Die verwundete Nacht
Die Ritter begannen den Tag wie gewohnt mit dem Dauerlauf durch den Prinzengarten. Bei jedem Wetter, jeder Außentemperatur sammelten sie sich, nur mit Turnhose bekleidet am Durchgang zum Sportplatz und liefen ungefähr fünf Minuten. Auch die beiden Prüfer fingen früh an. Von ihren Fenstern in Mauersäges Burghälfte aus beobachteten sie die geordnete Formation, und die Atemfahnen vermittelten ihnen einen Eindruck davon, wie abgehärtet die Schreckensteiner waren. Ob sie wußten, daß sich die Ritter nach dem Lauf unter die kalte Dusche stellten, blieb unklar. In den Duschraum kamen sie nicht, auch nicht zum Frühstück in den Eßsaal. Erst kurz vor Beginn des Unterrichts tauchten sie im Klassentrakt auf. Dings bei den Minis, Bums bei den Großen. In beiden Klassen wurden Arbeiten geschrieben und das, so sagten sie, wollten sie miterleben.
„Soll ich Ihnen eine Zeitung holen?“ fragte Mücke. „Das wird sehr langweilig für Sie werden.“
„Nein, danke“, antwortete Bums und setzte sich auf einen Stuhl ans Fenster.
Schießbude kam herein, nickte dem Schnüffler zu, schrieb die Mathematikaufgabe an die Tafel und sagte: „Wenn Sie bleiben wollen, Herr Kollege, bitte. Ich geh jetzt! Aufsicht bei Klassenarbeiten gibt’s hier nicht.“
„Ach so.“ Bums stand auf. „Es heißt ja, die Schreckensteiner schreiben nicht ab. Dann komme ich mit Ihnen.“
„Viel Spaß“, scherzte Schießbude noch und ging mit ihm hinaus.
Kopfschüttelnd sahen die Ritter einander an, und ohne das Silentium zu brechen, machten sie sich daran, die Aufgabe zu lösen.
Ein wolkenloser Herbsttag war heraufgezogen. Die Sonne tastete sich an der Innenseite des Westflügels vom Eßsaal langsam zum Hof hinunter. Die Klassenzimmer im Ostflügel über der Tordurchfahrt und dem Gewölbe lagen im Schatten, was der Konzentration förderlich ist.
Strehlaus Computergehirn bereitete die Aufgabe keine Schwierigkeiten. Im Kopf war er der beste Sprinter. Als die Sonne die Fenster des unteren Westflügels erreichte, klappte er sein Heft zu. Er könnte es auf den Tisch des Lehrers legen und die Klasse verlassen. Noch unschlüssig, was er tun sollte, blieb er auf seinem Platz und schaute zum Fenster hinaus. In den Scheiben des Eßsaals spiegelte sich der blaue Himmel. Bis auf eine matte Stelle am dritten Fenster. Da war ein Flügel offen, und einer am fünften.
Stand dahinter jemand? Strehlau schaute genauer hin. Ja! Bei dem flachen Winkel, in dem die Sonne hineinstrahlte, gab es keinen Zweifel. Auch am dritten Fenster stand jemand. Das war ungewohnt. Um diese Zeit schaute nie jemand vom Eßsaal in den Burghof.
Schlagartig erwachte der Musterschüler aus der höheren Mathematik: Dingsbums! Klarer Fall! Die hinterhältigen Brüder sitzen da Loge, um festzustellen, ob wir nicht doch voneinander abschreiben oder uns untereinander verständigen. Dieses miese Belauern können wir nicht tatenlos hinnehmen!
Blitzschnell kombinierte er Gegebenheiten und Möglichkeiten, stand auf, legte sein Heft für die Späher gut zu sehen auf den Tisch des Lehrers, ging weiter zur Tafel, wo sie ihn nicht mehr sehen konnten und annehmen mußten, er habe die Klasse verlassen.
Mit Kreide schrieb er seine Beobachtung unter die Klassenarbeit und sein Vorhaben gleich dazu.
VORSICHT! – begann der Text. – Wir werden vom Eßsaal aus beobachtet. Nicht alle auf einmal zur Tafel schauen…
An der Wand entlang, um nicht mehr gesehen zu werden, verließ er das Klassenzimmer, kam kurz darauf zurück und schob mit einem Besenstiel den Nächstsitzenden zwei Spiegel zu. Die konnten sie mit den Füßen weiterbefördern.
Nun begab sich Strehlau in den unteren Westflügel. Da die Klassenzimmer, wie gesagt, im Schatten lagen, hatte er sich in seinem Computergehirn eine Art Lichtbillard ausgedacht. Er hängte zwei Zimmerspiegel ab, trat damit im Flur ans nächste Fenster, fing die Sonne ein und leitete die Strahlenbündel hinüber in die Klasse. Dort nahmen sie zwei Ritter mit den Spiegeln ab, schwenkten hinauf und blendeten die Schnüffler, bis sie aufgaben und die Fenster schlossen.
Drüben im Klassenzimmer legte Stephan den Spiegel weg und signalisierte Erfolg. Auch Strehlau tat desgleichen und bestätigte durch Handzeichen, er habe verstanden. Ohne Eile schloß er das Fenster und hängte die Blendgeräte wieder an ihre Plätze.
Vorn an der Ecke zum Südflügel hörte er die Schnüffler auf der kleinen Treppe. Genug Zeit, sich ohne Aufregung in sein Zimmer im Nordflügel zu begeben, wo er sich an seinen Tisch setzte und Klaviernoten ordnete, als habe er seit Abgabe der Klassenarbeit nichts anderes getan.
Draußen hörte er Dings und Bums. Herein kamen sie nicht. Rechtzeitig zur Pause ging er zurück in den Klassentrakt.
In Gruppen standen die Ritter herum. Jeder wußte inzwischen von der gelungenen Schnüffelabwehr. Strehlau erntete Lob für den Einfall. Gedanken über die Folgen hatten sich nur wenige gemacht, dafür aber um so gründlicher.
Hans-Jürgen hatte aus den verschiedenen Ansichten in einer besonderen Hochrechnung die verbleibenden Möglichkeiten ermittelt und sie schriftlich niedergelegt.
Sie wollten uns ertappen — wir haben sie ertappt. Nicht zum erstenmal. Sie sind obersauer.
Wir müssen uns wehren, aber sie sitzen am längeren Hebel. Unser Erfolg kann unsere Niederlage bedeuten.
Deswegen müssen wir eine andere Basis mit ihnen finden.
Sportlicher, ohne Feindschaft.
Diese Änderung kann nur von uns kommen.
Am besten war es, sie durch etwas Lustiges umzustimmen.
Sie müssen uns mögen. Dann können sie uns auch verstehen.
„Fundamental!“ Beeindruckt gab der Computer dem Dichter das Blatt zurück. „Bei der Methode seh ich Land!“
Die Glocke läutete zur nächsten Stunde, da kamen Dings und Bums um die Ecke. Nichts war ihnen anzumerken. Kühl und auf eine penetrante Weise leutselig, machten sie sich in zwei anderen Klassenzimmern breit, um den Unterricht zu verfolgen. Dings saß in der Pummelklasse, die Französisch beim Rex hatte. Dabei wurde auch dem letzten klar, welche Macht die Prüfer besaßen und wie wenig Humor.
Bemüht, die Stimmung zu entkrampfen, versuchte der Rex einen Scherz. „Wir haben heute einen Gast“, sagte er, „und wollen ihm unsere fabelhafte französische Aussprache ohne Wäscheklammer auf der Nase vorführen.“
„Verzichten Sie nicht meinetwegen auf gewohnte Hilfsmittel!“ antwortete Dings.
„So ernst war das nicht gemeint“, erklärte der Rex.
Das hagere Gesicht von Dings blieb unbewegt. „Tun Sie, als war ich nicht da!“
„Gern“, antwortete der Rex nun seinerseits mit eisiger Miene. Doch er hielt seinen Unterricht ohne die sonst üblichen Scherze und ohne Seitenblick ab.
Von ähnlichen Erfahrungen mit Bums berichteten Emil und Oskar in der nächsten Pause aus der Lateinstunde bei Dr. Schüler. Auch dort war die heitere Stimmung, die das Lernen auf Schreckenstein von dem verbohrten Büffeln in den Neustädter Schulen wohltuend unterschied, an dem Gast gescheitert.
„Nicht ein einziges Wort über sein Schachspiel hat Schüler losgelassen!“ Oskars Bemerkung stimmte bedenklich. Denn die große Leidenschaft des rasenden Lateinlehrers blieb normalerweise in keiner Unterrichtsstunde unerwähnt.
„Die haben auf stur geschaltet“, brummte Beni.
Hans-Jürgen nickte besorgt. „Und bekommen so einen völlig falschen Eindruck von uns.“
„Vielleicht ist der besser als der richtige“, meinte Andi. „Am besten also nichts Lustiges!“ witzelte Klaus. „Damit sie uns mögen, weil sie uns nicht verstehen.“
Den folgenden Unterrichtsstunden wohnten die „Gäste“ nicht mehr bei. Der Stimmung gab das keinen Aufschwung. Sie verliefen in allen Klassen derart trocken, daß Stephan nach der letzten sagte: „Die Brüder haben eine Streuwirkung wie Schrot! Jetzt lahmen wir schon ohne sie.“
Das Schweigen der Umstehenden gab ihm recht. Jeder spürte die Beklemmung, keiner wußte ein Mittel dagegen.
Auch beim Mittagessen fehlten die Störenfriede. Lustlos mampften die Ritter Königsberger Klopse, ein Gericht, das für gewöhnlich Höchststimmung auslöste. Unter sieben Stück stand da keiner vom Tisch auf. Ottokars Rekord lag immerhin bei fünfzehn.
Nur einmal schob Ralph mit der Schüssel für seinen Tisch in die Küche ab, um nachzuholen.
Heini, der Koch, blinzelte wie aus Sehschlitzen unter der hohen Mütze. „Was ist denn euch auf den Magen geschlagen? Ihr eßt ja heute wie normale Menschen!“
„Das ist der Ernst des Lebens!“ Mit zwei Fingern faßte Ralph in die gefüllte Schüssel, schob sich eine Kaper zwischen die Zähne und latschte aus der Küche.
Miniritter Egon sah die Lage anders. „Das ist die Ruhe vor dem
Sturm!“ In der Tat wurde auffallend wenig gesprochen. „Vielleicht sind Peter und Paul schon abgereist?“ mutmaßte
Armin.
„Quatsch. Die schlagen sich bei Mauersäge die Wänste voll!“
Ralph wußte Bescheid. Er hatte vor dem Essen in den Rittersaal geschaut — die Tür war wegen der Gäste nicht abgeschlossen — und dort Bratenduft gerochen.
Die Auskunft wurde stumm, aber mit Befriedigung aufgenommen. Wären die heut schon abgereist, könnten wir bald unsere
Koffer packen! dachte jeder, sagte aber nichts, um nicht miese Stimmung zu verbreiten. Und genau das Unausgesprochene drückte die Stimmung, ließ die Schweigezeit länger erscheinen als sonst.
Endlich trat Ottokar ans Schwarze Brett und läutete mit der Kuhglocke.
Er wird eine Schulversammlung einberufen! Viele warteten darauf und waren sichtlich erleichtert, als sie sich irrten. „Heute nachmittag ist großes Aufräumen“, verkündete der Schulkapitän.
Nach dem Liegen wurden die Gruppen eingeteilt: Hecken am Prinzengarten schneiden, Rasen mähen, Sportplatz walzen, Laub zusammenrechen und verbrennen, Türscharniere ölen, Fensterstöcke streichen, sowie Bootspflege unter der kundigen Leitung von Wasserwart Pummel.
Obwohl sich nicht alle Tätigkeiten ausgesprochener Beliebtheit erfreuten, drängten sich die Ritter, als handle es sich um einen Streich. Sorgen machen tatendurstig.
Die Arbeit hatte kaum begonnen, da kam Mauersäge mit den „Gästen“ aus dem Durchgang zum Sternenhof.
Merkwürdigerweise atmeten viele Ritter beim Anblick der verwünschten Typen auf. Sie waren tatsächlich nicht abgereist, Gott sei Dank, man konnte weiter versuchen, doch noch Punkte für Schreckenstein zu sammeln. Oder war es zu spät? Hatten sich die Eindrücke, verstärkt durch die Abwehrmaßnahmen der Ritter, schon zum Urteil verdichtet?
Dings und Bums schwärmten aus. Vollgefressen wie sie waren, wollten sie sich bewegen und mimten Interesse bei den Gruppen. Behäbig stolzierten sie herum, wie selbstzufriedene Hausbesitzer, die Handwerker loben, weil deren Arbeit ihrem Bedürfnis nach Repräsentation zugute kommt.
„Sehr schön macht ihr das! Weiter so! Das ist besser, als sich die Nächte um die Ohren zu schlagen!“
Dampfwalze biß die Zähne zusammen. „So was muß man sich gefallen lassen! Wie… wie Operntouristen.“
„Du meinst Opportunisten“, verbesserte ihn Strehlau. „Laß sie sabbern, die satten Säuglinge! Das ist mir lieber als Hinterlist.“
Doch sie sabberten nicht nur. Bums nahm Eugen die Sense aus den Händen, schliff sie ruck, zuck mit dem Wetzstein und legte
ein paar saubere Schnitte mit viel größerem Radius vor. „Weit herumziehen! So tust du dich leichter“, sagte er. „Weißt du, ich stamme von einem Bauernhof.“ Und er lächelte sogar.
„Mir kommen gleich die Tränen!“ flachste Klaus, der an der Hecke stand.
„Das… ks… das täuscht!“ Mauersäge hatte sich den „Buschfriseuren“ zugesellt. „Diese beiden Männer sind… ks… odiös!
Sie kennen nur… ks… ihr Mißtrauen. Von Berufs wegen. Ehrlich ist für sie ein Phan… ks… Phantom. Das…“
„Das hatten wir schon öfter“, unterbrach Ottokar. Er wollte nichts Negatives mehr hören.
„Ich helfe mit meinem… ks… Weinkeller nach, so gut… ks… ich kann“, fuhr Mauersäge fort. „Aber bei humorlosen… ks…“ Er schüttelte den Kopf und ging weiter.
Da kam der Rex. Mit einem zuversichtlichen Lächeln sagte er: „Ich muß hier ein bißchen Aufsicht mimen! Die denken sowieso schon, bei uns herrsche Anarchie. Er ging zu den Gruppen, wo Peter oder Paul gerade ihre Onkeltöne losließen.
Hans-Jürgen und Stephan luden die Parkbank beim Durchgang auf einen Wagen, um sie ins Winterquartier zu fahren. Plötzlich standen Dr. Waldmann und Sonja neben ihnen.
„Ihr Armen!“ sagte Sonja mit Anteilnahme.
Stephan wünschte sie zum erstenmal dorthin, wo der Pfeffer wächst. Klar wissen die Mädchen, was hier los ist! dachte er und wollte schon sagen: „Das kann euch auch blühn!“, als er Dings vom Sportschuppen herüberkommen sah, direkt auf sie zu. Dr. Waldmann machte ihn mit seiner Tochter bekannt.
„Erfreut“, sagte Dings. „Sehr erfreut!“ und nach ein paar dummen Sätzen, wie schönes Wetter, herrlicher Blick, gepflegte Anlagen, gingen sie zu dritt zum Bootssteg hinunter. Sonja sah sich noch einmal um. Sie wäre lieber dageblieben.
„Geh ihnen nach!“ drängte Hans-Jürgen. „Vielleicht kriegst du was raus“
Stephan schüttelte den Kopf. „Ganz schlecht! Das sieht ja aus, als hätten wir Angst. Dann kommen die Hühner erst recht.“
Anschließend im Duschraum wurden die Begebenheiten von allen Gruppen zusammengetragen, was Peter und Paul da und dort gesagt und was sie gefragt hatten. Nachdem das Mosaik vollständig war, erörterten die Ritter die Lage.
„Es gibt nur eins“, meinte Hans-Jürgen. „Wir müssen bei unserem Leisten bleiben. Wir sind, wie wir sind. Und das heißt für heute nacht Alarmstufe eins!“
Im Wasserdampf zeichnete sich eine Silhouette ab: der Rex. Die Ritter verstummten. Was war geschehen? In den Duschraum kam er sonst nie.
„Es gibt einen Lichtblick“, verkündete er zur allgemeinen Erleichterung. „Unser Herbstputz hat die Gäste beeindruckt. Macht nur bitte keine Streiche! Die Nachtruhe ist unsere verwundbare Stelle.“
Blicke gingen hin und her; der Rex verstand.
„Und wenn die Mädchen kommen?“ fragte Ottokar nach einer Ewigkeit.
„Sperrt halt alles zu“, sprach der Rex nach einer Denkpause, „dann ist das ihr Problem.“
„Ach so?“ Mücke räusperte sich. „Das war mal was anderes.“
„Einsame Spitzenspitzfindigkeit!“ jubelte Klaus.
„Fehlt nur noch ein Schild: STREICHSTREIK! meinte Andi. Die Idee, einen Streich einfach nicht anzunehmen, tat der Stimmung gut. Sie beschäftigte die Gemüter nachhaltig. Vor allem die Experten für Absperrungen. Ottokar, Dampfwalze, Andi, Pummel und Eugen zwackten von der Arbeitsstunde viel Zeit für Sicherheitsüberlegungen ab. Lernen konnten sie, wenn die Gefahr gebannt war. Für gleitende Arbeitszeit hatten die Lehrer Verständnis. Solang daraus keine entgleitende wurde. Ähnlich dachten Stephan, Hans-Jürgen und Mücke, die flankierende, strategische Maßnahmen lächerlichen Hausaufgaben vorzogen. Peter Dings und Paul Bums störten die Gedankenflüge nicht. Sie wußten, wie leicht Kontrollgänge ins Auge gehen können. Auch beim Abendessen glänzten sie durch Abwesenheit.
Stephan hatte sich ausnahmsweise während der Arbeitsstunde durch den Rittersaal in die andere Burghälfte hinübergeschlichen. Im oberen Flur begegnete ihm Harro, der Schäferhund. Doch der kannte Stephan und bellte nicht. Oder er betrachtete ihn als Türöffner.
Stephan klopfte und trat nach Harro ein. „Graf Schreckenstein, es war sehr gut, wenn Sie die beiden Typen heute abend volltanken könnten“, sagte er.
„...ks… Ehrensache!“ versprach Mauersäge und setzte als flankierende Maßnahme eine Weinprobe an. Jean mußte die Gäste sofort verständigen.
Ungestört konnten die Ritter die Burg nach dem Abendessen einbruchsicher machen und sich rechtzeitig zur Nachtruhe begeben. Gewiß, nicht jeder lag in seinem Bett, doch er lag. Pummel beispielsweise in seinem Schlafsack im Bootshaus, mit direktem Telefondraht zu Ottokars Bett. Die vorgesehene Liegezeit konnte er so mühelos einhalten.
Draht spielte überhaupt eine große Rolle beim Streichstreik. Werner, auch er ein begabter Techniker, schüttelte nur noch den Kopf. „Viel lieber würde ich die ganze Burg in einen Plastiksack einschweißen. Aber dann kriegen wir keine Luft mehr.“
„War schade um mich“, alberte der kleine Herbert.
Dampfwalze, der mit seiner großen Kraft wieder einmal Schwerarbeit geleistet hatte, sprang aus dem Stand mit beiden Füßen ins Bett und rief: „Mann! Daß keinen Streich machen so aufregend sein kann!“
Das Stimmungsbarometer zeigte eine schöne Nacht an. Pünktlich lagen die Ritter flach und hatten die Lichter gelöscht. An Schlaf war nicht zu denken. Über dem Nebelkissen auf dem See schimmerten die Lichter von Schloß Rosenfels herüber. Insgeheim wünschte sich jeder, was noch am Nachmittag Schrecken ausgelöst hätte, die Mädchen sollten doch bitte unbedingt kommen! Bei den phantastischen Sicherheitsmaßnahmen!
Unter dem Warten und Lauschen im beruhigenden Gefühl der Sicherheit schlich sich der Schlaf in die Burg. Aus den Muskeln wich die Spannung des Tages, und wenn einer an einem verdächtigen Geräusch halbwegs erwachte, war es das Schnarchen eines andern.
Für Stephan traf das nicht zu. Um dem in der Tat verdächtigen Geräusch an der Lehrergarage endlich auf die Spur zu kommen, lag er im Schlafsack auf einer Klappliege unter dem Gewölbe. Mit direktem Telefondraht zu Ottokar.
Obwohl das beruhigende Gefühl der Sicherheit hier nicht gegeben war, schlief auch er. Halbseitig wenigstens, nach eigener Methode: Liegst du auf dem Rücken, bist du da oder weg. Liegst du auf der Seite, sagen wir auf der linken, kann die linke Hälfte bei etwas Training — Ohr, Auge, Schulter, Arm, Bein und Mundwinkel – schlafen. Einschließlich linkem Nasenloch! Über Nasenscheidewand und Nabel verläuft die Grenze. Alles rechts davon bleibt wach.
Irgendwie mußte sich diese Trennung im Lauf der Nacht verwischt haben, oder er war auf den Rücken gerollt. Jedenfalls schlief auch die Hälfte, die hätte Wache halten sollen, denn irgendwann schraken beide zusammen durch einen gellenden Schrei.
Noch zu benommen, um festzustellen, woher er kam – es war stockfinster —, aber doch wach genug, um reflexhaft zu handeln, drückte er den Alarmknopf und flüsterte in den Hörer: „Jemand hat laut geschrien! Schnell! Außenlicht an!“
Nun war er wach, und während er sich eilig aus dem Schlafsack schälte, hörte er aufgeregtes Flüstern. Es schien vom Durchgang zum Sportplatz zu kommen. Sein Alarmruf war also richtig.
Die Techniker hatten drei der Tiefstrahler vom Burghof über die Fassade verteilt. Einen am Durchgang, einen vor dem Südflügel, der den halben Hang beleuchtete, und den dritten über der Zugbrücke.
Gleichzeitig flammten sie auf. Stephan hatte sich nicht geirrt. Im Durchgang sah er zwei Schatten an der Drahtsperre. Einen langen Dürren und einen kurzen Rundlichen.
Nein! Er stockte! Doch! Einwandfrei. Verdammter Mist!
Am Portal tauchten Taschenlampen auf. Ottokar kam mit Trupp eins die Freitreppe herunter; Dampfwalze würde mit Trupp zwei über den Sternenhof die Außenseite abriegeln.
Diesen Plan hatten die Strategen erarbeitet, um die Mädchen im Bedarfsfall in die Flucht zu schlagen, bevor die Schnüffler etwas merkten.
Stephan war zur Treppe gewetzt.
„Die Mädchen?“ fragte Ottokar. „Wo?“
„Die Weinprobe!“ antwortete Stephan. „Im Durchgang.“
Mückes Schrecksekunde war wieder mal die kürzeste. „Dann hin!“ flüsterte er, schon unterwegs.
Jetzt hörten sie die Stimmen. Gleich darauf leuchteten sie in den Durchgang.
„Das… das ist ja kriminell!“ tönte Bums aus vollen Backen wie ein Posaunenengel.
„Menschenfalle unter Starkstrom!“ kreischte Dings. „Nicht doch!“ dämpfte eine junge Stimme von draußen. Beni hatte im Sportschuppen auf der Lauer gelegen – mit direktem Telefondraht zu Ottokar. Völlig ruhig fuhr er fort. „Das ist ein ganz gewöhnliches Weidezaungerät. Vom Bauern ausgeliehen. Landwirtschaftlich erlaubt…“
„Das tut keinem Rindvieh was!“ fuhr ein anderer Ritter fort. „Das muß auch ein Lehrer aushalten.“
Sprachlose Lehrer mögen manchen Genugtuung bereiten. In diesem Fall verschlug Entsetzen allen die Sprache. Nur noch erregtes Atmen war zu hören. Hans-Jürgen mußte übergeschnappt sein.
Zum Beweis der Harmlosigkeit berührte Dampfwalze schließlich einen der kreuz und quer gespannten Drähte. „Bitte!“
Bei Dings rollte die zweite Entrüstungswelle an. „Schaltet das ab! Sofort!“
„Keine Angst.“ Ottokar löste die Verbindung zur Stromquelle, die im Kartoffelkeller versteckt war. Und dann schlugen die Kontrahenten mit Sätzen aufeinander ein.
Was das denn solle, hier die Nachtruhe mit Barrikaden zu stören?
Damit die Nachtruhe nicht gestört werde!
Wieso seien denn alle so schnell auf den Beinen?
Weil die Nachtruhe gestört worden sei.
Von Störung könne keine Rede sein. Man habe nur noch etwas Luft schnappen wollen.
Eine so weitläufige Anlage müsse nachts geschützt werden. Schon den Eltern zur Beruhigung. In letzter Zeit hätten sich verdächtige Geräusche gehäuft.
Das sei die dümmste aller faulen Ausreden. Der Vorfall werde ein Nachspiel haben!
Bitte sehr! Dann sollte man sich jetzt wieder zu Bett begeben. Genügend Schlaf sei wichtig.
Mücke war’s, der hier dreist das Argument der Schnüffler gegen sie verwendete.
Stumm aber grimmig bewegten sich die Kontrahenten im Schein der Taschenlampen zur Freitreppe.
Ottokar steckte die Leitung wieder zusammen. Man konnte ja nicht wissen…
Kurz vor der Treppe blieben die Schnüffler stehen. „Wo habt ihr denn diese ominösen Geräusche gehört?“ fragte Dings mit hämischem Unterton.
„Bei der Lehrergarage“, antwortete Stephan.
„Mehrmals!“ fügte Andi hinzu.
„Das interessiert mich jetzt!“ Dings marschierte quer über den Burghof. Die andern folgten.
Am Ende der Gruppe rammte Mücke seinen Ellbogen Hans-Jürgen in die Seite. „Du Riesenroß! Das ,Rindvieh’ verzeihen die uns nie! Wegen dir können wir jetzt die Koffer packen.“
„Du Riesenrindvieh!“ gab der Dichter zurück. „Erst große Klappe, dann kuschen. Hast du nicht gesagt: Wir sind, wie wir sind? Und so sind wir doch. Oder?“
Beim Gewölbe waren die Schnüffler stehengeblieben. „Dann wollen wir mal horchen, ob wir was hören?“ flüsterte Dings.
„Wenn er uns damit der Lüge überführen will, kann ich für nichts garantieren!“ raunte Stephan Ottokar ins Ohr.
Die Stille war hochelektrisch, die Ritter kochten bei kleiner Flamme, wie rasches Atmen verriet.
Klaus machte merkwürdige Kopfbewegungen. Er versuchte einen Juckreiz in der Nase zu unterdrücken. Doch der Reiz siegte. Ein gewaltiger Nieser schallte durch den Burghof.
Und da war gleich darauf das Geräusch. Dieses Kratzen über das Holztor der Lehrergarage. Alle hatten es gehört.
„Das war’s!“ flüsterte Dieter den Schnüfflern zu.
„Mann!“ hauchte Mücke erleichtert.
Dem Oberschnüffler paßte das gar nicht. „Eine Katze, ja und?“ höhnte Dings. „Haben die Ritter Angst vor Katzen?“
„Wenn das eine Katze war, bin ich ein Laubfrosch!“ knirschte Stephan.
„Na schön, dann ein Eichhörnchen!“ sagte Dings giftig-mild. Die Ritter gaben ihm keine Antwort mehr.
„Weder- noch“, verkündete Bums sehr ernst in die Pause. „Für mich war das ein Marder!“
Die Autorität des Bauernsohns, der solcher Unterscheidungen noch fähig ist, schloß Widerspruch aus.
Allein Hans-Jürgen hatte noch etwas, das raus mußte. „Hauptsache niemand kann mehr behaupten, daß wir lügen! In dem Punkt sind wir nämlich sehr empfindlich!“