich dann an der brüchigen Wand fest. Wie schon ein paar Mal zuvor rang der tapfere kleine Junge so heftig nach Atem, dass David richtig Sorge um ihn hatte. Wenn David ihn nicht ganz schnell hier herausbrachte, würde er jämmerlich verrecken.
Wie um seine Worte zu bestätigen, sackte Robbie langsam an der Wand in sich zusammen. »Ich hab Durst«, stöhnte er. »Mein Hals … mein Hals tut weh.«
»Mir auch, verdammt.« David fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen. »Wenn du hier irgendwo einen Getränkeautomaten siehst, sag mir Bescheid, ja?«
Der Fünfjährige zuckte zusammen, als sei er geschlagen worden. »Ich … ich wollte doch nur …«
Er kämpfte sichtlich mit den Tränen, und David verfluchte sich selbst für seine Worte. Es reichte schon, dass sie hier unten gefangen waren und er sich kaum noch uralter Vorstellungen und Ängste erwehren konnte – er durfte Robbie nicht auch noch verrückt machen.
*
Auf den Monitoren waren nichts weiter als tanzende, in sich verschwimmende Bilder zu erkennen. Grün-graue Schemen vermischten sich mit Flecken erstickender Schwärze, die alles verschluckten, was eben noch deutlich sichtbar gewesen war. Kurz zuvor war da noch etwas anderes gewesen, etwas, das den MPU-Projektleiter Tom Wilkens genauso alarmiert hatte wie die Eindringlinge in seinem Kontrollraum.
Er war sich sicher gewesen, dort eine Gestalt gesehen zu haben. Einer der Vermissten? Oder ein Unbekannter, der auf anderem Weg in die zerstörte, in Flammen aufgegangene U-Bahn-Anlage gelangt war?
»Was ist da unten verdammt noch einmal los?«, polterte Herbert Renegard, der selbstherrliche Einsatzleiter des Rettungsteams, den Tom von der ersten Sekunde seines Eintretens an gefressen hatte.
»Ich … gesehen … dann wieder … weg …«, drang es kaum verständlich aus den Lautsprechern hervor, die die Funksignale der Helmmikrofone von den Rettungskräften vor Ort wiedergaben.
Renegard gab einem der Techniker zu verstehen, dass er die Verbindung zum Suchtrupp feintunen sollte. Der Mann nickte hastig und drehte an den Einstellungen seines Mischpults herum, das er erst kurz zuvor auf dem freien Platz neben der Energieversorgung aufgebaut hatte.
»Hagen?«, fragte Renegard jetzt in eines der Mikrofone der Apparatur. »Können Sie mich hören?«
»Klar und deutlich.«
»Dann sagen Sie uns, was bei Ihnen los ist«, donnerte Renegard. »Haben Sie jemanden aufgespürt?«
»Wir haben kurz jemanden gesehen …«, es knackte und knirschte, dann war die Stimme des Suchtrupp-Leiters wieder zu hören, »… dann war er wieder verschwunden. Wer auch immer es war: Wir müssen ihn schnell rausholen. Hier ist kaum noch Sauerstoff in der Luft.«
Einer der Männer in der Zentrale wollte gerade antworten, als Susan herangestürmt kam, ihn an den Schultern packte und zur Seite schob, als sei er eine Strohpuppe. Bevor sich der Mann von seiner Überraschung erholen konnte, war Susan schon an ihm vorbei und versuchte nun ebenfalls Renegard bei den Schultern zu packen. Aber dieser entzog sich ihr mit einer raschen Bewegung.
Susan schien das noch nicht einmal zu bemerken. »Robbie!«, schrie sie. »Das ist Robbie! Rettet ihn! Lasst ihn nicht ersticken!«
Renegards Kopf flog zu ihr herum. »Bitte«, sein Gesicht wirkte wie das eines angriffslustigen Raubvogels, »halten Sie sich zurück. Sonst muss ich Sie leider aus unserer Zentrale entfernen lassen.«
Unsere Zentrale?, dachte Tom Wilkens sauer. Das war wirklich die Härte. Es war schon schlimm genug, dass Renegard mit seinem Stoßtrupp SEK-Männer und einer Handvoll Techniker hier aufgetaucht war, um den Kontrollraum des Mobile-Phone-Underworld-Projekts wie selbstverständlich in Beschlag zu nehmen. Deswegen war dieser improvisierte Leitstand für die Rettungskräfte aber immer noch nicht seine Zentrale.
Ganz im Gegenteil, sie war Toms Allerheiligstes.
»Aber … Robbie …« Susans Hände krampften sich so fest um die Stuhllehne, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Wo ist er?«
Die Frau war am Ende ihrer Kraft, das war Tom sofort klar gewesen. So ein Schwachsinn, sie ausgerechnet hier als Zeugin befragen zu wollen. So hysterisch, wie sich die Mutter des von der Tiefe verschluckten Fünfjährigen aufführte, würde sie wohl eher die Gesichter der SEK-Männer zerkratzen, statt sich von ihnen rauswerfen zu lassen.
»Wen habt ihr da unten aufgetrieben?«, fragte nun wieder Renegard bemüht sachlich ins Mikrofon.
Das fragte sich auch Tom. Wie er inzwischen ebenfalls erfahren hatte, war die ungefähr sechzehnjährige Maya zusammen mit drei anderen Jugendlichen dort unten gewesen – weiß Gott, was die dort getrieben hatten. Je länger Tom darüber nachdachte, umso überzeugter war er, dass der Einsturz im stillgelegten U-Bahn-Tunnel nicht das Geringste mit ihrem Experiment zu tun gehabt hatte, bei dem sie versehentlich eine viel zu hohe Dosis Mikrowellenstrahlung in den Untergrund geschickt hatten.
Er hatte im Auftrag ihrer Firma die Voraussetzungen für den Handyempfang dort unten testen sollen, ein harmloses Experiment mit zielgerichteter Strahlung zum Nutzen der großen Netzbetreiber, gefolgt von langweiligen Auswertungen mithilfe seiner selbstgeschriebenen Spezialsoftware. Was aber hatten die Jugendlichen in den vergessenen U-Bahn-Stollen getrieben? Ein fröhlich-aggressives Spiel mit Sprengstoffen, das außer Kontrolle geraten war? Den Test von Feuerwerkskörpern?
Oder hatten sie ganz bewusst den unterirdischen Bahnhof in die Luft gesprengt?
»Rauchschwaden … alles voller Rauchschwaden …«, drang Hagens Stimme heiser aus den Lautsprechern. »Die dringen selbst durch unsere Atemmasken durch. Und sie nehmen uns die Orientierung.«
Wie um seine Worte zu verdeutlichen, verschwamm das Bild auf dem Monitor vollständig. Es war nicht nur Rauch, den Tom dort zu sehen glaubte, sondern irgendetwas … anderes. So, als kröche etwas direkt aus seinen geheimsten Albträumen auf den brillanten Flachbildschirm.
Er schien nicht der Einzige zu sein, der plötzlich deutliches Unbehagen verspürte. Die leisen Gespräche, mit denen sich die Techniker bislang verständigt hatten, verstummten vollständig, und auch Susans hektischer Atem schien auszusetzen.
»Schafft Robbies Mutter hier raus«, befahl Renegard hastig, »und holt mir diese Maya. Vielleicht erkennt sie auf unseren Videoaufnahmen, wen Hagens Leute aufgestöbert haben.«
*
Hagen rückte die unzuverlässige Atemmaske zurecht und starrte nach oben in Richtung der Einsturzstelle, durch die sie in diesen unterirdischen Albtraum geraten waren. Das Seil war noch da, die rettende Nabelschnur, die sie mit der Außenwelt verband.
Irgendetwas in seinem Unterbewusstsein sagte ihm jedoch, dass diese Verbindung nicht mehr lange bestehen würde.
Es war nicht das erste Mal, dass er nach Verschütteten suchte. Aber so etwas wie das hier hatte er noch nie erlebt. Erdbeben, Brände, Gasexplosionen – und zusammengebrochene Häuser oder alte Brunnen, die ihre Opfer scheinbar verschluckt hatten. Das waren seine alltäglichen Wirkungsstätten als Rettungsspezialist. Aber auf der Karlsstraße war ein Baum scheinbar wie von Geisterhand in die Tiefe gesogen worden, nach Tagen war dann plötzlich die Straße nachgesackt und hatte einen kompletten Wagen samt eines auf dem Rücksitz sitzenden kleinen Jungen verschluckt und zu guter Letzt auch noch einen zur Rettung herbeigeeilten Polizisten. Eine ziemlich heftige Geschichte, deren Begleitumstände fernab jeder Routine lagen.
Einer seiner Männer stieß ihn mit dem Ellbogen an und deutete zur Seite. Hagen kniff die Augen zusammen und versuchte das zu erkennen, was Carlson entdeckt zu haben glaubte.
Tatsächlich, da war eine fast nicht wahrnehmbare, schattenhafte Bewegung. War dort wirklich die Gestalt hin verschwunden, die für wenige Sekunden in ihrem Blickfeld erschienen war?
»Was ist da bei euch los?«, hörte er Renegards Stimme in seinem Helm. »Seid ihr eingeschlafen?«
»Nein.« Hagen hustete trocken, ein Laut, der in den Lautsprechern wie ein Pistolenschuss knallte. »Aber ich weiß nicht, ob wir hier wirklich weiterkommen. Der ganze Mist kann jederzeit über uns zusammenbrechen. Und dieser Gestank, der selbst durch unsere Atemmasken dringt – das ist mehr als beunruhigend.«
»Aber … Feuer … ist aus?« Es krachte so laut in Hagens Helmlautsprecher, dass er trotz der schlechten Verbindung automatisch die Lautstärke herunterregelte.
»Das Feuer ist erstickt«, bestätigte Hagen mit rauer Stimme. »Es geht mir jetzt jedoch um unseren Eigenschutz. Wir werden einen Roboter einsetzen, der den Hohlraum untersucht, auf den wir gerade gestoßen sind.«
»Dann beeilt euch und holt zuvor alle raus, die noch da unten sind«, befahl Renegard. »Und haltet euch nicht mit technischen Spielereien auf!«
Carlson, der dem Dialog dank seiner eigenen Helmlautsprecher hatte folgen können, drehte sich zu Hagen um und streckte den Mittelfinger vor. In ihrer Zeichensprache hieß das: »Dieses Arschloch da oben! Hat keine Ahnung, aber kommandiert uns herum.«
Hagen nickte grimmig. Dann gab er sich einen Ruck, drückte sich an Carlson vorbei und richtete den Strahl seiner starken Taschenlampe in den Hohlraum, den sie entdeckt hatten.
Renegard mochte ein Arschloch sein. Aber er hatte auch recht. Bis sie einen ihrer kleinen, mit einer Videokamera ausgerüsteten Spezialroboter einsetzen könnten, würden sie nur unnötig Zeit verlieren. Zeit, die sie dringend benötigten, um die Jugendlichen aufzustöbern – und den Fünfjährigen, der mitsamt dem Auto seiner Mutter in das Chaos hier unten hinabgestürzt war. Und natürlich auch den Polizisten.
*
David musste sich eingestehen, dass sie schon viel zu lange unterwegs waren. Ein üblicher aufgegebener U-Bahn-Tunnel müsste irgendwo zu Ende sein und führte entweder in eine Sackgasse oder wieder nach oben ans Tageslicht. Aber weder das eine noch das andere war hier der Fall. Das Labyrinth aus Gängen und Tunnel wurde immer unüberschaubarer, so als verwandle es sich nach und nach zu etwas Unendlichem. Gleichzeitig wurden die Durchgänge immer schmaler, schlossen sich die Wände mehr und mehr um sie zusammen, sodass schließlich nicht nur er selbst öfter den Kopf einziehen und gebückt weitergehen musste, sondern auch Robbie mehrfach an einem Vorsprung anschlug.
Häufig passierten sie jetzt Pfützen mit abgestandenem Wasser. Obwohl David es dem Jungen verbot, kniete der sich bereits an der ersten Pfütze nieder und schlapperte sie wie ein Hund aus. Danach wischte er sich den Mund ab, aber nur, um sich auf gleiche Weise über die nächste Wasserlache herzumachen, bis sein Durst gestillt war. Von seiner rauen, ausgetrockneten Kehle angetrieben folgte David an der nächsten Stelle Robbies Beispiel. Das Wasser schmeckte so ekelhaft, wie es roch, aber es befeuchtete die nach Flüssigkeit lechzenden Lippen und Mund, sodass auch er selbst sich den Inhalt gleich mehrerer Pfützen hintereinander einverleibte.
Danach hatte sich ihr Zustand jedoch in keiner Weise verbessert, sondern eher noch verschlimmert. Ihre Beine wurden zunehmend schwerer und ihre Bewegungen immer ungelenker. David war mehr als einmal versucht, sich auf den Boden zu hocken und sich seiner Erschöpfung hinzugeben. Aber dafür nagten Unruhe und Furcht doch zu sehr an ihm, ganz abgesehen von der Sorge um den kleinen Jungen, die ihn immer weitertrieb, Schritt für Schritt, Abzweigung für Abzweigung und Tunnel für Tunnel.
Schließlich kam es ihm vor, als wären sie stundenlang nur im Kreis gegangen. Doch das war ein Irrtum. Waren sie zu Beginn noch über die Art Betonboden gegangen, die man allgemein im U-Bahn-Bau verwendete, so erkannte er im Schummerlicht inzwischen immer häufiger schimmligen Backstein, in dessen Ritzen sich seltsame Schatten bewegten, sowie grob behauene Wände. Er hatte den Eindruck, dass sich die Gänge und Stollen immer tiefer in die Erde wanden, statt sie endlich hier herauszuführen. Und er nahm vermehrt Bewegungen vor und hinter ihnen wahr, die dem unfassbaren Schrecken aus seinen düstersten Träumen ähnelten.
Das größte Rätsel dieser unterirdischen Welt aber blieb das matte, meist grünlich graue Licht, das immer wieder vor ihnen zu fliehen schien, um dann zurückzukehren und ihnen den Weg zu leuchten. David fehlte die Kraft, darüber nachzudenken, was seine Quelle sein könnte. Im Grunde genommen spielte es auch keine Rolle. Es war einzig und allein wichtig, dass sie einen Weg zurück zur Oberfläche fanden.
Mit einem Mal weitete sich der schmale Gang, in dem sie schweigend und erschöpft hintereinander hertrotteten, und sie gelangten in eine Halle oder vielleicht auch eine Höhle, die ihren angestrengten Atem und das Geräusch ihrer Schritte in zigfach gebrochenen Echos zurückwarf. Das schummrige Licht ließ sie kaum die Hand vor Augen erkennen, aber David spürte die enorme Weite, die sie umgab.
»Wo geht es jetzt lang?«, fragte Robbie zaghaft.
David hätte ihm gerne eine vernünftige Antwort gegeben. Aber das konnte er nicht. Er hatte keine Ahnung, wohin sie sich in diesem unerträglich wabernden Halbdunkel hinwenden mussten, das sie hier fest umschlungen hielt. »Du weißt es selbst nicht, oder?« Robbies Stimme versagte ihm fast seinen Dienst. »Wir kommen hier nie wieder raus, oder?«
»Ach, Quatsch«, antwortete David mit rauer Stimme. »Natürlich kommen wir hier wieder raus. Irgendwo muss es doch einen Ausgang geben!«
Er packte Robbies Hand und zog ihn mit sich, als ihn ein Geräusch innehalten ließ. Es begann als fernes Brummen, steigerte sich langsam zu einem lauteren Rumpeln … Und dann, von einem Moment auf den anderen, veränderte sich alles.
Noch bevor David auch nur im Entferntesten erfassen konnte, was passierte, hielt etwas Dunkles auf sie zu: ein Schatten, der fast vollständig von ihrer Umgebung aufgesogen wurde. Er breitete sich aus und verdichtete sich gleichzeitig, als wolle er ihnen vollends die Luft zum Atmen nehmen, und nahm dabei eine Schwärze an, der etwas Widernatürliches anhaftete. Es schien, als würde ein leiser Ruck durch die Wirklichkeit laufen, als würde sich die Realität um ein winziges Stückchen in jene Richtung verschieben, wo der Wahnsinn nistete. Während David Robbie brutal mit sich zog, begann sich in seinem Kopf ein Karussell zu drehen, das jeden vernünftigen Gedanken mit sich fortriss.
Sie kamen nicht weit. Der Schatten begann sie zu umfließen. David hielt abrupt an und wich in der gleichen Bewegung auch schon zurück. Robbie fing an zu wimmern, als er ihn mit sich zog – und der Schatten sie mit der erstickenden Hartnäckigkeit einer Nebelwand einhüllte, vor der es kein Entkommen gab.
Es war der lang erwartete Durchbruch in eine andere Welt, die all das verschlang, was bislang Davids Denken und Fühlen ausgemacht hatte. Das schattenerfüllte Halbdunkel wich einer anderen Dimension. Zuerst erkannte er nichts Konkretes, bis sich schließlich die neue Umgebung schemenhaft aus dem Nichts herausschälte, Konturen bildend, die er erst halbwegs erriet und dann mit so glasklarer Deutlichkeit wahrnahm, dass es fast schmerzte …
Davids Herz setzte für einen Schlag aus. Dann für einen weiteren. Als es weiterhämmerte, geschah es mit mehrfacher Schnelligkeit und so hart, dass er am ganzen Leib zu zittern begann …
Für einen winzigen Moment hatte er das Gefühl, eine Woge aus kompaktem schwarzem Nichts auf sich zugleiten zu sehen. Irgendetwas war falsch an dieser verschlingenden Schwärze, auf entsetzliche, nicht in Worte zu fassende, aber spürbare Weise falsch. Alles in ihm schien nichts weiter als ein einziger Warnschrei zu sein, ein Nicht-Begreifen, reine Fassungslosigkeit …
David stolperte zurück und riss die Hände nach oben. Da war etwas, das nach ihm greifen wollte, dessen war er sich plötzlich sicher, dann glaubte er auch schon zu spüren, dass ihn das Etwas berührte, erst sanft, dann fordernd, und schon fuhr das Etwas grauenhaft real und blitzschnell mitten in seinen Brustkorb … etwas Dünnes, sich Windendes. Er stieß einen erstickten Schrei aus, wollte sich wehren. Doch seine Reaktion kam zu spät. Bevor er überhaupt begriff, wie ihm geschah, zog sich die schattenlose Kraft auch schon wieder zurück, und der Spuk war vorbei.
Noch ein paar weitere Schritte taumelte er rückwärts, bis er sich wieder fangen konnte. Seine Umgebung veränderte sich währenddessen abermals. Ein grünliches Licht brach phosphoreszierend aus der schwarzen Finsternis hervor. Wieder dauerte es nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor es sich abermals veränderte, und diesmal so massiv, dass er nicht mehr als ein Stöhnen hervorbringen konnte …
Die Zeit selbst schien sich aufzulösen.
Und Robbie und er gleich mit ihr.
*
»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, schnappte Carlson. »Gleich fällt uns der ganze Scheiß hier auf den Kopf!«
Hagen nickte zustimmend. Er hatte die anderen Männer bereits hochgeschickt. Eigensicherung war etwas, das sie in ihrem Gewerbe sehr ernst nahmen – einsame Helden, die immer wieder ihr Leben riskierten, waren in diesem Beruf fehl am Platz.
»Der Schacht verengt sich dort vorne.« Er hielt die Taschenlampe ein Stück höher und versuchte hinter den Schwaden so viel wie möglich zu erkennen. »Es sieht so aus, als hätte hier einmal ein Gang langgeführt.«
»Kann sein«, brummte Carlson. »Aber der ist jetzt mit Sicherheit zugeschüttet. Hier werden wir niemanden mehr finden!«
*
Mayas Hände zitterten. Viel schlimmer war jedoch das Beben in ihrem Inneren, das sie erfasst hatte, als der alte U-Bahn-Tunnel begonnen hatte, in sich zusammenzubrechen. Es waren schreckliche Sekunden gewesen, in denen einzig der Gedanke sie leitete, so schnell wie möglich aus der Unterwelt zu fliehen. Erst als sie losgelaufen war und schon ein paar Schritte hinter sich gebracht hatte, hatte sie sich zu David umdrehen und ihm ein paar Worte zurufen können. Aber der Idiot schien nicht schnell genug reagiert zu haben. Er war entgegen ihrer Erwartung gar nicht hinter ihr. Hatte er denn nicht begriffen, dass sie alles getan hätte, um ihn zu retten – wenn er ihr nur im rechten Moment ein Signal gegeben hätte, dass er ihre Hilfe benötigte? Hatte er bis zuletzt nicht verstanden, dass sie ihn liebte?
Als dann ein Teil der Wandverkleidung neben ihr explodierte und einen giftig-grünen Trümmerregen auf sie ausgespien hatte, vor dem sie sich nur mit einem riesigen Satz zur Seite hatte in Sicherheit bringen können, war Maya endgültig machtlos. Der blanke Horror schien sie fremdzuleiten. Es war zwar fürchterlich zu wissen, dass sie jeden Moment von einem Trümmerstück erschlagen werden könnte. Aber viel schlimmer war, dass sie weder David noch die anderen mehr in ihrer Nähe wusste.
Vielleicht waren Nico, Jana und David ja schon tot. Oder ihre einzigen Freunde rangen gerade um jeden Atemzug in dieser fürchterlichen Ausdünstung der Tiefe, die auch ihr fast zum Verhängnis geworden war. Es erschien Maya wie blanker Hohn, dass sie es als Einzige geschafft hatte, den frisch entstandenen Krater hochzuklettern, bis sie von helfenden Händen herausgezogen worden war.
Und nun war sie hier, in einem mit Geräten voll gestopften Raum, der von Schweiß und dem Eigengeruch der vielen Apparate erfüllt war. Zu viele Männer in Uniformen, zu viele Techniker – einfach zu viele Menschen auf engstem Raum. Und das, wo sie dringend Ruhe gebraucht hätte, um ihre überbordenden Gedanken und Gefühle wieder in den Griff zu bekommen.
Sie wäre am liebsten abgehauen. Ganz im Gegensatz zu dieser Susan, die sich den SEK-Männern mit Händen und Füßen widersetzte, als diese sie aus dem Raum hatten werfen wollen.
»Da«, sagte einer der Techniker plötzlich so laut, dass Maya erschrocken zusammenfuhr. »Jetzt haben sie jemanden!«
»Einer … nein zwei …«, drang Hagens aufgeregte Stimme aus den Lautsprechern. »Mensch, Leute, wir haben hier zwei von den Vermissten gefunden. Und sie leben!«
Maya fuhr zum Bildschirm herum. Sie spürte, wie ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken rann. Da waren tatsächlich zwei Gestalten, schmale Typen mit verdreckten Gesichtern und zerrissener Kleidung.
Eine der Gefundenen fuhr taumelnd zu Hagen herum, und deren Gesicht erschien in voller Größe auf dem Monitor.
»Jana!«, keuchte Maya. »Das ist Jana!«
Hagen sah an Jana vorbei, und damit geriet der Junge hinter ihr in Mayas Blickfeld.
»Nico!« Maya spürte, wie ihre Knie weich wurden. »Es sind Jana und Nico!«
»Wir haben zwei von ihnen identifiziert«, sagte Renegard grimmig. »Jana und Nico. Jetzt fehlen uns noch dieser David, der Fünfjährige – und natürlich Weber. Irgendeine Spur von ihnen?«
Hagen schüttelte so heftig den Kopf, dass das Bild auf dem Monitor sich verzerrte. »Nein. Der Gang vor uns ist verschüttet, da müssten wir uns erst mal ein Stück durchwühlen.«
Renegard nickte grimmig. »Das lassen Sie mal schön bleiben. Nichts wie rauf mit den beiden. Und, Hagen – keine Alleingänge mehr. Sobald sie oben sind, setzen Sie die Roboter ein.«
»Aber«, protestierte Hagen, »wenn wir hier zwei der Jugendlichen gefunden haben, kann der Dritte nicht mehr weit sein.«
»Außerdem haben Sie selbst gesagt, dass wir durch den Einsatz der Roboter zu viel Zeit verlieren«, vernahmen sie nun ergänzend Carlson.
»Vollkommen richtig«, bestätigte Renegard. »Das war eben noch die richtige Entscheidung. Aber das ist sie jetzt nicht mehr …« Er zögerte fast unmerklich, bevor er weitersprach. »Oben am Trichterrand ist erneut etwas in Bewegung geraten. Ich fürchte, da wird gleich etwas nachrutschen. Also machen Sie, dass Sie da rauskommen! Sofort!«
»Okay, verstanden«, sagte Hagen hastig. »Wir kommen nach oben.«
Susan stieß einen erstickten Laut aus. »Und was ist mit Robbie? Ihr könnt doch nicht einfach Robbie dort unten zurücklassen!«
»Das werden wir auch nicht«, sagte Renegard leise. Er drehte sich zu Susan um. »Ich verspreche Ihnen, wir holen Robbie dort raus.«
Susan verstummte. Sie starrte fassungslos auf den Monitor, der jetzt zeigte, wie Hagen und Carlson die beiden vollkommen erschöpften Jugendlichen stützten, um sie nach oben zu bringen.
»Ich muss raus.« Maya machte auf dem Absatz kehrt. Nachdem sie wusste, dass Nico und Jana in Sicherheit waren, hielt sie hier nichts mehr. »Ich muss zu meinen Freunden …«
Ein plötzlicher Aufschrei hielt sie zurück. Entsetzt wandte sie sich erneut zur Monitorwand um.
»Es bricht ein«, rief jemand quer durch den Raum. »O mein Gott … Die ganze Straße bricht ein!«
Maya starrte fassungslos auf den Bildschirm, auf dem Jana und Nico zu sehen waren. Verwaschene Bewegungen, die darauf hindeuteten, dass sie von den Männern des Rettungstrupps nach oben gebracht wurden. Nichts, was auf eine Katastrophe schließen ließ …
Die fand an ganz anderer Stelle statt. Das begriff sie allerdings erst, als sie zu einem weiteren Monitor hinüberblickte, auf den Renegard mit zusammengekniffenen Lippen starrte.
»Das ist in der Steinstraße«, murmelte einer der Techniker. In seiner Stimme schwang Entsetzen mit. »Da passiert genau das Gleiche wie bei uns. Nur dass es diesmal fließenden Verkehr getroffen hat. Warten Sie, wir bekommen eine erste Meldung rein … Mehrere Wagen sind eingebrochen … Die Gasleitung ist betroffen … Ich mache gleich eine Direktverbindung.«
»Eine Direktverbindung zum Innenministerium, wenn ich bitten darf«, befahl Renegard harsch. »Und sagen Sie denen, dass wir vorsorglich Terroralarm geben!«