02
»Energie!«
Tom Wilkens lehnte sich in seinem schweren, ergonomisch geformten Stuhl zurück und trommelte ungeduldig auf den Armlehnen. Er kam sich ein bisschen wie ein Raumschiffkommandant vor, der gerade den Start seines Schlachtkreuzers befohlen hatte. Das kam davon, wenn man einen fünfundzwanzigjährigen abgedrehten Gamer und Rollenspieler damit beauftragte, die Welt der Mobile Phones zu erweitern, indem man ihr nun auch den Untergrund ihrer wunderschönen Stadt einverleibte, dachte er spöttisch. Und all das nur, damit Kids und Muttis künftig ebenfalls in tief fahrenden U-Bahnen ohne Verbindungsabbrüche telefonieren und übereifrige Krawattenträger das mobile Internet bis zum Zusammenbruch traktieren konnten.
»Kleinen Moment noch«, erwiderte Angy, der einzige Lichtblick in Toms ödem Arbeitsalltag; Typ herb, aber attraktiv und auf eine Art anziehend, die ihn immer mal wieder verstohlene Blicke in ihre Richtung werfen ließ. »Ich muss schnell noch ein letztes Mal überprüfen, ob die Sensoren auch wirklich alle funktionieren, die unser Trupp in dem U-Bahn-Stollen angebracht hat.«
Tom warf einen Blick auf den Computer vor sich. Dem Programm »Sensoria«, das er zur Auswertung der Sensoren-Signale geschrieben hatte, hatte er ganz bewusst die Anmutung einer Steuerungssoftware für militärische Einsätze verliehen und dabei auf jeden Schnickschnack verzichtet. Das zahlte sich jetzt aus. Es war äußerst einfach, die verschiedenen Parameter im Auge zu behalten, und so brauchte er noch nicht einmal zwei Sekunden, bis er sich davon überzeugt hatte, dass alle Sensoren mit voller Leistung arbeiteten.
»Da ist nichts zu überprüfen«, sagte er. »Alle siebenundzwanzig Sensoren funktionieren einwandfrei.«
»Und die Videokameras?«, fragte Angy.
»Welche Videokameras?«, gab Tom irritiert zurück.
»Die wir da unten angebracht hätten, wenn uns Dr. Kaiser nicht in letzter Sekunde den Etat dafür gestrichen hätte«, sagte Angy ärgerlich. Sie ahmte die tiefe Stimme und den bestimmten Tonfall ihres gemeinsamen Vorgesetzten nach. »Was wollen Sie mit Videokameras? Ich glaube kaum, dass sie damit Strahlung aufzeichnen können.«
Tom seufzte. »Ja, was wären wir ohne unseren Kaiser. Aber wo das jetzt mit den Sensoren geklärt ist …«
»Muss ich noch die Sendeleistung feinjustieren.«
»Warum das?«, fragte Tom irritiert. »Ich dachte, es wäre alles in Ordnung.«
Angys Blondschopf tauchte zur Seite weg, und dann erfüllte ein hochfrequentes Piepsen den Raum, während sie ihre Finger über die Tastatur des Sendecomputers fliegen ließ. »Ist es ja auch. Aber Feinjustieren muss sein. Wenn das Experiment schiefgeht, reißt uns unser Kaiser höchstpersönlich den Kopf ab.«
Tom zuckte mit den Schultern. »Mag sein.« Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Soll ich dir helfen?«
»Nee, ich komme schon klar«, murmelte Angy konzentriert. »Ist ja schließlich Routine.«
Nun, Routine war das, was sie vorhatten, sicherlich nicht. Aber er ahnte, dass es nichts brachte, wenn er die zu sturen Alleingängen neigende Angy jetzt weiter drängte. Daher ließ er seine Gedanken stattdessen zu seinem eigenen privaten Kontrollraum schweifen, in den er sich heute Abend nach der Auswertung ihres Experiments verziehen würde. Er hatte sich schon oft ausgemalt, wie Angy darauf reagieren würde, wenn er ihr sagte, was er nach Feierabend so trieb …
»Na, du wirst doch nicht …«, begann Angy.
Tom schreckte aus seinen Gedanken auf. »Was werde ich nicht?«
Angy winkte ab. »Nicht du. Sondern dieses blöde Steuersystem von dem Sender … Aber warte …« Angys Blondschopf tauchte wieder in Toms Blickfeld auf. »Jetzt habe ich ihm die richtigen Flötentöne beigebracht.«
»Und das heißt …?«
»Dass wir loslegen können.«
Tom nickte erleichtert. »Also dann: Energie!«
Angy musterte Tom mit einem Blick, den er nicht einordnen konnte. »Ich gebe volle Power auf die Richtantenne«, sagte sie, bevor er eine entsprechende Frage stellen konnte. »Das wird da unten alles wegpusten, was allergisch auf Strahlung ist.«
Tom runzelte die Stirn. »Nichts reagiert allergisch auf Handystrahlung.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, murmelte Angy.
Tom nickte kaum merklich. Er war sich auch nicht sicher. Er wusste ja nicht einmal, warum er diesen beknackten Job überhaupt angenommen hatte. Eigentlich hatte er nach einer Arbeit in der Spieleindustrie gesucht, aber uneigentlich hatte in den letzten Jahren nichts wirklich geklappt, was er in dieser Richtung unternommen hatte.
Das bedeutete wohl, dass er irgendwann einmal mit einer Herzkranzverfettung hier von diesem Stuhl fallen würde, weil er sich vor lauter Frust zu viele Süßigkeiten und Softdrinks reinzog.
»Wenn nur endlich irgendetwas passieren würde«, murmelte er so leise, dass ihn Angy nicht verstehen konnte. »Wenn nur nicht immer alles so schrecklich langweilig und öde wäre …«
»… 5, 4, 3, 2, 1«, knatterte die Automatenstimme dazwischen …
*
… und das Gewimmel erstarrte. Davids Daumen fuhr auf die Auslösetaste der Handykamera … und die Plakatwand wölbte sich ihm entgegen.
Es war wie in Zeitlupe und geschah doch in derselben Geschwindigkeit, mit der Nico durch einen gewagten Sprung über den Betonblock hinweghastete, der ihm den Weg versperrte, David bei den Schultern packte und nach hinten riss.
Gerade noch rechtzeitig, denn es war nicht nur die Plakatwand, die explodierte. Die Ränder des Loches in der Tunneldecke über ihnen wurden ebenfalls weiter aufgesprengt, als sich etwas Gigantisches, Fürchterliches, Unbeschreibliches dort hindurchrammte.
Es war nur ein flüchtiger Blick, den David auf die schattenhafte Kreatur erhaschte. Aber der genügte, um ihn innerlich aufschreien zu lassen.
Etwas krachte vor ihm auf den Boden, zerplatzte, wimmelte, schlängelte sich auf ihn zu …
Nico riss David an sich heran, wirbelte ihn herum und stieß ihn vorwärts, als sei er eine Puppe. »Weg hier!«, schrie er, während er selbst loshechtete. »Der ganze Tunnel bricht ein!«
*
»Irgendetwas stimmt da nicht«, sagte Tom. Er sah von den wild tanzenden Zeigern seiner Messgeräte hoch und mitten hinein in Angys bleiches Gesicht. »Es ist vollkommen unmöglich. Aber es sieht aus, als würde die Energie irgendwo dort unten in dem alten U-Bahn-Tunnel um- und zurückgelenkt!«
Angy nickte hektisch. »Die Anlage brennt durch! Wir müssen sie sofort runterfahren.« Sie sprang auf und hetzte auf die große Schalttafel zu, über die die Energieversorgung des Mobile-Phone-Underworld-Projekts gesteuert wurde.
*
Fall bleibt mysteriös
Rätselraten über versunkene Pappel an der Karlsstraße
Bislang konnte nicht geklärt werden, warum eine Pappel an der Karlsstraße versunken ist. »Die Ursache ist uns nach wie vor ein Rätsel«, so Herbert Mehnert vom Straßenbauamt. Inzwischen hat das Straßenbauamt mit einem Spezialbagger am Ort des Geschehens die Arbeit aufgenommen, um die Ursache für das rätselhafte Versinken des Baumes aufzuklären.
Die ausgewachsene Pappel wurde am Donnerstagabend regelrecht vom Erdboden verschluckt. Nach Aussage mehrerer Zeugen versank sie mit der Geschwindigkeit eines hinabgleitenden Fahrstuhls in einem rund sechs Meter tiefen Loch, das sich am Grünstreifen aufgetan hatte. Als die daraufhin verständigte Feuerwehr eintraf, war nur noch die Spitze des Baumes zu sehen.
Zunächst tippte man auf eine defekte Bewässerungsanlage. Eine erste Untersuchung konnte den Verdacht aber nicht bestätigen. Eine akute Gefahr für den laufenden Verkehr besteht laut Straßenbauamt nicht. Es wird dennoch geraten, die mit Brettern und einer Absperrung gesicherte Stelle großräumig zu umfahren.
*
»Hey, Satan!«, kreischte gerade Bon Scott, der AC/DC-Sänger aus den Lautsprecherboxen in Susans klapprigem Auto, da traf sie etwas am Hinterkopf.
Einer der zwei bekloppten Stoffhasen, die ihr Exmann ihren Kindern letzte Woche geschenkt hatte. Er prallte aufs Armaturenbrett und rutschte dann ganz langsam daran herab; und fast schien es ihr, als strecke er ihr dabei die Zunge heraus.
»Es reicht«, zischte Susan. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, in den Rückspiegel zu schauen oder sich gar umzudrehen, um die Situation auf der Rückbank zu umreißen. Ihr Blick fokussierte sich auf das nächste Straßenschild: Abfahrt Karlsstraße 91 – 217, stand da.
»Okay, meine Lieben«, fauchte sie. »Da fahre ich jetzt raus. Und dann lege ich euch aufs Autodach und versohle euch den Hintern!«
*
David und Jana stürzten so schnell los wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Und das war schnell, schließlich waren sie durchtrainiert und geübt darin, in extremer Geschwindigkeit unter Hindernissen hinwegzutauchen oder sie zu überspringen. Jana war sogar noch ein Stück schneller als David, und für einen Moment fürchtete er, dass sie ihn abhängen würde und er hier zurückblieb …
Es krachte, polterte und dröhnte in dem Tunnel, und David hatte das verrückte Gefühl, als pflüge hinter ihm eine gigantische U-Bahn durch den Tunnel, um alles zu zermalmen, was ihr in den Weg kam. Im nächsten Augenblick glaubte er winzige Würmer vor seinen Füßen herumflitzen zu sehen, widerliche Kreaturen, die sich auf seinen Schuhen, auf seiner Kleidung und seiner Haut festsetzen wollten. Seine Gefühle und Gedanken zerplatzten in winzigen Einheiten, und sein Bewusstsein war unfähig, einen Zipfel der Realität zu packen, um dem Chaos in seinem Kopf einen vernünftigen Gedanken entgegenzusetzen.
Davids Körper hingegen schien erstaunlicherweise genau zu wissen, was er zu tun hatte. Er zog rechtzeitig den Kopf ein, um ihn sich nicht an einem Vorsprung blutig zu schlagen, und übersprang Betonbrocken und Glassplitter, die hier nicht hingehörten. Mit wenigen Schritten zog er mit Jana wieder gleich. Das Mädchen stieß beim Laufen komisch zischende Geräusche aus; vielleicht, weil es sich verletzt hatte, vielleicht aber auch, weil es alle Kraft mobilisierte, um hier wegzukommen.
Kurz vor ihnen rannte Nico. Obwohl er nur ein paar Meter Vorsprung hatte, war er durch die dichte Staubwolke um sie herum nur noch zu erahnen. David griff instinktiv nach Janas Arm, um sie mit sich zu ziehen. Aber sie streifte seine Hand beiseite und warf ihm einen Blick zu, in dem sich der Irrsinn widerspiegelte, der gerade um sie herum tobte. David hätte aufschreien können bei diesem Anblick. Er verspürte in diesem Moment keinerlei Angst um sein eigenes Leben, aber sehr wohl um das von Jana.
Irgendwie brachte er das Kunststück fertig, noch ein bisschen schneller zu laufen und dennoch an Janas Seite zu bleiben. Vielleicht aber war auch sie es, die es fertigbrachte, jetzt ihrerseits wieder mit ihm Schritt zu halten – und das, obwohl er so schnell lief wie noch nie zuvor in seinem Leben. Staub und Trümmerstücke regneten auf sie herab, nahmen ihnen die Sicht und die Luft zum Atmen. Inmitten all des Berstens und Krachens um sie herum ging jedes andere Geräusch unter, und doch hörte David plötzlich, wie Jana aufschrie. Er wollte stehen bleiben, schlitterte aber noch ein Stück weiter und mit wild rudernden Armen auf einen Schutthaufen zu, bevor es ihm gelang, die Kontrolle zurückzuerlangen und einen hämmernden Herzschlag lang zitternd und bebend in der Bewegung zu verharren.
Jana schrie erneut.
David wirbelte herum. Bevor er auch nur im Entferntesten begriff, was mit ihnen geschah, sah er einen Schatten auf sich zujagen. Er riss die Hände schützend hoch. Es war Jana, die jetzt strauchelnd gegen ihn prallte.
»Was ist mit dir?«, schrie nun David sie an, um das Getöse um sie herum zu übertönen.
»Ich …«, Jana spuckte etwas aus, und David hoffte, dass es nicht Blut war. »Ich …«
Dann erschlaffte sie in seinen Armen, mit denen er sie schützend an seinen Körper gepresst hielt, als sei sie eine leblose Puppe.
In diesem Moment erstarb etwas in David. Das Chaos war wie weggeblasen und machte etwas anderem Platz, keinem bewussten Gedanken, sondern einer gleichzeitig wilden und kalten Entschlossenheit. Er umklammerte Jana wie ein Kleinkind und schleppte sie weiter. Hinter ihnen brach bereits ein weiterer Teil der Decke mit einer berstenden Wolke von Staub, Dreck und Betonsplittern ein, die wie eine Tsunamiwelle über sie hinwegbrandete. Etwas traf David mit der Wucht eines hart geschlagenen Baseballschlägers im Rücken, und er stolperte zwei, drei Schritte vorwärts, hätte fast Jana fallen lassen. Verzweifelt um sein Gleichgewicht kämpfend sah er nach oben.
Da war etwas, ein flackernder Lichtschein, Nicos »SunFire«, deren Strahlen kaum mehr als ein schwaches Signal aussendeten, da sie nicht mehr die aufwirbelnden Partikel zu durchdringen vermochten.
»Hierher!«, hörte er Nico aus Leibeskräften rufen. »Ich bin hier!«
David mobilisierte seine letzten Energien. Er drehte sich dem schemenhaft erkennbaren Bahnsteig zu, wuchtete Jana an diesem hoch und spürte, wie ihn dabei etwas streifte … dann, wie ihm Jana grob aus den Händen gerissen zu werden drohte.
»Und jetzt du, David«, hörte er Mayas Stimme. »Schnell, komm hier hoch, her zu mir!«
In all dem Chaos um sie herum wurde Maya überflutet von dem, was sie für David empfand. Nichts war ihren Gedanken und Gefühlen gerade ferner, als sich selbst zu retten.
Sie wollte nur David retten.
»Jetzt komm schon!«, schrie Maya. »Bevor es zu spät ist!«
David wollte antworten. Da krachte und barst etwas direkt über ihm, und als er den Kopf in den Nacken legte, hatte er das Gefühl, der Boden würde ihm unter den Füßen weggerissen.
Er starrte direkt in das unbeschreiblich schreckliche Antlitz der Kreatur aus seinen Träumen.
Im selben Moment explodierte die brüchige Tunneldecke vollends, und ein riesiges Trümmerstück sauste direkt auf ihn zu.
*
»Ich hatte euch gewarnt!« Susan trat so hart in die Bremse, dass der alte Wagen mit den abgefahrenen Sommerreifen fast ausbrach. »Jetzt werden wir ein Exempel statuieren, dass es sich nur so gewaschen hat.«
Robbie und Brit verstanden unter Garantie nicht, was ein Exempel war, und schon gar nicht wussten sie, was statuieren bedeutete. Aber der Ton machte die Musik. Sie verstummten zwar noch immer nicht, aber ihr Gekreisch klang jetzt … anders. Wie das einer Affenhorde, die einen Leoparden wittert.
Susan löste den Sicherheitsgurt und war im Rekordtempo aus dem Auto heraus. Nur ganz nebenbei registrierte sie, dass sie direkt vor einem monströsen Bagger gehalten hatte und dass sich nur wenige Meter entfernt eine mit Blinkleuchten gesicherte Absperrung um ein großes Loch befand, aus dem heraus es merkwürdig grummelte und grollte. Der Boden unter ihr schien zu beben, als würde er ein Eigenleben führen. Doch schrieb sie all diese Anzeichen bloß ihrer eigenen Gereiztheit zu und blendete sie vollständig aus.
»Und nun zu euch.« Sie riss die hintere Wagentür auf, packte Brit und zerrte sie viel grober heraus, als sie es normalerweise für angemessen gehalten hätte. Umso lauter fluchte sie: »Ich hatte es euch zigmal gesagt: Ihr dürft beim Fahren nicht so rumtoben. Dann kann ein ganz schlimmer Unfall passieren. Und am Ende sind wir alle tot.«
Brit hatte den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet und starrte ihre Mutter nun mit angstrunden Augen an. Normalerweise wäre Susans Herz bei diesem Anblick zerschmolzen. Aber nicht heute. Die Wut auf ihren Mann mischte sich mit der gerechten Empörung darüber, dass das Herumtoben ihrer Kinder beinahe zu einem schweren Unfall geführt hatte.
Sie drehte Brit herum, um sie auf das Autodach zu legen. Im selben Moment begriff sie, dass sie dabei war, einen Riesenblödsinn zu machen, der gegen jeden Grundsatz maßvoller Erziehung verstieß. Es reichte, oder besser gesagt, es musste nach ihrem bisherigen Aufbrausen bereits reichen: eine nochmalige ernsthafte Verwarnung. Und dann würde sie in aller Ruhe nach Hause fahren und für sich und die Kinder einen Tee kochen und sich in ihr Bett verkrauchen, um erschöpft eine Runde durchzuweinen.
Sie drehte Brit wieder zu sich herum. »Wenn du mir versprichst, demnächst beim Autofahren ganz lieb zu sein, wird Mami …«
Weiter kam sie nicht.
Ihr alter Polo machte einen Hüpfer … und sackte dann vor ihren Füßen in den Straßenasphalt ab. Susan traute ihren Augen nicht. Als das Geschehen wie die eisige Kälte an einem frostigen Wintermorgen in ihr Bewusstsein kroch, waren vielleicht nicht mehr als zwei, drei Sekunden vergangen. Aber da war es bereits zu spät.
»Robbie!«, schrie sie voller Panik und selbst um Halt strauchelnd.
Sie wollte um den Wagen herumhetzen, auf die andere Seite, die Tür aufreißen, Robbies Sicherheitsgurt lösen, ihn aus dem Wagen zerren. Doch der Boden unter ihren Füßen bebte jetzt so heftig, dass es sie mit Brit festgekrallt in den Armen um einige Meter zurückwarf.
Robbie blickte sie dabei stumm und verständnislos aus dem Auto heraus an. Und das war wohl das Schlimmste in dieser Situation: Es lag nicht ein einziger Funken Vorwurf in seinem Blick, nur das endlose Vertrauen eines Fünfjährigen in seine Mutter, die gleich alles wieder in Ordnung bringen würde.
»Nein!«, schrie Susan.
Die Erde schüttelte sich und bebte wie ein durchgehendes Pferd.
Robbies Mund öffnete sich jetzt wie zu einer stummen Frage. »Mama?«, schien er zu sagen. »Warum holst du mich hier nicht endlich raus?«
Susan versuchte sich mitsamt Brit nach vorne zu werfen, der Wellenbewegung entgegen, die die Straße aufwühlte. Stattdessen wurde sie jedoch wie vom Sog einer hereinströmenden Flut noch weiter zurückgetrieben.
Und dann sackte der siebzehn Jahre alte Polo vollends durch den Asphalt, verschluckt von etwas, das sich vollkommen Susans Vorstellung entzog …
*
Es war kein Trümmerstück, sondern ein Wagen, der durch die Decke herabstürzte und direkt vor David auf der Bahnsteigkante aufschlug. Das Fahrzeug – ein uralter Polo, wie ein ruhig analysierender Teil seines Selbst sofort feststellte – war seltsam deformiert, aber der Motor lief noch.
Und die Innenbeleuchtung war eingeschaltet.
Langsam, aber unerbittlich rutschte der Polo auf ihn zu. David begriff, dass er ihn treffen und zerschmettern würde, wenn er nicht schnellstens zusah, dass er hier wegkam. Trotzdem war er wie paralysiert.
Auf der Rückbank, in einem Kindersitz, saß ein vielleicht fünfjähriger Junge und starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an.