06
Es waren merkwürdige Gerüche in der Luft, nicht nur die nach Moder und Dreck, sondern auch nach Verwesung, wie es nach Davids Vorstellung in einer Grabkammer riechen musste, die schon seit Jahrzehnten nicht mehr geöffnet worden war. Das diffuse Licht, das sie wie ein dichter Mantel einhüllte, schien die Gerüche noch zu verstärken. Das Schlimmste aber war die Gewissheit, dass sie verloren waren, dass es kein Entrinnen mehr für sie geben würde – und dass es noch nicht einmal schnell zu Ende gehen würde, sondern auf eine vollkommen unfassbare, in jedem Fall aber grauenvolle Art.
Und dass er allein daran schuld war. Wenn er damals im Schulkeller nicht weggelaufen wäre, wenn er sich gleich seinem größten Schrecken gestellt hätte … Dann wäre er mit Sicherheit jetzt nicht hier, gefangen in dieser Hölle. Dann hätte er den noch anstehenden Kampf bereits damals zu Ende gebracht, so oder so.
»Mama!«, schrie Robbie jetzt neben ihm, als die Schemen mit unsichtbaren Klauen nach ihnen griffen. »Wo bist du? Hol mich hier raus!«
*
Maya drückte sich tief in den Schatten des bulligen Transporters des Technischen Hilfswerks. Ihr Herz raste, und ihr Mund war trocken. Die Blaulichter der schräg gestellten Polizeiwagen zeichneten tanzende Muster auf den regenfeuchten Asphalt, vereinten sich dort mit den Scheinwerferreflexionen der Einsatzfahrzeuge und den tastenden Fingern der Suchscheinwerfer zu einem bizarren Lichtspiel.
Die Einsturzstelle war großräumig abgesperrt, um Reporter und Schaulustige fernzuhalten. Maya war weder das eine noch das andere, so konnte sie sich wie unsichtbar unter das Treiben mischen. Vor allem hatte sie eines: Angst.
Der Suchtrupp hatte Nico und Jana gefunden und brachte die beiden gerade nach oben. So weit die gute Nachricht. Die schlechte war, dass Maya nicht daran glaubte, dass es so einfach für die Rettungsmannschaft sein würde, ihre beiden Freunde rechtzeitig von der Einsturzstelle wegzubringen, bevor dort irgendetwas … Schlimmes passierte.
Das Allerschlimmste war allerdings, dass der Suchtrupp David nicht gefunden hatte. Maya wurde erst jetzt bewusst, dass sie noch viel mehr für David empfand, als vielleicht gut war. Der sportliche Junge mit dem ernsten Blick hatte etwas, an dem sie sich schon immer festhalten konnte. Wenn Jana unsicher wie ein junges Kätzchen auf eine Gefahr reagierte und Nico abwartend und ruhig im Hintergrund verharrte, dann war es immer David gewesen, an dem sie sich hatte orientieren können.
David war für Maya der ältere Bruder, den sie sich immer gewünscht hatte. Und er war für sie noch viel mehr als das …
Ein Mann ging auf den Transporter zu, woraufhin Maya zu dem Hauseingang hinüberspurtete, den sie sich ausgeguckt hatte.
Jetzt zählte jede Sekunde. Ihre Freunde brauchten ihre Hilfe.
*
Hagen gab nichts auf Vorahnungen. Jedenfalls normalerweise nicht. Heute war das anders.
Von Anfang an hatte er geahnt, dass es Probleme mit dem Kunststoffseil geben würde, über das sie sich heruntergelassen hatten. Und diese Sorge war begründet gewesen, wie sich jetzt herausstellte.
Als sie das zu ihnen herabhängende Ende des Rettungsseils jetzt eilig ergriffen, kam dessen oberes Ende schwungvoll heruntergerauscht und verschwand in einer Wolke aus Dreck und Erdpartikeln. Carlson riss reflexartig seine Hände in die Höhe, um sein Gesicht zu schützen, als auch schon kleinere und größere Asphaltbrocken auf ihn niederregneten. Mit einer entschlossenen Bewegung packte Hagen seinen Teamgefährten und zerrte ihn zurück in den halb verschütteten Gang hinein, in dem Nico und Jana auf den nächsten Schritt ihrer Rettung warteten.
»Dieses verdammte Seil …«, Carlson hob seine Atemmaske einen Spalt vom Gesicht und wischte sich den Schweiß und Staub von der Stirn, »ich hab’s einfach nicht mehr erwischt!«
»Was uns aber auch nichts mehr genützt hätte«, murmelte Hagen. »Wo es nicht mehr sicher in der Verankerung gehangen hatte.«
»Stimmt.« Carlson nickte grimmig.
»Was ist …«, Nico richtete sich so mühsam auf, dass es Hagens Herz zusammenschnürte. Er und das vielleicht siebzehnjährige Mädchen waren ohne Atemmaske hier unten unterwegs. Der Rauch und der fürchterliche Gestank, die aus der Tiefe nach oben drückten, mussten ihre Atemwege längst verätzt und ihre Sinne benebelt haben. Dass sie es dennoch alleine bis hierhin geschafft hatten, grenzte geradezu an ein Wunder.
»Was ist los?« Nicos Stimme klang rau und kratzig. »Geht es … geht es nicht weiter?«
Carlson öffnete den Mund zu einer, wie Hagen befürchtete, unbedachten Antwort, weshalb er ihm rasch die Hand auf die Schulter legte und ihn damit gerade noch rechtzeitig zum Stillschweigen verdonnerte. »Doch, gleich geht es weiter. Unser Team muss nur noch das Rettungsseil feinjustieren, dann geht es ab nach oben.«
»Und was ist das für ein Krach da draußen?« Nico hustete so hart, dass sein Bellen mühelos das Knirschen und Rumpeln um sie herum übertönte. »Das klingt so, als würde hier gleich alles einstürzen!«
»Ach was«, winkte Hagen ab. »Da rutscht ein bisschen Dreck nach, das ist alles …«
Wie um seine Worte Lügen zu strafen, erfolgte in diesem Moment ein harter Schlag, und der Boden unter ihnen begann zu bocken wie ein durchgehendes Pferd. Jana schrie erschrocken auf, und Carlson torkelte mit rudernden Armen einen Schritt zurück.
Hagen fuhr herum, um seinen Teamgefährten zurückzureißen. Er erwischte Carlson am Arm und schaffte es, ihn an sich heranzuziehen, und es wäre auch alles gut gegangen …
Wenn nicht in diesem Moment ein scharfkantiger Asphaltbrocken mit der Geschwindigkeit einer Kanonenkugel hinabgesaust wäre und Carlsons Schulter mit verheerender Wucht traf.
Carlson stieß einen tiefen, unmenschlich klingenden Schmerzensschrei aus. Irgendetwas spritzte explosionsartig gegen das Sichtfeld von Hagens Schutzmaske, sodass er von einem Augenblick auf den anderen fast nichts mehr sah.
Von der Wucht des Aufschlags wurde Carlson an ihm vorbeikatapultiert, stolperte haltlos weiter, auf Nico und Jana zu, und brach kurz vor ihnen mit einem schmerzhaften Wimmern in die Knie.
Hagen verfolgte das Geschehen nur schemenhaft. Mit einer ärgerlichen Bewegung wischte er sich sein Sichtfeld wieder frei – und erstarrte, als er begriff, was geschehen war.
Der Brocken hatte Carlson einen Arm abgerissen.
*
»Auf den Monitor!«, befahl Renegard. »Bringen Sie die Einsturzstelle auf den Monitor! Aber schnell!«
Der Techniker nickte. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Die Anspannung im Raum hätte man in Scheiben schneiden können. Das Bild auf dem Hauptschirm des MPU-Projekts erlosch – bis dort die Kamerafahrt aus einem Presse-Helikopter erschien.
Unter dem Hubschrauber tat sich in der Abenddämmerung die klaffende Wunde in der Steinstraße auf, die durch den plötzlichen Einsturz vor genau siebenunddreißig Minuten gerissen worden war. Es sah aus, als hätte eine Mittelstreckenrakete eine lang gezogene, tiefe Furche in die Fahrbahn gesprengt. Grauschwarze, verschlingende Finsternis schien aus der Tiefe das Licht der Einsatzfahrzeuge am Rande des Kraters aufzusaugen. Das Heck eines LKWs ragte aus dem zerfetzten Straßenbelag hervor, seine Bremsleuchten flackerten, als versuche der Fahrer noch immer, sein schweres Fahrzeug rechtzeitig zum Halten zu bringen.
Als der Hubschrauber über sie hinwegzog, sahen mehrere Männer in Uniform zu ihm hoch. Einer von ihnen reckte die Faust, als wollte er den Reportern drohen. Wahrscheinlich lagen die Nerven der Rettungskräfte vor Ort genauso blank wie in dem improvisierten Leitstand, in dem Renegard und sein Gefolge saßen.
»Das«, polterte Renegard, »ist Einsturzstelle Nummer zwei. Ich hätte gerne Einsturzstelle Nummer eins auf dem Bildschirm. Karls- und nicht Steinstraße, aber zackig!«
»Alles klar«, stammelte der Techniker. »Ja, natürlich. Entschuldigung.«
Das Bild erlosch erneut und machte augenblicklich einem anderen Platz. Eine Bodenkamera versuchte die einsetzende Dunkelheit zu durchdringen. An der Unfallstelle herrschte geschäftiges Treiben. Fahrzeuge wurden manövriert, Männer und Frauen in Uniform oder Zivil hetzten hin und her, und irgendwo am Rande des Bildausschnitts wurden Scheinwerfer aufgebaut.
Auch hier zentrierte sich alles um die Einsturzstelle. Aber sie sah anders aus als die auf der Steinstraße, sie bildete keine lang gestreckte Furche, sondern ein fast kreisrundes Loch. Dieses ähnelte dem blutenden, ausgestochenen Auge des Zyklopen, nachdem Odysseus den einäugigen Riesen mit einem glühenden Pfahl geblendet hatte, dachte Tom still in sich hinein.
Im nächsten Moment zuckte er merklich zusammen. Ganz kurz huschte am Bildschirmrand ein Schatten entlang, ein Haarschopf war zu erkennen, der ihm genauso bekannt vorkam wie das schmale Gesicht … Das musste Maya sein, das Mädchen, das eben noch bei ihnen gewesen war, um Renegards Mannschaft Informationen über ihre immer noch in der Tiefe festsitzenden Freunde zu liefern.
»Ist das nicht …«, begann Susan, die Mutter des vermissten fünfjährigen Robbie, die ebenfalls den Schatten wahrgenommen zu haben schien. Doch verfiel sie erneut in Schweigen, als jetzt ein bulliger Mann in den Kameraausschnitt lief, stehen blieb und etwas aus dem blauweißen Lastwagen holte, hinter dem das Mädchen für den Bruchteil einer Sekunde aufgetaucht war.
»Bitte jetzt keine weiteren Kommentare.« Renegard maß Susan mit einem strengen Blick. »Ich habe Ihren Sohn nicht vergessen«, ergänzte er dann in bemüht sanftem Tonfall. »Aber jetzt müssen wir erst einmal die anderen rausbekommen. Sie könnten uns ja auch wichtige Informationen über Robbies Verbleib liefern.«
»Aber das Mädchen …«, versuchte Susan schwach mit brüchiger Stimme.
»Alles zu seiner Zeit.« Renegard wandte sich wieder dem improvisierten Leitstand zu. »Wir brauchen dringend eine Verbindung zu Hagen. Ich muss wissen, ob irgendetwas auf einen Terroranschlag hindeutet!«
*
Maya hetzte die knarrenden Holzstufen hoch, drückte oben angekommen die schwere Eisentür auf – und verharrte einen Moment, bevor sie auf das feucht glänzende Metalldach des fünfstöckigen Mietshauses hinaustrat.
Es hatte aufgefrischt. Ein unangenehm scharfer Wind trieb Nieselregen vor sich her, der ihre Lippen und ihr Haar benetzte. Sie bemerkte es kaum. Ihr Blick war auf das Dach des Nachbarhauses gerichtet. »Mist«, murmelte sie, als sie im letzten Tageslicht erkannte, wie sehr sie sich verschätzt hatte.
Von unten hatte es ausgesehen, als ob die Dächer auf dem gleichen Niveau liegen würden. Doch die Dachaufbauten des angrenzenden und direkt hinter der Absperrung liegenden Nachbarhauses ragten beängstigend weit über Maya empor, wie sie jetzt erkannte – unerreichbar, wenn man keine Leiter zur Hilfe hatte.
Oder so gut klettern und springen konnte wie Maya.
»David«, flüsterte sie, »ich lass dich nicht im Stich!«
Ihr Blick fixierte die ein gutes Stück über ihr aufragende Wand des Nachbarhauses, dann nahm sie Anlauf.
*
David packte Robbie am Arm und zerrte ihn ein Stück zurück. Der kleine Junge hustete krampfhaft, aber er leistete keinen Widerstand mehr. In jeder anderen Situation hätte das David Angst gemacht, doch nicht jetzt.
Er war total verwirrt. Sein Verstand raste, versuchte die Sinneseindrücke zu sortieren, mit denen er bombardiert wurde. Sein Blick huschte von links nach rechts, seine Hände zitterten, und seine Kehle war so ausgedörrt, als wären sie gerade durch einen Sandsturm marschiert.
Ging es jetzt zu Ende? Und wenn ja: Warum musste dann ein vollkommen unschuldiger kleiner Junge mit ihm daran glauben?
Er fand keine Antwort darauf. Und vielleicht gab es auch gar keine. Vielleicht gab es nur noch seinen ganz persönlichen Horror.
Sie waren in einem Gewaltmarsch dem zusammenbrechenden U-Bahnhof entkommen, hatten ein uraltes Gewölbe vorgefunden und versucht, dort irgendwo einen Ausgang aufzuspüren, der sie auf direktem Weg zur Oberfläche brachte.
Und nun … das. Kompakte Dunkelheit war über sie hereingebrochen, und David hatte das Gefühl übermannt, in dieser tiefen Schwärze zu ersticken … dann musste er wohl für ein paar Sekunden oder Minuten das Bewusstsein verloren haben. Als er wieder zu sich gekommen war, hatte er Robbie gepackt und war mit ihm voller Panik durch die Dunkelheit gekrochen …
Bis sie an eine Stelle gekommen waren, wo es weder dunkel noch hell war.
Jetzt hatte sich ihre Umgebung abermals verändert. Von irgendwo sickerte Helligkeit zu ihnen durch, zog sich im nächsten Augenblick aber auch schon wieder zurück und umwirbelte sie somit auf eine nie zuvor erlebte Art und Weise. Aber das war nicht das Schlimmste. Die Lichtwirbel strichen wie tastende Finger über Davids Kleidung, sein Gesicht und seine Hände. Es war ein ekelhaftes Gefühl, so als würde er taxiert und bewertet. Von etwas, das halb Mensch war und halb …
Der Gedanke entzog sich ihm, bevor er ihn in sein Bewusstsein ziehen konnte.
»Geh weg«, keuchte jetzt Robbie an Davids Seite und fing an, um sich zu schlagen. »Geh weg!«
David erschien es, als griffe eine eisige Hand nach seinem Herzen und drücke es zusammen. Er biss sich fast die Lippen blutig, um nicht einen höllischen Verzweiflungslaut auszustoßen.
Er durfte nicht in Panik geraten. Schon allein wegen Robbie nicht.
*
Maya nahm Anlauf. Ihre Schuhsohlen hatten ein gutes Profil, und trotzdem drohte sie wegzurutschen. Sie hatte an alles gedacht, nur nicht daran, dass die Metallverkleidung des Daches durch den Nieselregen spiegelglatt sein würde.
Das drohte ihr jetzt zum Verhängnis zu werden.
Fast hätte sie im letzten Moment noch abzubremsen versucht. Doch dann entschied sie sich dagegen. Sie stieß sich ab und riss die Hände nach oben.
Mit voller Wucht knallte sie auf dem Dach des Nachbarhauses auf, versuchte sich an seinem Metallrand einzukrallen. Der Ruck, der dabei durch ihre Arme und Handgelenke ging, war fürchterlich. Sie drohte den Halt zu verlieren, abzurutschen.
Dann sah sie vor ihrem inneren Auge David vor sich, wie er sich lachend vorbeugte und sie nach einem gewagten Sprung zu sich nach oben zog.
»David«, keuchte sie, vielleicht dachte sie es auch nur.
Dann hakte sie sich mit ihren Fingern endgültig in den Rand fest, und sie zog sich nach oben auf den rettenden Sims.
*
»Wir müssen weiter.« David packte Robbie am Arm, um ihn hochzuzerren. Der Fünfjährige stieß ein schwächliches Wimmern aus und versuchte ihn wegzustoßen.
»Komm jetzt!«, stieß David heiser hervor, obwohl er selbst keine Hoffnung mehr hatte. »Wir müssen hier raus.«
»Aber … aber …« Robbie schluchzte auf. »Wohin denn? Wir können doch nirgends hin!«
»O doch.« David räusperte sich mühsam. »Nur erst mal raus hier. Dann sehen wir weiter.«
Er selbst richtete sich schwankend auf. Die tanzenden Schatten schienen ein Stück vor ihm zurückzuweichen, und der Druck auf seiner Brust ließ etwas nach. Was blieb, war seine Verwirrung – und das schmerzhafte Brennen in seiner Kehle. »Wir geben nicht auf, verstehst du!«
Robbie antwortete nicht. Vielleicht war er auch gar nicht mehr in der Lage, Davids Worte zu verstehen.
»Hör zu«, fuhr David verzweifelt fort. »Ich habe einen Plan.«
»Ja und?« Robbie schluchzte noch einmal auf, dann wischte er sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Was für einen Plan?«
»Die suchen bestimmt schon nach uns«, improvisierte David. »Und das beim U-Bahnhof. Das Feuer ist da bestimmt längst erloschen.«
»Das ist doch egal.«
»Nein«, widersprach David heftig. »Das ist es nicht. Denn wenn das Feuer aus ist und sich die Erde etwas beruhigt hat – dann können wir dorthin zurück.«
Robbie schauderte. »Zurück? Wozu?«
»Weil die uns dort zuerst suchen werden, deshalb.« David packte noch einmal Robbies Arm, und diesmal stieß ihn der Junge nicht zurück. »Wir müssen nur wieder zum Bahnhof zurück. Dann wird man uns bestimmt ganz schnell finden.« Als Robbie darauf nicht antwortete, fügte David unter größter Mühe mit einem gespielten Optimismus hinzu: »Wir schaffen das. Bist du dabei?«
Robbie zuckte mit den Schultern. »Wenn es sein muss.«
»Das muss es.« David warf einen Blick um sich. Die Lichtwirbel hatten sich ein Stück zurückgezogen, aber noch immer spürte er deren widerliches Tasten und Zerren. »Das muss es«, wiederholte er, während ihm ein eiskalter Schauder über den Rücken lief. »Denn hier können wir auf keinen Fall bleiben!«
*
»Was ist da los?«, herrschte Renegard den Techniker an. »Warum meldet sich der Suchtrupp nicht?«
»Irgendetwas stört die Verbindung«, antwortete der Techniker genervt.
Renegard schloss eine Sekunde lang die Augen. »Ist das ein Indiz für einen Terroranschlag?«
Der Techniker schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt.« Er fuhr zu Tom herum. »Sie experimentieren doch hier mit Mikrowellenstrahlung im Handy-Sendebereich. Kann es sein, dass es Ihre Anlage ist, die uns dazwischenfunkt?«
Tom zuckte zusammen. »Nein, eigentlich nicht. Wir haben unser Experiment doch längst abgebrochen. Außerdem arbeiten wir auf einer ganz anderen Frequenz …«
»Jetzt bloß kein Fachchinesisch«, herrschte Renegard Tom an. »Ich muss einfach nur wissen, ob die Funkprobleme auf einen Terroranschlag hindeuten – oder auf etwas, das Sie zu verantworten haben!«
Tom spürte, wie ihm sämtliche Farbe aus dem Gesicht wich. »Ich? Nein, wie kommen Sie denn bloß darauf?«
Renegard musterte ihn schweigend. »Es wäre doch nicht das erste Mal, dass ein Experiment schiefgegangen wäre.«
»Aber … nein, das kann überhaupt nicht sein«, stotterte Tom. Er spürte, wie seine Ohren vor lauter Aufregung zu glühen begannen. Sie hatten während ihres Handy-Experiments viel zu viel Strahlung in den Untergrund geschickt, so viel stand fest. Aber wenn sie damit eine Kettenreaktion in Gang gesetzt hätten, die letztlich zum Einsturz des stillgelegten U-Bahn-Tunnels geführt hatte – wie ließe sich dann die zweite Einsturzstelle auf der Steinstraße erklären?
»Was genau«, fragte Renegard jetzt übertrieben liebenswürdig, »kann überhaupt nicht sein?«
»Dass irgendetwas …«, wand sich Tom, »also, dass wir irgendetwas …«
Renegard wischte sein Gestammel mit einer ärgerlichen Handbewegung beiseite und fuhr zu Angy herum. »Wie sehen Sie das? Kann Ihre Strahlung den Einsturz bewirkt haben?«
»Bitte?« Angy richtete sich kerzengerade auf und starrte Renegard an, als würde sie seine Frage gar nicht richtig verstehen. »Handystrahlung kann doch nichts zum Einsturz bringen!«
»Und warum nicht?«, hakte Renegard nach, unzufrieden über die bisherigen Ausflüchte.
»Weil ihre Wirkung auf anorganisches Material eine ganz andere ist als auf organisches.« Angy wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und atmete tief durch. »Die Strahlung, die wir benutzen, kann im beschränkten Umfang die Körpertemperatur von Menschen und Tieren erhöhen – aber sie kann keine massiven Wände zum Einsturz bringen.«
»Und das heißt konkret für unseren Fall?«
Angy schrumpfte ein Stück weiter in sich zusammen. »Mit dieser Strahlung lässt sich ebenso wenig eine Straße zum Einsturz bringen wie mit einem Kochtopf heißen Wassers.«
»Das mag zwar in der Regel der Fall sein«, stimmte Renegard mit bohrendem Blick zu. »Aber wenn man genügend Wasser nimmt und kräftig Druck drauf gibt, dann kann man selbst damit alles wegsprengen. Warum sollte das also mit Handystrahlung nicht ähnlich funktionieren?«
»Weil …«, begann Angy nun hilflos und sichtlich um Worte ringend, »weil … weil das physikalische Prinzip …«
»Moment!«, unterbrach sie der Techniker und rutschte aufgeregt auf seinem Stuhl vor. »Da tut sich was!«
Auf dem Bildschirm war jetzt ein Kriseln zu sehen und dann ein Wimmeln und Wuseln wie von Tausenden winziger Würmer. Und dann implodierte die abartige Erscheinung. Für den Bruchteil einer Sekunde verfestigte sich das Gewusel zu einer Gestalt, deren Form sich auf die Schnelle mit bloßem Auge jedoch nicht einfangen ließ.
Das Bild auf dem Monitor flackerte, und fast schien es Tom so, als würde etwas aus diesem herauskriechen wollen, das die Grenzen seiner Vorstellungskraft sprengte. Obwohl er sich bei diesem Anblick innerlich vor Ekel wand, war es ihm unmöglich, den Blick von diesem Grauen zu lösen.
Renegard sprang vom Stuhl hoch und streckte seine Brust hervor, als ob er einen Befehl brüllen wollte. Doch da erlosch das Bild bereits wieder. Übrig blieb nur ein beißender Geruch, der sich rasend schnell im Raum auszubreiten begann …
Renegard wirbelte zu den Technikern herum. »Ich brauche die Helmkamera auf dem Schirm! Aber schnell!«
»Sofort.« Einer seiner Männer beugte sich vor – und schreckte zurück, kaum dass er die gewünschte Verbindung hergestellt hatte.
Ein schrecklicher Schrei brachte die Lautsprecher zum Klirren, und auf dem Bildschirm war eine völlig verwackelte Szene zu erahnen, die Tom das Blut in den Adern gefrieren ließ.