Lieber fliegen als warten
Nahezu den ganzen Tag lief das Band vom Jazzkonzert, das Ralph und Armin aufgenommen hatten. Es gab keinen Zweifel: Sonja und Bums waren Stratosphärenklasse. Sie trieben die Mitspieler zu Höchstleistungen an. Trotzdem jubelte niemand.
Für die Ritter klang der heiße Dixieland wie Erinnerung an glücklichere Zeiten. Jetzt, zwei Wochen nach Abreise der Kommission befand sich die Stimmung auf dem absoluten Nullpunkt.
Dabei war alles so schön gelaufen.
„Entschuldigen Sie die späte Störung!“ hatte Bums Schlag Mitternacht auf Rosenfels gezwitschert. „Wir bringen Ihnen einige Mädchen, die sich auf die Burg verirrt hatten.“
„Sie wollten nicht zurück und leiden an einem rätselhaften Hautjucken!“ fügte Hans-Jürgen hinzu.
Keine tat einen Mucks.
Bums Anwesenheit gab der Aktion einen besonders schrägen Hieb. Steif wie ein Fisch aus der Tiefkühltruhe nahm Fräulein Dr. Horn im geblümten Morgenrock ihre verkratzten Kratzbürsten entgegen. „Danke“, sagte sie. Es hörte sich an, als schneide ein Diamant Glas. Sie mußte von dem Streich gewußt haben. Während sie sich vorbeugte, um sich über die Beinfesseln zu entrüsten, gelang es Andi, unbemerkt hinter sie zu treten und ihr einen Rest Juckpulver aus der Tüte in den Nacken zu streuen.
Der Vogelkopf und die Schultern fingen umgehend zu zucken an, die Spediteure verabschiedeten sich.
Auch sie und alle Ritter vergaßen die Rache der Kratzbürsten nicht so rasch. Tagelang wurde weitergekratzt. Manche sprühten Pflanzenschutz- und Insektenvertilgungsmittel in ihre Schränke. Es half nichts.
„Juckpulver ist wie antibiotikaresistente Bakterien!“ stellte Strehlau mit wissenschaftlicher Miene fest.
Die gesamte frische Wäsche mußte ein zweites Mal gewaschen werden.
Dann war es passiert.
Bums hatte eigenhändig die Leiter am Tor der Lehrergarage angelegt und die Löcher des alten Taubenschlags mit dem Konsolbrettchen zugenagelt. „So. Das ist die Kündigung! Jetzt wird sich der Marder eine andere Wohnung suchen“, sagte er zu den Nächststehenden.
Es war früher Nachmittag. Die gesamte Ritterschaft befand sich zur Verabschiedung im Burghof. Da kam ein Wagen über die Zugbrücke gepoltert und mußte wegen der Leiter scharf abgebremst werden.
Sonja stieg aus. Merkwürdig kühl entschuldigte sie sich bei ihrem Kollegen. Sie habe es eilig, müsse zu ihrem Vater, es sei dringend.
Doktor Waldmann kam gerade mit Dings, Mauersäge und dem Rex die Freitreppe herunter.
Dings sah sie, bezog ihre Eile auf sich und strahlte. „Das ist aber eine freudige Überraschung!“ Er streckte ihr die Hand entgegen und wich nicht mehr von ihrer Seite. „Die schöne Sonja!“ feixte Pummel.
„Paßt auf, gleich kommt Schießbude angegeigt!“ mutmaßte Werner, und so war es. Der kleinste Lehrer der Burg blieb ihr auf den Fersen, wie ein auffallend unauffälliger Leibwächter. Dings nahm Sonja am Arm. Sie mußte mit zum Wagen, wo sich Bums einfand, und die ganze Händeschüttelei mit den Lehrern abwarten, ohne auch nur ein Wort mit ihrem Vater reden zu können.
Ottokar trat zu Stephan. „Hat sie dich auch nicht begrüßt?“ Der schüttelte den Kopf. „Pfeilgrad an mir vorbeigerauscht!“
Mit einem Karton voller Weinflaschen auf den Unterarmen erschien Jean am Portal.
„Aha! Mauersäge sorgt für gute Erinnerung!“ flachste Andi. „Schreckensteiner Burggraben Nordseite, Zu-Spätlese!“ witzelte Klaus.
Bums mußte den Zündschlüssel noch einmal abziehen, um den Kofferraum zu öffnen. Dann wiederholte sich unter Sonjas ungeduldigen Blicken das Händeschütteln mit dem Burgherrn.
Von den Rittern hatten sich Dings und Bums nach dem Essen verabschiedet. Jeder von jedem. Bums bekam von Ralph eine Bandkopie des Jazzkonzerts, Dings von Hans-Jürgen ein getipptes Manuskript. „Es ist der fertige Bericht über Schreckenstein. Für Ihre Behörde. Damit Sie sich die Arbeit nicht machen müssen. Er ist natürlich kolossal positiv. Stimmt aber alles.“
Jetzt stand die Ritterschaft Spalier und schmetterte ihren Schlachtruf. Peter Dings und Paul Bums rollten winkend zum Tor hinaus.
„Muß i denn, muß i denn…“, trompetete der Rex.
Wohlgelaunt stiegen Ritter und Lehrer die Treppe hinauf. Sonja hielt ihren Vater im Burghof zurück und redete heftig auf ihn ein. Mauersäge sah sich um und trat hinzu. Auch auf ihn redete sie ein, bis er bestürzt die Hände zusammenschlug. „Also nichts Privates!“ brummte Ottokar und machte mit Stephan kehrt, um sich Klarheit über ihr merkwürdiges Verhalten zu verschaffen.
Sonja wiederholte die Schreckensnachricht. „Euer Rex soll versetzt werden! Fräulein Horn war in Neustadt auf dem Schulamt wegen einer anderen Sache – da hat sie’s gehört –, sagt sie. Ich bin sofort rübergefahren.“
Ottokar stand starr. „Das hätten uns Dingsbums gesagt!“
„Vielleicht… ks… wissen sie’s noch… ks…“, gab Mauersäge zu bedenken.
„Vielleicht haben sie’s nur dem Rex gesagt“, meinte Waldmann.
„Drum hat der ,Muß i denn…’ trompetet!“ Stephan sprach’s, rannte die Freitreppe hinauf und kam mit dem Rex zurück.
„Was gibt’s denn Geheimnisvolles?“ Direktor Meyer hatte keine Ahnung. Ohne sichtbare Bewegung hörte er zu und sagte dann: „Ich glaub nichts, bevor ich’s nicht schriftlich habe!“
Auch alle anschließenden Überlegungen zur Sache nahm er unheimlich gelassen hin.
Gerücht oder Tatsache — das ging alle an. In der Teepause hielt Ottokar im Eßsaal eine Schulversammlung ab.
„Wir haben eine unbestätigte Nachricht vom Schulamt: Der Rex soll wegversetzt werden!“ Und er erklärte die Sache.
Zuerst war die Ritterschaft wie gelähmt, dann explodierte sie. Alles brüllte durcheinander. „Wenn der Rex geht, gehen wir auch! Wir demonstrieren! Sitzstreik vor dem Amt! Hungerstreik! Dingsbums haben uns verraten! Das hat die Horn verbrochen…!“
„Keine Verdächtigungen!“ brüllte Ottokar dagegen. „Keine Überreaktionen!“
Der Rex kam herein, und in einer leidenschaftlichen Aufwallung versicherten ihn die Ritter ihrer Treue. Vielen wurde jetzt erst bewußt, wie untrennbar er zu Schreckenstein gehörte. Bewegt senkte er in Dirigentenpose die Hände, bis das Pianissimo erreicht war. „Ich danke euch. Und ich bitte euch: Macht vorerst gar nichts! Vor allem keinen Streich. Wir können diskutieren und überlegen. Nur nicht handeln. Es wird Tage dauern, bis wir zu einer ausgewogenen Betrachtungsweise finden werden…“
Vierzehn Tage lag der Schock inzwischen zurück.
Vierzehn tatenlose Tage, ohne die gewohnte Fröhlichkeit, ohne Schwung, ohne brauchbare Ideen, was man tun könnte. Und ohne Nachricht.
Der Rex unternahm überhaupt nichts. Dr. Waldmann hatte dort angerufen und Bums verlangt. Der sei auf Urlaub, hieß es.
Anderntags kam die Bestätigung: Eine Karte von der Insel Elba mit Napoleons Verbannungsschlößchen drauf und Grüßen an alle. Absender: Dings.
„Die wissen nichts! Entschieden wird ja im Amt“, meinte Mücke abends in der Folterkammer, wo sich der Ritterrat einmal mehr vergeblich den Kopf zerbrach.
„Wenn Dings nicht in Urlaub war…“
„Könnten wir Sonja hinschicken!“ vollendete Dieter Dampfwalzes nicht mehr taufrische Überlegung.
Am fünfzehnten Tag fehlte Hans-Jürgen.
Dolf, Rolf und Wolf, seine Zimmerkameraden im Nordflügel, fanden auf seinem Tisch einen Zettel: Lieber fliegen als warten! stand da in dichterischer Verdichtung.
Noch vor dem Dauerlauf wußten es alle, und Mücke reagierte am schnellsten. „Also warten wir!“
In der Liegezeit nach dem Essen klingelte das Telefon bei der kleinen Treppe. Aus Süd und West wetzten hellhörige Ritter hinauf. Die andern folgten.
Hier war Emil der schnellste: „Schule Burg Schreckenstein! — Hans-Jürgen, bist du’s? – Mensch, was… wo, wo bist du denn?
- Ich versteh nicht. Seid doch mal still! – Nein, nicht du. – Was? Das gibt’s doch nicht! – Dideldumdei!“
Da die Ritter nur Emil hören konnten, waren den Phantasien keine Grenzen gesetzt.
„Im Schul…? – Das walte Paule! – Irre! Mann – Was? Gelesen? – Aus seinem Manuskript? – Du meinst vom Dings? – Ach so, Bums hat den Bericht! – Nein? – Was dann? – Aus deinem Manuskript? – Ist ja kolossal! In dem Bericht stehen Sätze aus deinem Manus… Wie bist du denn da ränge…? – Auf dem Tisch? Einfach so…? Mich laust der… – Bei welchem Chef? Du persönlich? Hat der dich denn…“
Ein Termitenhügel von Rittern umdrängte die Zelle; die Pulse rasten. Der kleine Herbert hielt die Spannung nicht mehr aus. Er trat Emil in den Hintern und brüllte: „Was ist mit dem Rex?“
Emil fuhr herum. „Alles okay, Flasche! – Nein, nicht du, Hans-Jürgen. Hier ist einem die Sicherung durchgebrannt…“
Andi wollte sich vergewissern und packte Emil am Arm. „Der Rex bleibt?“
„Ja doch, was denn sonst? Kann man hier nicht mal in Ruhe telefonieren? – Neugierig wie die Hühner!“
Die Ritter sanken einander in die Arme oder in die Knie, je nach Temperament. Ottokar rannte los. Zum Rex.
Emil sprach wieder in den Hörer. „Und was hat er dann gesagt, der Chef? – Was? – Sag das noch mal! – Ein Hörfehler…“ Lachen brach aus Emil heraus, komplett irres Lachen. Mit dem Rücken rutschte er an der offenen Tür der Telefonzelle herunter, bis das Steißbein geerdet war. „Ein Hör… feh… ler…“ lallte er, ließ den Hörer fallen und lachte, lachte, daß er kaum noch Luft bekam.
Dampfwalze tätschelte ihm ziemlich handfest die Backen.
„Da war…“, japste Emil, „...der Wunsch die Mutter…“
„Nun sag uns schon die Mama!“ fuhr ihn Stephan an.
„Die…“ Emil mußte husten. Da half kein Drängen.
„Die…“ Röchelnd sog er Luft ein. „Die Horn hat sich verhört:
Sie… sie selbst soll abgelöst werden…“