02

Maya war verärgert. Nur noch wenige hundert Meter bis zu einem der Seiteneingänge der Klinik, und dann wäre sie im Krankenhaus gewesen und hätte es sicherlich geschafft, heimlich mit Nico und Jana Kontakt aufzunehmen. Aber dann war diese blöde Ziege auf sie zugerannt und hatte sie laut bei ihrem Namen gerufen und so sicherlich nicht nur den Bullen auf sie aufmerksam gemacht, der sie verfolgte – und wie aus dem Nichts war dann auch schon ein Hubschrauber aufgetaucht und hatte den Parkplatz mit hartem Licht ausgeleuchtet, kurz darauf waren dann von allen Seiten Streifenwagen herangerauscht und hatten mehr Polizisten ausgespuckt, als ihr im ganzen letzten Jahr über den Weg gelaufen waren.

Im allerletzten Moment hatte sie sich wegducken und über einen schmalen Seitenweg zu den Schuppen flüchten können, in denen die Klinikverwaltung Gartengeräte und Hausmeisterbedarf verstaut hatte. Zum Glück war einer der Schuppen unverschlossen gewesen. Während sie hören konnte, wie man das fremde Mädchen in die Enge getrieben und festgenommen hatte, war sie schnell in das modrig riechende und mit allem möglichen Krempel vollgestellte Holzgebäude geschlüpft und hatte sich im Dunkeln bis in die hinterste Ecke durchgetastet, um sich dort in einer leeren Pflanzenkiste zu verstecken, die gerade groß genug für sie in schmerzhaft zusammengerollter Haltung war. Nur mit Mühe war es ihr anschließend noch gelungen, den Deckel der Kiste von innen wieder zu schließen.

Und das keinen Augenblick zu früh, denn schon wurde die Schuppentür aufgerissen und die grellen Lichtfinger von mindestens zwei starken Taschenlampen stachen in das Chaos hinein. Gefolgt von zwei, drei Polizisten, die in jeden Winkel leuchteten. Maya kauerte sich noch weiter zusammen und hielt die Luft an. Wenn einer von den Typen auf die Idee kam, in der Kiste nachzusehen, war sie geliefert.

Aber das taten sie nicht. Nach ein paar Minuten verließen die Bullen den Holzschuppen wieder, und sie kroch nur wenig später aus der Kiste, während sie verzweifelt versuchte, einen drohenden Hustenanfall zu unterdrücken. In der Kiste hatte sie kaum Luft bekommen, und obwohl es eiskalt in dem Schuppen war, tat ihr die Luft hier drinnen alles andere als gut, so sehr war sie von irgendwelchen Chemikalien und Farbgerüchen durchtränkt.

Sie hätte am liebsten den Schuppen sofort wieder verlassen. Aber das erschien ihr nicht ratsam. Die Suche schien draußen noch weiterzugehen, wie sie an den gerufenen Befehlen, dem harten Trampeln unzähliger Schuhe und den Motorengeräuschen hörte. Die taten ja gerade so, als sei sie eine Serienkillerin.

Maya hockte sich auf ein paar Säcke, die ihr wenigstens das Gefühl gaben, es sich einigermaßen bequem machen zu können, und versuchte so flach wie möglich zu atmen. Es war nicht nur die Kälte und der beißende Geruch hier drinnen, die ihr zu schaffen machten, sondern auch eine fürchterliche Unruhe. David …

Wenn er den Kopf auf seine ganz spezielle Art schräg legte und sie dabei ansah, dann lief ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken. Jedes Mal. Und selbst dann, wenn sie nur daran dachte.

Was sie in den letzten Stunden immer wieder getan hatte, sobald sie nicht mehr gewusst hatte, wie sie mit ihrer inneren Unruhe fertigwerden sollte. Im Gegensatz zu den Medien war sie davon überzeugt, dass David noch am Leben war.

Er musste einfach leben. Er durfte nicht … tot sein …

Das Summen ihres Handys riss Maya aus ihren verzweifelten Gedanken. Eine SMS. Mit zitternden Fingern löste sie die Tastatursperre und rief die Nachricht ab, deren Absenderkennung unterdrückt war.

Wo bist du, Maya?, las sie. Alles okay?

Maya starrte fassungslos auf das Handydisplay. Sie begriff nicht, was diese Nachricht bedeuten sollte. Wer schickte ihr eine Meldung ohne Absenderkennung?

Ihr Blick wanderte jetzt über die weiteren Zeilen der Mitteilung.

Ein schattiger Bräu zur rechten Zeit – das wirds sein – doch wann ist die rechte Zeit? Das weiß nur die alte Eiche

Maya lachte befreit auf. Diese ziemlich beknackt formulierte SMS stammte eindeutig von Nico. Und was er damit sagen wollte, war, dass sie sich so schnell wie möglich unter der alten Eiche an der Schattenbräu-Kneipe treffen sollten.

Zufällig tippte sie nun auf die Taste, die den kleinen Bildervorrat abrief, den sie mit der Handy-Cam geschossen hatte. Da waren Nico und Jana, die ihr die Zungen rausstreckten. David, typisch mit schräg gelegtem Kopf, die Haare unter einem Baseballcap verborgen. Und die wenigen Fotos, die sie vor dem Verlassen der Unglücksstelle gemacht hatte – kurz nach der dramatischen Rettung ihrer beiden vollkommen erschöpften Freunde, bei der ein Mann des Suchteams auf grausame Weise vor ihren Augen verblutet war …

Ihre Gefühle fuhren Amok beim Anblick dieser Bilder. Sie wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln, während sich das letzte Bild geradezu in ihr Gehirn hineinfraß.

Es zeigte schemenhaft huschende Menschen, die sich von der Einsturzstelle zurückzogen. Nein, nicht zurückzogen … sie flohen von den gezackten Ausläufern des Schlunds, die wie zerstörerische Wellen durch den Asphalt liefen. Die verschwommenen Bewegungen der fliehenden Rettungskräfte zeugten von Panik. Die Erde unter ihnen hatte währenddessen gedröhnt, als erwache dort etwas Uraltes, Mächtiges. Sie hatten es alle gespürt. Auch die Sanitäter, die mit fliegender Hast Nico und Jana aus der Gefahrenzone gebracht hatten, bevor sie sie in Ruhe hatten versorgen können.

Etwas war in den Tiefen unter der Stadt erwacht und wartete jetzt nur darauf, um erneut zuschlagen zu können …

Ich hatte von Anfang an ein verdammt schlechtes Gefühl, dachte sie. Aber David hatte ja nicht auf sie hören wollen. Vielleicht hätte es auch nichts genutzt. Vielleicht war der Einsturz des U-Bahn-Tunnels der unvermeidbare Auftakt zu etwas viel Schrecklicherem gewesen, das sich schon viel länger angebahnt hatte.

Mit einer fast wütenden Bewegung steckte Maya das Handy wieder ein und richtete sich auf. Sie war nicht gewillt, in ihrem zugigen Versteck auf diese angebliche Katastrophe zu warten, die ihnen allen drohte.

Es war an der Zeit, sich mit ihren Freunden zu treffen.

*

Erschütterungen im nationalen Geozentrum registriert

Experten warnen vor Panikmache

Mitten in der Nacht schlugen am 13. 01. 2010 auch im Geozentrum in Hannover – in einer Entfernung von fast achttausend Kilometern – die Instrumente aus und zeichneten den verheerenden Erdstoß in Haiti auf. Jetzt waren es die Erschütterungen durch die Karlsviertel-Katastrophe, die zu ähnlichen Ausschlägen der Messinstrumente führten.

Die jüngste Zunahme lokaler Einstürze und Erdrutsche bereitet den Behörden und Experten inzwischen mehr Sorge als die rund einhundert kleineren Erdbeben, die jedes Jahr in Deutschland registriert werden. Ein Sprecher der Katastrophenforschungsstelle in Kiel will weitere Unglücksfälle in Mitteleuropa nicht ausschließen. Er warnt jedoch vor der »immer weiter um sich greifenden Panikmache« der Medien sowie »übereilten Aktionen der Politik«. »Nach dem jetzigen Stand hat die Karlsviertel-Katastrophe nichts mit den anderen Vorgängen ähnlicher Art der letzten Zeit zu tun.« Ansonsten seien »die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen« – was also nichts anderes heißt, als dass die Experten nach wie vor im Dunklen tappen …

*

Tom starrte fassungslos auf den Hauptbildschirm. Er zeigte nichts weiter als das Abbild eines fernen Sternennebels, beinahe so, als würde er tatsächlich in einer Raumstation irgendwo im All schweben. »Verdammt«, murmelte er. »Was ist bloß mit den Außenkameras los?«

Seine Hände flogen über die Tastatur. Sein ganzes Computersystem war durcheinandergeraten. Jetzt kämpfte er schon seit einer halben Ewigkeit darum, die Kontrolle über sein Heiligtum wiederzuerlangen. Zuerst die Falschmeldung, dass ein Angriff bevorstand. Und dann waren kleinere und größere Katastrophen aufeinandergefolgt: rauchende Netzteile, verschmorte Platinen und dauerhaft ein bedrohliches Knastern und Knistern, als husche etwas durch die schmalen Kabelschächte.

Tom hatte jedes Zeitgefühl verloren. Er focht einen einsamen Kampf gegen die Auflösung der Station, und er war sich nicht sicher, ob er ihn gewinnen würde. Er hatte das merkwürdige Gefühl … als sei er hier nicht mehr wirklich allein.

*

Obwohl die Klimaanlage im Hintergrund leise summte, bekam Alina kaum noch Luft. Aber das war nicht einmal das Schlimmste. Die Wände des dunklen, nur spärlich eingerichteten Raumes schienen sich bei jedem Atemzug auszudehnen, um sich daraufhin umso enger um sie herum zusammenzuziehen.

Ihre vollkommen sinnlose Flucht vor dem Bullen hatte auf dem Krankenhausparkplatz ihr Ende gefunden, als plötzlich der Hubschrauber aufgetaucht war und in seinem Gefolge eine ganze Armada von Streifenwagen. Voller Panik hatte sie noch versucht, wegzulaufen, aber das war natürlich sinnlos gewesen. Ehe sie noch einen klaren Gedanken hatte fassen können, hatte man sie wie eine Schwerverbrecherin festgesetzt – und dann sofort hierhergebracht.

Was das alles für einen Sinn ergeben sollte, hatte sie bislang nicht einmal annäherungsweise begriffen. Und das nicht zuletzt deshalb, weil man auf ihre entsprechenden Nachfragen nicht reagiert hatte.

Sie war nicht alleine in dem kargen Verhörraum. Zuerst war ein durchtrainierter Mitvierziger mit Bürstenhaarschnitt aufgetaucht, der sich kurz und knapp als Renegard vorgestellt hatte. Und dann eine grauhaarige Frau mit kaltem Blick und harten Gesichtszügen, die sich schweigend an die Wand gelehnt dazu gestellt hatte. Während ihr der Typ mit dem militärischen Haarschnitt vollkommen abgedrehte Fragen nach dem anderen Mädchen gestellt hatte, das man offensichtlich mit ihr verwechselt hatte, hatte die alte Schachtel Alina nicht aus den Augen gelassen. Was hatte das alles zu bedeuten?

Alina wusste es nicht. Es war ihr im Grunde auch egal. Sie wollte nur weg hier, sich in ihr Zimmer eingraben, die Kopfhörer aufsetzen und ihre Gefühle von Nightfalls harten Diva-Rhythmen wegblasen lassen.

Sie zuckte zusammen, als ein kleiner Fettwanst die Tür zum Verhörraum aufriss und Renegard »wegen einer ganz eiligen Geschichte« herausbat. »Entschuldigen Sie die Störung, Polizeidirektorin Juretzko«, sagte er zu der Grauhaarigen. »Aber wir haben neue Hinweise zu Angy erhalten.«

»Angy?«

»Angelika Rast«, erklärte Moppelchen eilig, »die stellvertretende Leiterin des Mobile-Phone-Underworld-Projekts.«

Die Grauhaarige winkte ungeduldig ab. »Na, dann gehen Sie. Sehen Sie zu, dass Sie Ergebnisse bringen. Und das heute noch!«

Alina sah den beiden Männern verwirrt nach, die in aller Eile den Raum verließen. Sie verstand immer weniger, was hier vor sich ging. Am meisten überrascht war sie allerdings davon, dass Moppelchen die alte Schreckschraube mit Frau Polizeidirektorin angesprochen hatte. Was wollte denn so jemand Ranghohes von ihr?

»Warum sind Sie vor unseren Kollegen geflohen?«, fragte die Frau Polizeidirektorin zum wiederholten Male, kaum dass die Tür hinter den beiden Männern ins Schloss gefallen war.

Alina starrte sie trotzig an. Renegard war nicht gerade ein Ausbund an Freundlichkeit gewesen, aber diese Juretzko – die erinnerte Alina an eine zynische KGB-Agentin aus einem bitterbösen Spionagethriller. Besser sie hielt die Klappe und sagte gar nichts mehr, statt sich noch um Kopf und Kragen zu reden.

»Es wäre besser, Sie würden mit uns kooperieren«, sagte die Polizeidirektorin scharf. »Oder soll ich Sie erst bei Wasser und Brot in unser tiefstes Verlies sperren lassen, damit Sie den Ernst der Lage begreifen?«

»Was für einen Ernst?« Alina spannte sich an. Sie musste diesem Wahnsinn Einhalt gebieten. »Ich sage gar nichts mehr ohne meinen Anwalt!«

»Brauchst du denn in deinem zarten Alter wirklich schon einen eigenen Anwalt?« Die Frau mit dem kalten Blick schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Außerdem wäre es wirklich besser für dich, du würdest kooperieren. Ich darf dich doch duzen, oder?«

»Das können Sie doch nicht machen!«

»Was – dich duzen?«

Alina schüttelte genervt den Kopf. »Mich hier ohne Anwalt verhören. Schließlich leben wir in einem Rechtsstaat!«

Polizeidirektorin Juretzko nickte knapp. »Aber natürlich. Und in diesem Rechtsstaat geht es um das, was du dir geleistet hast: Widerstand gegen die Staatsgewalt in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung.«

»Ja, aber …«, begann Alina. »Das war doch nur …«

»Das sind nur die aktuellen Vergehen, sozusagen dein ganz persönliches Tagesprogramm«, fiel ihr die Polizeidirektorin ins Wort. »Das ist mir schon klar. Ich will ja nichts Altes aufwärmen … aber du bist nur auf Bewährung draußen. Ist dir das eigentlich klar?«

Ob ihr das klar war? Alina hätte beinahe laut aufgelacht. Natürlich war es das. Sie hatte ja schließlich genug Scheiße in den letzten Jahren gebaut.

»Von meinem Bericht an die Staatsanwaltschaft hängt es ab, ob du jetzt für längere Zeit einfährst – oder nicht.« Polizeidirektorin Juretzko straffte sich. »Ich halte es nur für fair, dass du das vorher weißt. Damit du die richtigen Entscheidungen treffen kannst.«

Alina öffnete den Mund – und schloss ihn dann wieder. Es gab nichts, was sie darauf hätte sagen können.

»Betrachten wir das also als geklärt«, fuhr die Grauhaarige fort. Als sie sich vorbeugte, sah sie wie eine fleischfressende Pflanze direkt vor dem Zuschnappen aus. »Und jetzt zu Maya. Ist sie eine gute Freundin von dir? Hat sie dir aufgetragen, unsere Kollegen vor Ort aufzumischen, damit sie in Ruhe die Fliege machen kann?«

»Nichts ist … nichts ist mit irgendeiner Maya«, stotterte Alina. »Ich kenne sie nicht einmal. Ich kenne überhaupt keine Maya.«

»Aha.« Die Polizeidirektorin schüttelte den Kopf. »Deswegen hast du ihr auch zugerufen, dass sie abhauen soll?«

Alina hätte gerne geantwortet. Aber das ging nicht. Sie konnte sich schlagartig kaum noch auf ihr Gegenüber konzentrieren. Bunte Flecken tanzten vor ihren Augen, und aus dem Summen der Klimaanlage wurde ein langgezogener klagender Laut.

Da war es wieder. Sie drohte abzurutschen, in den Traum zu versinken, der sie in den letzten Tagen wiederholt gequält hatte. Und der mittlerweile sogar in ihren Alltag Einzug gehalten hatte wie eine nervige Werbebotschaft, der man sich nicht entziehen konnte.

Ihre ganze Umgebung schien durchlässig zu werden, während sie sich veränderte. Um sie herum herrschte jetzt eine erstickende, fürchterliche Dunkelheit. Das Gefühl, eingeschlossen zu sein, begraben unter Tonnen von Gestein. Ein Wabern und Flackern, das sich nicht mit den Augen einfangen ließ, in dem sich unaussprechliche Dinge formten und wieder auflösten. Als wäre das noch nicht schlimm genug, griff der Schatten des gestaltlosen Schreckens nach ihr, der sie seit Tagen verfolgte und ihr mehr Angst machte als alles andere zuvor in ihrem Leben. Als nicht fassbare Kreatur kratzte er am Rande ihrer Wahrnehmung, begehrte Einlass in ihre Gefühle, zertrümmerte ihre Fluchtphantasien, die alles Dunkle, Höhlenartige und Geheimnisvolle zu einem Ruhepunkt in ihrem kümmerlichen Leben gemacht hatten. In ihren Augen schimmerten Tränen, und ihre Hände krampften sich zusammen, während sie einen stummen Kampf mit der Schattengestalt ausfocht. Sie wollte nichts von ihr wissen, sie wollte nur ihre Ruhe haben, sie wollte wieder zurückfinden in ihr altes Leben …

»Was ist mit Maya?«, hörte sie wie aus weiter Ferne die Stimme der Polizeidirektorin.

*

Maya hastete die Straße entlang. Es war eine ganz schlechte Idee gewesen, ihre Krankenhauslatschen auf der Flucht vor dem Bullen wegzuschleudern und auf nackten Füßen weiterzulaufen. Ihre Fußsohlen waren zwar abgehärtet, aber es war bitterkalt. Außerdem war sie insgesamt bei Weitem nicht so gut in Form, wie sie gehofft hatte. Die Ärzte hatten sie davor gewarnt. Die aggressiven Ausdünstungen in dem zusammengestürzten U-Bahn-Bereich und der Rauch, der die Flammensäule begleitet hatte – all das hatte ihre Lungen geschwächt. »Wenn du willst, dass das wieder in Ordnung kommt, musst du dich noch ein paar Wochen schonen«, hatte der kantige Oberarzt gesagt.

Immerhin hatten sich ihre Eltern aus dem fernen Kanada bislang nicht gemeldet, sodass an der Front Ruhe herrschte. Soweit sie wusste, waren sie gerade mal wieder auf einer Expedition mit anderen Wissenschaftsidioten der McMaster-Universität unterwegs, um die Spuren irgendwelcher angeblich vom Aussterben bedrohter Nagetiere zu untersuchen. Wirklich niedlich.

Was hatten sie noch gesagt, bevor sie sie alleine gelassen hatten? »Wenn irgendetwas ist: Ruf an. Mit dem Flugzeug sind wir ja in null Komma Nichts wieder hier«, »Bleib an deinen Schularbeiten dran. Vor allem Mathe …«, »Wenn du nicht mit dem Geld auskommst, dann schick uns einfach eine SMS

Klar. Ihre Eltern turnten irgendwo fernab jedes Handymastes herum, und sie sollte anrufen oder eine SMS schicken …

Alles superkluge Sprüche. Aber sich schonen, während David immer noch unter der Erde gefangen war? Das kam überhaupt nicht infrage.

Die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Wagen, die Lichtreflexe auf dem feuchten Boden, das trübe Licht der Straßenlaternen, die mit gelblichen Energiesparlampen ausgerüstet waren, diese Gemengelage verstärkte noch ihre Kopfschmerzen, die sie mit einem Mal überfallen hatten. Außerdem brauchte sie dringend winterfeste Kleidung, vernünftige Schuhe, eine warme Mahlzeit. Aber sie konnte auf keinen Fall nach Hause. Ebenso gut hätte sie gleich in die nächste Polizeistation marschieren können.

Wenn ihr jemand weiterhelfen konnte, dann ihre Freunde. Sie hatte Nico zwar nicht mehr per Handy erreicht, aber sie war sicher, dass sie ihn und Jana am »Schattenbräu« treffen würde.

»Alte Eiche, ich komme«, murmelte sie und beschleunigte abermals ihre Schritte.

*

Alina hatte das Gefühl, als dränge Juretzkos Stimme aus weiter Fern zu ihr durch. »Mir ist nicht gut«, brachte sie schwächlich hervor. Sie versuchte durchzuatmen, die Schatten zu vertreiben, die nach ihr so beharrlich griffen, als wären sie sich sicher, dass ihr Widerstand über kurz oder lang zusammenbrechen würde. Das durfte sie nicht zulassen! »Ich will nach Hause.«

Die ältere Frau nickte. »Natürlich. Aber zuerst muss ich wissen, warum du Maya zur Flucht verholfen hast. Das musst du mir schon erklären!«

Alles um Alina herum war … befremdlich. Anders konnte sie es nicht ausdrücken. Ein Gefühl erstickender Fremdheit. Und mehr noch. Das Fremde, Unbeschreibliche zerrte immer stärker an ihr, und das nun fast schon auf eine körperliche Art, als versuche es sie auf eine vollkommen unbegreifliche Art zu erfassen und mit sich zu ziehen.

»Ich warte«, drang die Stimme der Polizeidirektorin noch immer wie aus weiter Ferne in ihr Bewusstsein, »aber nicht mehr allzu lange.«

»Ja.« Alina versuchte sich auf die gegenüberliegende Wand zu konzentrieren. Auch sie war dunkel. Aber auf ganz andere Weise als das, was dort … unten lauerte. Dort, wo sie tief in sich einen Teil von sich spürte, als hätte man ihn vor unendlichen Zeiten auf dem Grund ihrer Ängste und Sehnsüchte begraben. Und als begehre dieser Teil nun nicht mehr nur Einlass in ihr alltägliches Leben, sondern als wolle er die Kontrolle über sie gewinnen.

»Was ist jetzt?«, schnappte die Juretzko.

»Ja«, wiederholte Alina mit schwerer Zunge. »Ich sage Ihnen alles, was ich weiß. Aber mir ist … wirklich nicht gut.«

»Was. Ist. Mit. Dieser. Maya?«

Die Worte hämmerten wie Faustschläge auf Alina ein. Es war nicht das erste Mal, dass sie so etwas erlebte. Faustschläge. Worte, die verletzten. Plumpe Gewalt ohne Ziel und Sinn, nur dazu gedacht, sie zu demütigen, sie fertigzumachen. Sie hatte es hundertfach erlebt, und hundertfach hatte sie es überstanden. Aber dieses eine Mal, als glitschige Hände über ihren Körper gefahren waren und sie gewusst hatte, dass es diesmal ganz anders werden würde … da hatte ihre Phantasie kein Schlupfloch mehr finden können und ihre Seele keinen Ausweg.

Sie biss mit aller Kraft die Zähne zusammen, als könnte sie die grausamen Erinnerungsfetzen dadurch vertreiben, und rieb sich angewidert die Arme, um sich nachträglich die schleimigen Berührungen abzuwischen. Es funktionierte tatsächlich. Die Umklammerung der Vision löste sich ein Stück und dann – plötzlich und ohne Vorwarnung – spuckte die Erinnerung sie wie etwas Unverdauliches aus. Sie war wieder im Hier und Jetzt.

Nicht, dass es dadurch wirklich besser wurde. Der Albtraum hatte sie von den Tiefen der Hölle bis hinauf in den Verhörraum des dritten Stocks eines großen Gebäudes verfolgt. Statt glitschige Männerhände hatte sie hier den harten Griff einer Polizistin zu spüren bekommen, die sie zusammen mit zwei Kollegen hier unsanft hinaufbegleitet hatte. Und wozu? Damit sie jetzt vollkommen unverständliche Fragen beantwortete, statt zu Hause in ihr Kopfkissen zu weinen, weil sie den Verlust ungeborenen Lebens erst jetzt mit schrecklicher Konsequenz zu begreifen begann?

»Ich habe es doch bereits gesagt.« Alina ballte die zitternden Hände zu Fäusten. »Ich kenne diese Maya überhaupt nicht. Außerdem hatte ich einen schweren Tag. Können wir das Ganze nicht verschieben?«

»O nein, das können wir nicht.« Die Frau nahm ihren Kugelschreiber auf und starrte in die Unterlagen vor sich. Dann ruckte ihr Kopf wieder angriffslustig hoch. »Ich habe von deinem kleinen … ähm, Zwischenfall gehört. Du hast deinen Wurm wegmachen lassen.«

Alinas Herz überschlug sich bei diesen Worten, setzte dann einmal aus, um anschließend doppelt so schnell und dreimal so hart weiterzuschlagen.

»Du warst in der Abtreibungsklinik«, setzte die Polizeidirektorin nach. »Und da hast du das getan, was Mädchen deines Schlages tun, nachdem sie wild in der Gegend rumgepoppt haben. Du hast es wegmachen lassen. Dein Kind. Deinen Wurm.«

Die Worte trafen Alina wie schallende Ohrfeigen. Empörung stieg in ihr hoch und Wut, eine unglaubliche Wut. Sie hatte nicht wild rumgepoppt! Sie war wie schon so oft zuvor in den geheimen Gängen unterhalb ihres dunklen Reichs unterwegs gewesen, hatte all die Demütigungen hinter sich gelassen, die ihren Alltag ausfüllten, und ihre Seele geöffnet in dem irrigen Glauben, dass ihr dort nichts passieren konnte. Was für ein fürchterlicher Irrtum!

Anstatt ungestört ihr Zwiegespräch mit der tiefen Stille der unterirdischen Welt führen zu können, hatte sie plötzlich ein Schaben gehört und die Anwesenheit von etwas gespürt, das sich ihr von allen Seiten zu nähern schien. Bevor sie aufspringen konnte, waren auch schon giftgrüne Schwaden herangezogen, begleitet von einem fürchterlichen Gestank, der ihr die Luft zum Atmen nahm und ihre Sinne betäubte.

Die düstere Gestalt war plötzlich wie aus dem Nichts erschienen. Alina hatte keine Einzelheiten erkennen können, nur einen Schemen wahrgenommen. Sie hatte nach Luft geschnappt und versucht zu schreien, sie hatte versucht, sich zu wehren, wegzulaufen – irgendetwas zu tun. Aber nichts gelang ihr, sie war wie gelähmt. Eine Welle von Übelkeit stieg in ihr hoch, als sich etwas Glitschiges an ihrem wehrlosen Körper zu schaffen machte. Alina wollte sich aus den Fängen ihres Peinigers befreien, aber sein ekelhaft feuchter Griff machte es ihr unmöglich. Sie fühlte sich bis ins tiefste Mark gedemütigt und entwürdigt. Tränen des Ekels stiegen in ihr auf. Als er in sie eindrang, verschlug es ihr endgültig den Atem, und dann verlor sie auch schon das Bewusstsein …

»Es ist keine Kleinigkeit«, fuhr die Alte fort, »so einen Wurm wegmachen zu lassen.«

Die Worte der grässlichen Frau zertrümmerten die fürchterliche Erinnerung und lösten einen brodelnden Gefühlssturm der Empörung in ihr aus.

»Nein«, antwortete Alina voll kalter Wut. »Das ist es nicht.«

Die Alte rutschte ein Stück vor, bis sie auf der Stuhlkante hockte wie ein Raubvogel auf einem Ast. Sie wartete auf etwas. Auf die Reaktion, die sie provoziert hatte – und die dennoch nicht kommen würde.

Alina tat ihr nicht den Gefallen, ihre Wut vollständig explodieren zu lassen. Jetzt war sie wieder vollständig zurück in der Realität. In einer Realität, in der sie sich bestens auskannte. Die Grauhaarige war wie ihre Stiefmutter. Nein, falsch: Sie war ihre Stiefmutter. Eine hässliche alte Frau. Eine kalte Frau. Eine böse Frau, die nichts unversucht lassen würde, um ihr wehzutun und sie zu erniedrigen.

Und die man auflaufen lassen musste.

»Dir geht es nicht gut, hast du gesagt«, bohrte die hässliche Frau nach. »Hast du Schmerzen?«

»Schmerzen?« Alina tat so, als hätte sie das Wort nicht richtig verstanden. Die Alte hatte Tränensäcke wie ihre Stiefmutter, stellte Alina fest. Abstoßend hässliche Tränensäcke. Und Stirnfalten, die ein V über der Nasenwurzel bildeten, wenn sie auf eine Antwort wartete. So wie jetzt. »Natürlich habe ich Schmerzen«, antwortete sie jetzt. »Aber das spielt gerade keine Rolle. Dieses ganze Verhör ist absoluter Quatsch.«

»Das ist es nicht«, knarrte die Alte. »Du weißt doch mehr über das, was die Stadt in Schrecken versetzt.«

»In Schrecken?«

»In Schrecken, ja.« Die Alte leckte sich gierig über die Lippen. Es war ekelhaft. »Etwas ist unterhalb der Stadt passiert. In den von U-Bahn-Tunneln, Kabelkanälen und Abwasserrohren gebildeten Eingeweiden. Was genau, darüber spekulieren die sogenannten Experten jedoch immer noch.«

»Ja, ich habe davon gehört. Es wird ja über kaum noch etwas anderes geredet.« Alina rutschte auf ihrem Stuhl so weit wie möglich zurück. »Dabei ist doch nur mal wieder Baupfusch betrieben worden!«

Die Alte schüttelte den Kopf. »Nein. Das können wir ausschließen. Es scheint sich um etwas … ganz anderes zu handeln.«

»Und was?«, fragte Alina unbehaglich. »Etwa um ein Erdbeben wie in Italien? Oder einen Erdrutsch wie in Nachterstedt?«

Polizeidirektorin Juretzko zuckte mit den Schultern. »Im Augenblick wissen wir das noch nicht. Dabei drängt die Zeit. Jeden Moment kann ein weiterer Teil der Stadt in sich zusammensacken. Wir müssen also sehr schnell herausbekommen, mit wem oder was wir es hier eigentlich zu tun haben.«

»Terroristen!« Alina schrie jetzt fast. »Wenn es kein Baupfusch und kein Erdbeben war, dann waren es Terroranschläge! Wie bei den Twin Towers!«

»Nur heimtückischer …« Die Juretzko nickte, als würde ihr dieser Gedanke gefallen. Doch dann schüttelte sie wieder den Kopf. »Ich will Terroranschläge wirklich nicht ausschließen. Aber das Ganze dürfte etwas … komplexer sein. Einer unserer Spezialisten hat das Ereignis mit bestimmten Phänomenen auf dem Meeresgrund unterhalb des Bermuda-Dreiecks verglichen.«

»Bermuda-Dreieck?« Alina konnte nicht den Blick von der abstoßenden Alten lassen. Sie war genau so wie ihre Mutter. Zum Reinschlagen. »Was hat das mit dem Bermuda-Dreieck zu tun? Und, ganz abgesehen davon«, Alina verschluckte sich fast vor unterdrückten Emotionen, »mit dieser Maya?«

»Das sind beides sehr gute Fragen«, stellte Polizeidirektorin Juretzko fest. »Und die Antwort zumindest auf die zweite Frage hätte ich gerne von dir.« Sie schob Alina die Unterlagen zu. »Sieh dir ruhig die Fotos an.«

Alina wollte zuerst gar nicht hingucken. Doch dann konnte sie den Blick nicht mehr von den Fotos abwenden.

Sie hatte erwartet, dass sie die Einsturzstellen zeigen würden. Aber das stimmte nicht. Es waren verschiedene Aufnahmen von Jugendlichen. Ein Typ mit einer Baseballkappe, der leichtfüßig über einen Mauervorsprung lief. Ein zierliches Mädchen mit kurzen Haaren, das entfernte Ähnlichkeiten mit ihr selbst hatte und gerade mit so eleganten Bewegungen an einer Fassade hochkletterte, als wären die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben. Und ein größeres und ebenfalls dunkelhaariges Mädchen, jedoch mit langen lockigen Haaren, das gerade mit ausgebreiteten Armen von einem Flachdach absprang, als wollte es einem Vogel Konkurrenz machen.

Das letzte Foto zeigte das Mädchen mit den kurzen Haaren, das in vertrauter Geste den Arm um die Schulter des Typs mit dem Baseballcap gelegt hatte, das er hier aber nicht trug – er guckte dieses Mal mit ernstem Blick gerade in die Kamera.

»Ich nehme an, du kennst sie«, sagte Polizeidirektorin Juretzko. »Sie sind alle in deinem Alter, und sie treiben sich überall rum, wo es verboten ist – das ist doch auch eine Spezialität von dir, nicht wahr?«

Alina griff nach dem letzten Foto und nickte benommen. Der Typ mit dem ernsten Blick – er schien sie direkt anzusehen. Es war fast unheimlich, wie seine grünen Augen sie zu durchbohren schienen. Beinahe so, als wollte er ihr auf diese Weise irgendetwas mitteilen.

Sie war sicher, ihm schon begegnet zu sein!

Dennoch schüttelte sie jetzt den Kopf. »Nein. Den Typ habe ich noch nie gesehen.« Ihre Stimme klang eindeutig zu schrill und aufgeregt. Sie versuchte sich zusammenzureißen. »Und die anderen auch nicht. Ich meine die Mädchen und den Dauergrinser mit der Baseballkappe.«

»Natürlich hast du sie schon mal gesehen«, sagte die Frau nun bemüht sanft. »Ihre Bilder sind doch in den letzten Stunden immer wieder im Fernsehen zu sehen gewesen. Und in Zeitungen. Und im Internet.«

»Ich … ja …« Alinas Gedanken überschlugen sich. »Vielleicht … sicherlich … Aber ich meine …« Sie atmete tief aus. »Ich bin ihnen noch nie in der Realität über den Weg gelaufen!«

Doch, das bist du, flüsterte eine Stimme tief in ihr. Zumindest dem Typ mit den grünen Augen.

Und plötzlich wusste sie auch, wie er hieß.

David.