Kuchen und Wahrheit
Bis jetzt war Ottokar ganz gut um Dings herumgekommen. „Gestolpert“, erklärte er wahrheitsgemäß allen, denen sein Aussehen auffiel. Bei dem Schnüffler hätten das Pflaster an der Schläfe und die verbundene Hand jedoch ausgereicht, den Verdacht auf sich zu lenken. Die Frage: „Wo hast du dich denn verletzt?“ wäre unvermeidlich gewesen, und die Antwort: „Am Kopf und an der Hand“, nicht ausreichend.
Lügen aber würde Ottokar nicht. Erstens sowieso nicht, zweitens hier, wo es darum ging, die Schreckensteiner Ehrlichkeit zu beweisen, zehnmal nicht.
Beim Mittagessen saßen ein vergnügter Bums und ein stiller Dings am Lehrertisch. Spätestens bei der Ansage mußte es passieren. Deswegen war Ottokar gar nicht erst erschienen. Der Lastwagen einer Spenglerei, die, wie sich herausstellte, Reparaturmaterial im Sternenhof deponieren sollte, kam allein mit dem Einfädeln durch das Tor nicht zurecht.
Mauersäge war mit Jean weggefahren. Ottokar, der zufällig von dem Transport erfuhr, ging hinunter und winkte den Mann ein. Das dauerte seine Zeit. Zumal der Fahrer ein Minimotorrad aus dem Führerhaus hob. Ottokar half ihm Lenker und Sattel in Position zu bringen; der Lastwagen blieb im Hof zurück.
Im Eßsaal sagte Mücke stellvertretend für den Schulkapitän an. Er nannte auch den Grund, und so fiel das nicht auf. Ebensowenig, daß Ottokar beim Sport fehlte.
Im Flur des Südflügels räumte er seinen Schrank auf. Da sah er Sonja in den Burghof brausen. Wie üblich stieg sie mit einer Kuchenschachtel aus.
Tee bei Waldmann! lautete die Nachricht, die Ottokar auf Stephans Tisch hinterließ. Wenn Sonja mit der Kuchenschachtel kam, stand die Runde fest.
„Aha, du!“ sagte sie nur, als er in Dr. Waldmanns Zimmer trat. Ottokar grinste. „Es war zu komisch!“
„Schlimm?“ fragte sie und betrachtete ihn genau. Ottokar winkte ab. Und er berichtete von dem belauschten Gespräch im Gasthaus.
Lang hatten sie sich, von dem Schubkarren notdürftig vor dem eisigen Ostwind geschützt, den Lebenslauf des Studienrats angehört, immer wieder unterbrochen von Ausrufen des Entzückens über das gute Essen – während sie hungerten – und von Gläserklang bei der ständigen Anstoßerei.
„Ich hab’s auch dick!“ unterbrach Sonja. „Aber ich hab gleich gemerkt, daß er sich Mut antrinkt für irgendwas.“
„Dann dachte ich, jetzt kommt er endlich auf uns zu sprechen, will dich aushorchen“, fuhr Ottokar fort.
„Das hättet ihr einfacher haben können!“ meinte Dr. Waldmann. Er sah aber ein, daß die Ritter Sonja heraushalten wollten. Die Schnüffler waren Schreckensteiner Problem. Eine Lehrerin von Rosenfels als Spitzel – wenn das durch einen dummen Zufall herauskäme, wäre niemandem damit genützt.
Ottokar berichtete zunehmend blumiger. „...also während wir zähneklappernd und magenknurrend lauschen…“
Ein kurzes Klopfen an der Tür, Stephan trat ein. „...wird der Dings auf einmal ganz feierlich“, übernahm er nahtlos, „und sagt mit Bibber in der Stimme: ,Wissen sie, daß Sie sehr schön sind, Sonja?’“
„Darauf dein Supersatz!“ fuhr Ottokar fort. „,Bitte einen andern Text, Herr Doktor!’ - Da konnten wir nicht mehr.“
„Man hat’s gehört“, bestätigte sie.
Die Beteiligten lachten noch einmal ausgiebig. Samt Dr. Waldmann.
Das war die Wende. Die Lauscher hatten sich selbst verraten. Auf der Flucht stolperte Ottokar über den Schubkarren, was wiederum Lärm machte. Geistesgegenwärtig trotz Benommenheit duckte er sich hinter das Ziegelpaket einer Baustelle. Bis Dings am Fenster erschien, war niemand mehr zu sehen. Ottokar schmerzte die Hand und er fühlte, wie ihm Blut über die Wange in den Kragen lief. Gebückt schlich er davon zu den Rädern.
„Wir mußten was tun, sofort“, übernahm Stephan, „und haben bei Schreinermeister Schrimpf geläutet. Seine Frau hat ihm alkoholgetränktes Arnika drauf, das…“
Ein Klopfen unterbrach.
„Herein!“ rief Dr. Waldmann.
„Ich sah den Wagen und dachte…“ Schnüffler Dings’ freundlicher Tonfall erstarb. Er sah Ottokar mit Pflaster und Verband. Und wußte. Das war ihm anzusehen.
Dr. Waldmann hatte sich erhoben. „Wir trinken grade Tee. Setzen Sie sich zu uns.“
Auch die Ritter waren aufgestanden. Während Dings die schöne Sonja förmlich begrüßte, und Dr. Waldmann eine weitere Tasse holte, arbeitete es in ihren Köpfen.
Mann! Das ist ein Rückschlag! Verdammt. Was jetzt tun? Gar nichts. Abwarten! Er hat sich ja blamiert, nicht wir!
„Sind Sie gut nach Hause gekommen?“ fragte Dings. Sonja nickte. „Danke, ja.“
„Man speist ausgezeichnet in Wampoldsreute“, sagte der Schnüffler zu Dr. Waldmann. Dabei flitzten seine Blicke von einem zum andern. „Und die Weine! Verführerisch!“
„Ein Geheimtip“, bestätigte der Doktor höflich.
„Ich glaub, ich hab ein wenig zu tief ins Glas geschaut.“ Dings sah Sonja an und lächelte nicht gerade natürlich.
Geschickter Hund! dachten die beiden Ritter. Er will rauskriegen, was jeder weiß. Dann wird er sich gleich an uns wenden!
Ein wenig laienhaft hob Dings die Augenbrauen, um Erstaunen zu bekunden. Seine Frage an Ottokar war dafür um so hinterhältiger: „Wo hast du dich denn rumgetrieben?“
Jetzt ging das große Kopfrechnen los: Wenn er so fragt, nimmt er an, daß ich mich nicht traue, ihm die Wahrheit vor allen ins Gesicht zu sagen! Damit hätte er den ersten Beweis dafür, daß die Schreckensteiner nicht so aufrichtig sind, wie sie behaupten. Also Vorsicht!
„Ich bin gestolpert“, sagte der Schulkapitän und hatte ein paar Sekunden gewonnen, um weiter zu rechnen.
„Schade, daß Sie gestern abend nicht da waren!“ lenkte Stephan ab. „Ihr Kollege hat ein Jazzkonzert gegeben. Kolossale Klasse!“
„Warst du dabei?“ Durchdringend sah Dings ihn an.
Stephan schüttelte den Kopf. „Hans-Jürgen hat’s mir erzählt, der Flötist. Hans-Jürgen.“
Ottokar übersetzte den Wink seines Freundes: Mach’s wie Hans-Jürgen! Dieselbe Taktik. Dreist aber ehrlich!
„Ich hab davon gehört“, erwiderte Dings und wandte sich wieder Ottokar zu. „Sieht schlimm aus! Wie ist das passiert?“
Mann! Jetzt muß dir was einfallen!
Um Zeit zu gewinnen, biß Ottokar in den Kuchen.
Sonja, Stephan und Dr. Waldmann schauten weg. Sie wollten ihn nicht irritieren. Die Stimmung knisterte wie Fichtenholz im offenen Kamin.
„Ach…“ Ottokar mampfte noch. Jetzt half nur die Flucht nach vorn. „Die Sache an sich ist nicht der Rede wert. War reine Fehlanzeige. Alles nur wegen Ihnen! Wir haben überall Wachen, jede Nacht, um uns vor Streichen und anderen Überraschungen zu schützen. Es soll ruhig bleiben, damit Sie nicht behaupten können, wir hätten zuwenig Schlaf. Sie sollen uns doch prüfen, und wir wollen unsere Schule so wie sie ist erhalten. Das ist die Wahrheit.“
Sonja, Stephan und Waldmann hielten den Atem an; die Stille lastete bleiern.
Dings war so perplex, daß er nur millimeterweit nickte. Er wollte sagen, wie sehr ihn die Aufrichtigkeit freue, aber sein Berufsmißtrauen hinderte ihn. Schließlich räusperte er seine Kehle frei und stand auf. „Tja, dann wissen wir jetzt, woran wir miteinander sind. Entschuldigen Sie mich bitte!“ Die Tür schnappte zu, ratlos sahen die vier einander an, dann zunehmend heiter, bis Sonja schließlich herausplatzte: „Mit Ehrlichkeit ist der noch nie überfallen worden!“
Sie lachten erst einmal die Spannung weg. Ottokar und Stephan stopften Kuchen nach.
„Respekt!“ lobte Dr. Waldmann. „Ich hab sehr befürchtet, du würdest ihm Sonjas Schönheit auftischen. Damit hättest du ihn dir zum Feind gemacht. Wahrscheinlich uns allen! Aber du warst ausnahmsweise klüger, als ich dachte. Das Gesicht des andern wahren –, das ist wahre Diplomatie!“
Stephan rechnete noch, oder schon wieder: „Dann weiß er jetzt, daß wir wegen ihrer Schnüffelei zu wenig Schlaf haben…“
Ottokar winkte ab. „Jetzt geht er sich mit Bums besprechen. Den hat Hans-Jürgen schon k.o. gequatscht.“
Sonja lachte. „Sozusagen euer erster Wort-Streich!“
Stephan rechnete weiter: „Wenn die Mädchen erfahren, daß wir alles bewachen…“
„Ihr habt mich rausgehalten, ich halte euch raus!“ unterbrach ihn Sonja.
„Genuß der Fairneß!“ fuhr Dr. Waldmann dazwischen. „Eßt endlich auf! In zehn Minuten ist Arbeitsstunde.“
Ohne sich zu verabreden, schwiegen die beiden über das Wortgefecht mit Dings. Später im Ritterrat würden sie berichten.
Als die Ritterschaft zum Abendessen in den Eßsaal kam, war Sonja noch immer da. Sie habe Grüße von Beatrix und Sophie zu bestellen vergessen, außerdem ihren freien Nachmittag, behauptete sie.
Stephan und Ottokar ahnten den wahren Grund. „Find ich prima von ihr!“ meinte der Schulkapitän und schaute zum Lehrertisch hinüber, wo Dings und Schießbude sich beeilten, die Plätze neben ihr zu ergattern, was ihnen auch gelang.
Stephan grinste. „Wir sagen jedenfalls nichts. Die werden staunen! Nicht nur Peter und Paul.“