Das trojanische Auto
Wie gewöhnlich hatte Mauersäge allein zu Abend gegessen.
Hund Harro lag auf seinem Sessel und schniefte. Die Luft im Raum war schlecht, weil der offene Kamin nicht richtig zog, eine Eigenschaft, die er mit der Nase des Burgherrn gemeinsam hatte. Der kämpfte bei sich selbst mit einer Prise Schnupftabak dagegen an, für das Kaminfeuer öffnete er ein Fenster. Ferne Musik drang herein. Eine Band spielte Dixieland, den Mauersäge aus seiner Jugend schätzte.
Aha! dachte er scharfsinnig. Daß der Dickere der beiden Schnüffler auch auf diesem Gebiet ein versierter Pianist sei, hatte sich schon bis zu ihm herumgesprochen. Die weibliche Stimme jedoch, die dazu sang, machte ihn neugierig. Wer mochte das sein? Nun, das würde sich beim abendlichen Gassigang mit Harro feststellen lassen.
Vorbei an den Gemälden und Geweihen im Flur, darunter der riesige Elch, begab sich das sechsbeinige Duo hinaus in den matt beleuchteten Sternenhof.
Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, sofort loszurennen, um im Prinzengarten anregende Düfte zu erschnuppern, umschlich Harro den Lastwagen in der Ecke und knurrte ausdauernd. Der Burgherr verstand die Aufforderung. Er sah nach. Das Führerhaus war abgeschlossen, hinten jedoch stand ein Türflügel zwar angelehnt, aber offen.
Mauersäge streckte den Kopf hinein. „Hallo… ks. Ist da jemand?“
Eine Antwort konnte er nicht bekommen, denn er sah nur Dachrinnen, Rohre, Winkel, unbearbeitete Blechplatten, Leitern und eine Werkbank.
Wahrscheinlich hatten die Ritter aufgesperrt, die zur Zeit alles kontrollierten. Harro wurde getätschelt und verschwand im Durchgang. Mauersäge folgte ihm. Jetzt hörte er die Musik laut. Sie kam aus dem Wohnzimmer. Er ging am Westflügel entlang bis zum Durchgang der Schule. Nirgendwo bemerkte er einen Wachposten.
Harro tat, was er sollte. Am Fuß der Freitreppe im Burghof hatte er seinen Herrn wieder eingeholt.
Beim Eintritt in den Nordflügel wurde die Musik noch einmal deutlich lauter. Der Burgherr wollte die große Treppe nehmen, doch Harro knurrte und zog nach links. Weiter vorn im Flur huschte eine Gestalt hinter einen Schrank oder verschwand in ein Zimmer.
Bevor das sechsbeinige Duo in den Westflügel einbog, knurrte Harro erneut. Das Verschwinden einer huschenden Gestalt wiederholte sich noch zweimal. Jeweils auf ein Knurren von Harro. Wachhunde haben etwas gegen rasche Bewegungen. Auch bei Wachen. Möglicherweise machte ihn der aggressive Rhythmus nervös. Ganz im Gegensatz zu seinem Herrn. Erinnerungsselig summte und schaltete Mauersäge die Melodie mit.
Im engen, halbdunklen Aufgang der kleinen Treppe kamen ihm Schritte entgegen. Als Harro bellte, verschwanden sie wieder nach oben, ohne daß er bei den zwei Neunzig-Grad-Winkeln der Treppe jemanden gesehen hätte.
Heiß ging’s im Wohnzimmer her. Sehr heiß. Der Raum schien im Rhythmus mitzuswingen, so jazzelte die komplette Horror Rock Band mit Bums und Strehlau vierhändig am Klavier, und die Sängerin riß das Auditorium zu Stürmen der Begeisterung hin, allen voran Dings und Schießbude, die mit Stielaugen jede ihrer Bewegungen verfolgten. Es war Sonja.
Da saß jeder Ton, jede Geste.
„Ex… ks… zellent!“ lobte Mauersäge ganz für sich. Auch Harro zollte Sonja Anerkennung: Er knurrte nicht.
Gerade brach wieder ein Jubelsturm los. Der Rex, Dr. Schüler und Dr. Waldmann klatschten den Takt mit; Emil und Beni, die hinten nächst der Tür standen, machten Mauersäge Platz. „Eure Wachen… ks…“, flüsterte er ihnen zu, „...sind zu sehr… ks… Musikfreunde. Sie sollten draußen stehn, nicht… ks… in den Gängen!“
Die beiden Ritter verständigten sich unauffällig. Beni ging zur Tür hinaus, Emil schlängelte sich zu Dampfwalze durch. Das Kraftgebirge ragte am sichtbarsten aus der Menge.
Nach kurzer Flüsterverständigung, des Lärms wegen in Ruflautstärke, gingen sie miteinander zur Tür. Mauersäge und Harro drängten nach vorn. Die Bewegung fiel in der allgemeinen Begeisterung nicht auf.
Kaum hatten die beiden die Tür geschlossen, kam Beni daher. „Die Hühner!“ flüsterte er. „Im West und im Süd.“
Von drinnen wurde die Tür geöffnet, Dings kam heraus.
„Was tut ihr denn hier? Macht ihr einen Streich?“ Der Schnüffler hatte grade noch gefehlt.
Bevor einem der Ritter eine Antwort einfiel, wurde die Tür abermals geöffnet. Mücke trat heraus ins Halbdunkel. „Tut sich also doch was!“ sagte er sofort. „Sind die Hühner da?“
„Genau!“ brummte Emil.
„Ein Streich! Wie ich vermutet habe.“ Dings war sichtlich aufgeregt. „Da mach ich mit! Das interessiert mich schon lang.“
Durch Mückes Kopf sausten Gedanken: Musik muß weitergehen… erst mal Spähtrupp… wissen ja nicht, wie viele es sind… Dings soll ruhig mitmachen… Und erneut bewies er seinen Ruf als Schnellschalter. „Geh rein, Beni, hol noch ein paar Mann! Und laß durchsagen, daß sie weitermachen…“
Dings lachte kurz. „Das wird doch nie was! Wenn die hören, was los ist, kommen sie gelaufen.“
„Unterschätzen Sie uns nicht!“ entgegnete Dampfwalze.
„Streiche klappen nur, wenn jeder spurt“, belehrte ihn Mücke. „Und deswegen gehen Sie jetzt als Lehrer mal ganz offiziell die kleine Treppe runter, durch West und Nord, die große wieder rauf und hierher zurück, ja?“
Es klang wie ein Befehl. Dings schaute einen Augenblick erstaunt, widersprach aber nicht, sondern nickte nur und trabte los.
„Kolossal!“ brummte Dampfwalze.
Im Wohnzimmer gab Beni die Neuigkeit durch. Sieben Mann nahm er mit, die andern sorgten dafür, daß der Radaupegel nicht abfiel. Der Rex verständigte Ottokar – ein furioses Schlagzeugsolo war die Antwort. Es prasselte und schepperte, daß selbst Dings im Westflügel aufhorchte.
Türen der Ritterschränke standen offen, Mädchen machten sich drin zu schaffen, dabei hielten sie irgend etwas Kleines in der Hand und rannten davon, als sie ihn kommen sahen.
„Was ist denn hier los?“ fragte er laut und blieb stehen, um nachzusehen. Merkwürdig. In den Schränken herrschte relativ Ordnung. Alles lag und hing mehr oder weniger an seinem Platz. Dings ging weiter. Auch im Nordflügel rannten Mädchen davon. Er blieb abermals stehen und inspizierte einen weiteren Schrank. Hier herrschte vorbildliche Ordnung. Auf einem Taschentuch las er das angenähte Namensschild: Strehlau.
Was machen die Mädchen nur?
Während er sich das fragte, wurde hinter ihm eine Zimmertür geöffnet, und bevor er sich umdrehen konnte, lag er, von einem sauberen Karategriff gefällt, auf den Steinfliesen. Er spürte etwas im Nacken, das sich wie ein Gummihandschuh anfühlte. Bis er sich von seinem Schreck erholt und wieder aufgerappelt hatte, sah er gerade noch vier Beine um die Ecke in den Westflügel verschwinden. Gleich darauf hörte er einen spitzen Schrei. Von beiden Seiten kamen die Ritter. Sie hatten seinen Gang beobachtet, dabei die Mädchen gezählt und fingen sie jetzt ein.
Mücke kam zu Dings. „Alles in Ordnung?“ fragte er.
„Diese Biester!“ schimpfte der, peinlich berührt, als Schnüffler vor den Augen der Beschnüffelten von Mädchen überwältigt worden zu sein. Doch er nickte und lächelte tapfer.
„Ist uns auch schon passiert!“ beschwichtigte ihn Mücke diplomatisch. „Das muß Martina gewesen sein, die kann Karate. Aber meist von hinten.“
„Warum habt ihr den Elektrozaun nicht aufgestellt?“ hielt Dings ihm vor. „Dann wären die gar nicht reingekommen!“
Um sie herum kreischten und zappelten die Mädchen unter den fixen Griffen der Ritter. Nur Mücke hatte keinerlei Eile. Ruhig sah er den Schnüffler an, der jetzt keiner mehr war, und ließ seine Antwort auf der Zunge zergehen: „Den haben wir wegen Ihnen weg! Die Minis stehen draußen.“
Statt eine Antwort und damit den Rittern endlich recht zu geben, rollte Dings die Augen und verfiel in merkwürdige Zuckungen. Mücke befürchtete schon, der gute Mann könnte auf seinen, für den Lehrberuf unerläßlichen Hinterkopfgefallen sein – ein Dachschaden dieser Art wäre das Ende von Schreckenstein –, da rief Klaus, der die Oberkratzbürste Esther im Schwitzkasten hielt und ähnlich zuckte: „Die Mistkäfer haben Juckpulver verstreut!“
Das erklärte die aberwitzige Szene. Untermalt vom heißen Jazzrhythmus aus dem Wohnzimmer, führten Pummel und Eugen mit Sabine einen wahren Veitstanz auf. Sie packten sie, ließen los, um sich zu kratzen, und faßten wieder zu. Nicht anders Emil und Walter, die, von Juckreiz gepeinigt, versuchten, Isabel zu fesseln und dabei sinnloserweise Luftsprünge machten.
Isabel trug, wie alle Mädchen Gummihandschuhe und schlenkerte eine kleine Tüte, deren Inhalt ihr selbst am meisten zu schaffen machte. Fritz und Werner hatten Elke in eine Fensternische gedrängt und fesselten sie in Etappen, soweit es der Juckreiz gerade zuließ. Einer kratzte sich, der andere knotete, bis er nicht mehr konnte. Dieter und Beni brachten Sprungseile aus ihren Zimmern, auch sie keiner normalen Gangart mehr fähig.
Am komischsten aber war Dampfwalze, der mit Martina ein altes Hühnchen zu rupfen hatte. Kaum gelang es ihm, nach zahlreichen Täuschungsmanövern und Zuckungen, einen guten Griff anzubringen, ließ er wieder von ihr ab und kratzte sich, wobei er mit den Armen schlug, als müsse er einen Wespenschwarm abwehren. Martina ging es nicht anders. Sie nutzte gar den Boden als Kratzfläche, indem sie Purzelbäume schlug.
„Sieht aus wie Dämonenbeschwörung!“ meinte Dings und gebärdete sich wie ein Hampelmann.
„Der Dämon sitzt vor allem im Nacken!“ stellte Mücke fest. Nicht nur an Dampfwalze und Martina. In seinem Hemdkragen kribbelte es wie eine Ameiseninvasion.
„Mann!“ stöhnte Dampfwalze, nachdem Martina endlich überwältigt war. „Ich halt’s nicht mehr aus. Ich muß unter die Dusche!“ Er überließ Dieter die Gefesselte.
Klaus kämpfte noch und schimpfte. „Nie hab ich für so wenige so viel Kraft gebraucht!“
Es waren tatsächlich nur fünf Mädchen, die Kratzbürsten und Leidtragenden vom Klavierkonzert.
Dann kamen, von Beni verständigt, die Jazzler und ihre Zuhörer. Sie lachten bei dem Anblick, der sich ihnen bot, daß die Burg erzitterte, und Harro bellte dazu.
Die Mädchen, an Händen und Füßen und zum Kreis aneinander gefesselt, zuckten, hüpften, schimpften, stampften und kreischten. Nicht anders ihre Bezwinger, nur ohne Fesseln.
Der höllische Juckreiz hinderte Dings indes nicht, seinem Kollegen Bums, dem Rex und dem Burgherrn begeistert zu berichten.
„Das… ks…“, unterbrach ihn Mauersäge, „...das Zeug ist noch ansteckender als… ks… Jazz!“ Und er hüpfte los, vom Jucktanz ergriffen. Auch Bums und der Rex fingen zu zappeln an.
Die Umstehenden brachen erneut in Gelächter aus. Nicht sehr lang. Der Jucktanz packte auch sie. Alle.
Bei jedem Schritt Wasser aus den Schuhen quetschend, mit angeklatschtem Hemd und Hose, kam Dampfwalze zurück. „Wasser hilft. Nur Wasser!“ verkündete er.
Seine Worte lösten unter den Jucktänzern ein Gedränge aus, wie man es im Duschraum noch nicht gesehen hatte. Mit Brillen, Uhren, Schuhen und allem Kram in den Taschen, drängten sich Ritter, Lehrer, Schnüffler und der Burgherr unter den Brausen.
„Je nasser, desto besser!“ rief Doktor Waldmann und fand johlende Zustimmung.
Daß die Gefangenen bei der Schreckensteiner Streichroutine nicht unbewacht zurückblieben, versteht sich. Ottokar, Andi, Hans-Jürgen, Stephan und Mücke kratzten sich gegenseitig, ohne die Kratzbürsten aus den Augen zu lassen.
Beni hatte die Minis von ihren Wachposten hereingeholt und meckerte, weil sie nichts gesehen hatten. Da kam Mauersäge aus dem Duschraum getropft, neben sich den trockenen Harro. „Sehen… ks… konnten die nichts!“ schaltete er sich in das Gespräch ein. „Die jungen… ks… Damen sind mit dem trojanischen Auto gekommen.“
Ottokar ging ein Licht auf. „Der Dachdecker!“
„Laßt uns auch unter die Dusche!“ rief Martina verzweifelt.
„Nix da.“ Andi sagte es ganz ruhig. „Sonst erkältet ihr euch aus Rache, und wir sind schuld. Mindestens einer muß bei euren Aktionen ja zum Arzt!“
Da kam Dings hinzugetropft. „Sie sind noch da!“ sagte er erleichtert. „Ich hab schon befürchtet, ihr vergeßt vor lauter Juckreiz die Gefangenen. Aber hier spurt wirklich jeder.“
„Wißt ihr was…!“ Bums kam hinter seinem Kollegen hergetrieft, „wir ziehen uns jetzt trockene Sachen an. Dann fahren wir die Mädchen nach Hause. Ich hab ja den Führerschein!“
„Langsam, langsam, Herr Kollege!“ dämpfte Dings. „Sollten wir nicht besser bis Mitternacht warten? Dann könnten wir Fräulein Horn aus dem Bett klingeln und ihr die Biester ganz offiziell übergeben…“
„Kolossal!“ brüllte Dampfwalze.
„Und unser Schlaf?“ fragte Witzbold Klaus scheinheilig. Dings grinste. Richtig nett. „Den holt ihr doch im Unterricht nach, oder?“
Mücke krönte den Wort-Streich. Dreist aber ehrlich klopfte er dem Ex-Schnüffler auf die Schulter und sagte: „Sie haben die Prüfung bestanden. Sie können hierbleiben.“
„Ihr auch“, antwortete Dings.
„Haben wir keinen gelben Punkt mehr auf der Nase?“ alberte Bums.
Er bekam keine Antwort. Ritter, Lehrer, Rex und Burgherr sahen einander an, die Mädchen kreischten, rieben sich verzweifelt aneinander und an der Mauerkante der Fensternische wie Kühe an einem Baum.
„Mir fällt ein Monolith vom Herzen!“ brummte Hans-Jürgen. Der kleine Egon nickte. „Ich weiß zwar nicht, was das ist, aber mir auch.“
Als sei nichts geschehen, ging der Rex zur Tagesordnung über. „Dann zieht euch endlich um! Bevor aus der Juckwelle eine Nieswelle wird.“
„Nein! Nein! Nein!“ schallte es ihm vielstimmig entgegen, daß Dings und Bums aufschauten, als wollten sie ihre Meinung revidieren. Überall standen Ritter vor den Schränken, die seiner Aufforderung bereits zuvorgekommen waren oder gerade in ein frisches Hemd schlüpften.
„Nur nichts aus dem Schrank!“ rief Oskar. „Da geht die Juckerei grad wieder von vorn los!“ Und unter dem Gekreisch der Mädchen wetzte er, frisch eingekleidet, in den Duschraum.