11. Die Suche
Anfang September 2022
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»Und wie willst du es anstellen, deinen Vater zu finden?«, fragt Andrea ihre 22-jährige Tochter Alina.
»Du, Mutter, warst doch zumindest lange genug seine Geliebte, dass ich gezeugt wurde«, sagt Alina gereizt.
»Ich verstehe noch immer nicht, dass du es ihm nie gesagt und deinem offiziellen Ehemann verschwiegen hast, dass ich nicht sein Kind bin, sondern das Kind eines anderen!« Andrea will unterbrechen, doch Alina winkt ab.
»Ja … ich weiß schon! Du hast mir schon erklärt, wie das damals lief! Aber ich muss jetzt meinen wirklichen Vater kennenlernen[1], von dem ich meine seltsamen Fähigkeiten geerbt habe. Du weißt seinen Familiennamen und wo seine Eltern damals wohnten.«
Andrea nickt.
»Ja, natürlich. Er hieß Marcus Waller und seine Eltern lebten in Eisenerz. Alina, es tut mir alles so Leid. Es war damals eine seltsame Zeit. Auch ich würde Marcus gerne wiedersehen. Ich hätte mit dir früher reden sollen, aber du hast mir ja auch von deiner telekinetischen Begabung nie etwas gesagt.«
»OK, dann sind wir ja quitt«, lacht Alina, »wir sind beide aufeinander nicht mehr verschnupft. Aber jetzt fahre ich gleich nach Eisenerz.«
Alina kennt das Gesäuse und seine Umgebung von Bergtouren gut und so ist ihr auch Eisenerz vertraut. Es ist nicht schwierig, das kleine Haus der Familie Waller zu finden. Mit einem Vorwand und einer Flasche Wein als Mitbringsel sitzt sie bald an einem Tisch vis-a-vis eines 67-jährigen Mannes.
‚Das ist mein Großvater. Und er weiß es nicht. Ob er sich freuen wird, wenn er es erfährt?’, überlegt sie sich.
Laut sagt sie nach den üblichen Höflichkeitsfloskeln:
»Der wirkliche Grund, warum ich hier bin ist Marcus, Ihr Sohn. Ich weiß, dass er noch lebt und ich möchte unbedingt mit ihm sprechen.«
Der alte Waller runzelt die Stirn und meint abweisend:
»Mein Sohn wurde durch ein Missverständnis von der Polizei und der PPU, ich meine natürlich der ESP, gejagt, musste Österreich verlassen und verunglückte etwas später tödlich bei einem Flugzeugunfall. Das ist fast 20 Jahre her.« Er wischt sich über die Augen, als wollte er eine Träne wegwischen, aber seine Augen sind trocken.
»Ich weiß, das ist die offizielle Version. Aber ich bin überzeugt, dass er noch lebt. Wenn Sie mir nicht sagen können, wie ich ihn finde, hier ist ein Brief. Bitte leiten Sie ihn an Marcus Waller weiter, er wird sich dann sicher mit mir in Verbindung setzen.«
Sie schiebt einen Brief zum alten Waller. Der schiebt ihn schnell zurück wie eine heiße Kartoffel.
»Was soll der Unsinn, wie soll ich den Brief weiterleiten, wenn Marcus seit 18 Jahren tot ist.«
Alina seufzt. Sie ist es wohl zu schnell angegangen. Sie versucht, den Fehler zu korrigieren, entschuldigt sich und erkundigt sicht, was ESP heißt.
»Das war damals die Abkürzung für Europäische Sicherheits-Polizei.«
Obwohl Alina keine Ahnung hat, was PPU bedeutet riskiert sie:
»War die PPU auch so ein unangenehmer Verein wie die ESP?«
Der alte Waller wird ein bisschen lockerer und angeregter:
»Ja, das kann man schon sagen. Eigentlich war es ja die PPU, die hinter Marcus her war, die Para-Psychologische Unit oder so ähnlich hat sie geheißen, ich weiß noch immer nicht, was sie eigentlich von Marcus wollte. Aber sie hat uns, meiner Frau, mir und Marcus mit seiner Freundin und deren Eltern einen ziemlichen Schreck eingejagt, als sie uns mitten in der Nacht in der Almhütte überfielen. Aber Marcus und Maria entkamen und Adler konnte nie beweisen, dass sie mit uns in der Hütte gewesen waren.«
Alina notiert den Namen Adler mental.
Der alte Waller erzählt lange weiter, auch über Dinge, die gar nichts mit Marcus zu tun haben, so wie ältere Menschen oft ganz gerne vergangene Geschichten wieder und wieder erzählen. Alina hat das Gefühl, dass sie etwas Wichtiges so kaum hören wird. Der Gedanke an die Freundin von Marcus, Maria, lässt sie nicht los.
‚Ob ihre Mutter von Maria weiß? Ob sie vielleicht über Maria oder deren Eltern an Marcus heran kommen kann?’ Sie steuert vorsichtig zurück zu Marcus und seiner Freundin Maria. Aber da wird Waller plötzlich wieder sehr misstrauisch. Sein Redefluss hört auf.
‚Was will diese junge Frau nur? Sie ist ja eigentlich ganz nett, aber Marcus hat mich x-Mal schwören lassen, dass ich nie verrate dass er noch lebt’, denkt Waller, ‚und sie hört nicht auf zu schnüffeln.’
Alina steht auf und verabschiedet sich, auch von Frau Waller, die inzwischen zu ihnen gestoßen ist. Sie will es noch mit einer Schocktherapie versuchen.
»Interessiert es Sie denn gar nicht, warum ich unbedingt Marcus Waller finden will?«
Die beiden Waller starren sie interessiert, schweigend an.
»Ich bin seine Tochter oder eine seiner Töchter. Meine Mutter war eine Freundin von Marcus, bevor er Maria kennenlernte. Meine Mutter wurde durch ihn schwanger mit mir. Aber er weiß gar nicht, dass es mich gibt, obwohl ich das, was sein Leben verändert hat, von ihm geerbt habe.«
Sie rüttelt telekinetisch am Tisch, dass die Gläser klirren. Die beiden Wallers drehen sich erschrocken zum Tisch um.
»Was war denn das?«, sagt Waller offenbar ehrlich verblüfft.
Alina kann es kaum glauben. Marcus hat seinen Eltern offenbar nie von seiner Parabegabung erzählt! Damit ist ihr letzter Trumpf verschwunden. Fast schluchzend wendet sie sich zum Gehen.
»Ihr seid meine Großeltern, und ihr helft mir nicht, meinen Vater, euren Sohn, zu finden, von dem ich weiß, ich fühle es in mir, dass er noch lebt. Könnt ihr das eurer Enkelin wirklich antun, die euch nach so langer Zeit gefunden hat?«
Die beiden Wallers sind zu Salzsäulen erstarrt. Es vergehen Minuten. Die Wallers rühren sich nicht, während Alina schluchzend in der Tür steht.
»Ich hoffe ihr bereut nicht eines Tages, wie ihr eure Enkelin behandelt habt.«
Die Wallers sehen sie aus dem Haus und durch die enge Gasse zum Hautplatz gehen. Als wären sie erschöpft, lassen sie sich auf die Eckbank fallen.
»Wir brauchen jetzt ein Schnäpschen«, meint Waller. Während er es holt, lässt Frau Waller den Brief, den Alina auf dem Tisch liegen ließ, in ihrer Schürzentasche verschwinden. Sie diskutieren noch einige Zeit über Alina und was sie erzählt hat. Waller will es einfach nicht glauben.
»Die ist ja doch von einer Zeitung, oder gar eine Erbschleicherin«, meint er abschließend. Frau Waller verteidigt Alina.
»Also wie eine Betrügerin hat mir die Frau nicht ausgesehen. Und ein bisschen Ähnlichkeit mit Marcus, wie er so knapp 20 war, hat sie schon. Hast du bemerkt wie sie den Mittelfinger nervös ganz zurückgebogen hat, wie das Marcus noch immer manchmal tut? Und ihre Nase und ihr Mund …«.
»Also wo ihr Frauen immer Ähnlichkeiten sehen wollt,« fährt der alte Waller dazwischen und beendet damit das Thema, jetzt wirklich ganz endgültig.
Seine Frau hält den Brief in den nächsten Wochen immer wieder in der Hand. Soll sie ihn doch an Marcus weiterleiten? Bis sie sich durchringt es zu tun, denn was kann schon passieren, ist es Mitte September. Der Brief kommt so spät in Neuseeland an, dass er nichts mehr entscheidend ändern wird.
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Alina ruft ihre Mutter an und erzählt ihr vom ersten großen Misserfolg.
»Immerhin, ich habe ein paar Spuren entdeckt. Die wichtigste ist die der PPU mit einem gewissen Adler. Ich werde jetzt im Zeitschriftenarchiv der Arbeiterkammer in Wien recherchieren, was es über die damaligen mysteriösen Ereignisse zu lesen gibt.«
Das Stöbern in den Zeitungen über die Ereignisse im Jahre 2003 wird zum Erlebnis. Was da über die Verhaftung und Flucht von Marcus geschrieben steht ist abenteuerlich und widersprüchlich. Da wird lange sein Ausbruch aus Stein beschrieben und wie er dann bei einem Unfall ums Leben kommt. Aber dann ist er offensichtlich doch nicht tot, weil er später bei einem Flugunglück ums Leben kommt, usw.
Die wichtigsten Informationen, die sie findet sind der volle Namen von Adler, Georg Adler, dass sein Vorgesetzter EU Kommissär Frank Dirkman war und dass Marcus und Maria in Wien im Herbst 2003 eine Schule für Parapsycholgie gründeten. Die Finanzierung dafür scheint aus Amerika gekommen zu sein! Vielleicht sollte sie versuchen herausfinden, von wem. Ob der weiter helfen könnte? Das Finanzamt wird doch damals sicher den Geldfluss durchleuchtet haben?
Der Schlüssel scheint aber doch die PPU zu sein, oder die ESP in Brüssel und die beiden Männer, Adler oder Dirkmann.
Ihre Recherchen ergeben, dass Dirkmann erst vor etwas über zwei Jahren, im März 2020, überraschend von der EU Kommission zurückgetreten ist. Er war ein wenig akzeptiertes, aber mächtiges Mitglied. Alle ihre Erkundigungen über ihn verlaufen im Sand. Er ist offenbar unmittelbar nach seinem Rücktritt aus Brüssel verschwunden, niemand scheint zu wissen, wohin, bis er schließlich einige Monate später bei einem Autounfall in Mexiko ums Leben kommt.
Adler ist fast noch geheimnisvoller. Er scheint in den offiziellen Unterlagen nicht auf. Es gibt in den Adressverzeichnissen einige Adler in Brüssel, aber keinen Georg Adler. Genau so mysteriös ist es, dass die PPU nirgends erwähnt wird. Wenn sie wirklich existiert hat, muss sie ein geheimes Unternehmen gewesen sein, denn in den Budgetzahlen der EU Kommission, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, ist nirgends eine Spur der PPU sichtbar!
Alina berät sich mit ihrer Mutter. Diese meint:
»Ich denke, es bleibt dir nichts anderes übrig, als nach Brüssel zu fahren. Vielleicht findet du über die dortigen Detekteien etwas über Adler heraus. Das ist, glaube ich, nicht hoffnungslos. Adler und Dirkmann waren nach den Unterlagen irgendwie in die PPU involviert, an Marcus interessiert und haben ihn offenbar gejagt. Das war 2003. Siebzehn Jahre später, 2020, tritt Dirkmann plötzlich zurück ohne dass irgendwer den Grund zu kennen scheint und verschwindet. Warum? Es klingt fast so, als wäre Dirkmann gezwungen worden. Zurücktreten hätte genügt. Was bedeutet das Verschwinden?
Überlege dir: Da hat jemand in mächtiger Position in Brüssel mehr als 20 Jahre gelebt und dann taucht er unter. Es gibt nur zwei Erklärungen, entweder hatte er Angst oder er wollte im Geheimen etwas Neues aufziehen. Ist es nicht fast wahrscheinlich, dass das mit der PPU zu tun hat, die es nie offiziell gegeben hat, die also Dirkmann wohl illegal finanziert hat?
Wenn du Recht hast und Marcus entkommen ist, dann könnte es doch sein, dass sogar Marcus in den Rücktritt involviert war, als späte Rache oder? Jedenfalls sind 2020 irgendwelche Dinge aufgetaucht. Mit Fantasie könnte man sagen - wieder virulent geworden, und darüber müssten doch einige Personen in Brüssel Bescheid wissen, entweder in Detekteien oder in der Unterwelt. Ich würde sagen, fang bei den Detekteien an!«
Der Ehemann Andreas, Toni, mit dem sie Alina großgezogen hat, kam 2018 bei einem Autounfall ums Leben. Er hinterließ eine beachtliche Erbschaft, so dass Andrea finanziell unabhängig ist.
»Ich habe auf dein Konto eine größere Summe überwiesen, damit du dich frei bewegen und unbehindert agieren kannst. Du brauchst nicht sparsam zu sein. Deine Suche nach Marcus ist für uns beide wichtig. Verständige mich sofort, wenn ich irgendwie helfen kann. So sehr ich dich unterstütze, gib bitte auf dich Acht! Du mischt dich da vielleicht in Dinge ein, die nicht ungefährlich sind. Denke immer daran, wie man Marcus verfolgt hat!«
Alina kann sich zwischen den Detektivagenturen Brüssels kaum entscheiden, es gibt so viele davon! Sie ist auch unsicher. Ist ihre Geschichte glaubhaft genug? Sie gibt sich als Mitarbeiterin einer Wiener Anwaltskanzlei aus, die Adler wegen einer Erbschaft sucht. Sind ihre Visitkarte und die gefälschten Dokumente überzeugend?
Da sie sich Frauen gegenüber sicherer fühlt als bei irgendwelchen Machotypen, beginnt sie mit Detekteien, die von Frauen geführt werden. Nach mehreren frustrierenden Versuchen, die sie beinahe entmutigen, wendet sie sich, bereits recht verzweifelt, an die nächste Agentur auf ihrer Liste, die von einer Antonia Vermour geleitet wird.
Nachdem Alina ihre Geschichte vorgetragen und ihr eine größere Summe Geld in Aussicht stellt, wenn sie die Adresse von Georg Adler herausfindet, lacht diese.
»Also, eigentlich glaube ich ja nicht, dass Sie von einer Anwaltskanzlei kommen. Und Sie sollten nicht so rasch so großzügige Angebote machen. Aber Sie erschienen mir so niedergeschlagen, während ich Sie warten ließ und über eine Kamera beobachtete. Sie erinnern mich an meine Tochter. Ich werde Ihnen vielleicht helfen können! Ja, ich kenne Georg Adler. Ich habe sehr schlechte Erfahrungen mit der PPU gemacht, die er leitete und ich gönne ihm eigentlich keine Erbschaft. Aber, soviel ich weiß, ist er schwer krebskrank. Ich hoffe für Sie, dass er noch lebt, wenn Sie ihn wirklich brauchen - und ob Erbe oder nicht, er wird es nicht mehr nutzen können!«
Sie schreibt Adlers Adresse auf einen Notizzettel.
»Lassen Sie sich nicht von seiner Frau, einem Wächter oder einer Pflegerin abhalten. Die sind alle sehr misstrauisch, denn es gibt wohl einige dunkle Punkte in Adlers Leben. Seien Sie vorsichtig! Die Organisationen, mit denen Adler zu tun hatte, waren gefährlich. Wie weit es sie heute noch gibt, weiß ich nicht.«
»Sie meinen PPU und ESP?«, erkundigt sich Alina und lehnt sich vor.
»Ich wusste ja, dass es nicht um eine Erbschaft geht«, lacht Madame Vermour.
»Jetzt kontaktieren Sie einmal Adler. Sie haben hoffentlich etwas, mit dem Sie ihn bedrohen können, wenn er nicht reden will?« Alina nickt.
Die Detektivin ist zufrieden.
»Hier ist meine Karte. Wenn Sie weitere Hilfe brauchen, kommen Sie zu mir. Sie nennen mich Antonia, und ich Sie Alina, abgemacht? Vielleicht brauchen Sie mich noch für einen wirklichen Auftrag.«
Die beiden Frauen geben sich die Hände. Es kommt Alina vor, als hätte sie eine neue Freundin gefunden. Im Vorzimmer gehen sie an einem jungen Mann vorbei, den Antonia als ihren Mitarbeiter Maurice vorstellt.
Als Alina auf die Straße tritt und ein Taxi ruft, schaut ihr Antonia durch ein Fenster nach.
‚Du erinnerst mich an jemanden’, grübelt sie. Zu ihrem Assistenten Maurice sagt sie:
»Schnell, siehst du diese junge Frau? Schau nicht so, ich weiß, sie ist hübsch und gefällt dir. Dann wird es dir noch mehr Spaß machen, sie zu verfolgen. Berichte mir, wenn sie in ihrem Hotel zurück ist, was sie gemacht hat. Wenn sie Hilfe braucht, unterstütze sie.«
»Welche Art von Hilfe?«
»Sie wird in ein Haus gehen. Wenn sie dort nach 30 Minuten nicht herauskommt, dann solltest du nachsehen.«
Zu diesem Zeitpunkt unterschätzt Antonia noch, wie gut sich Alina selbst verteidigen kann.
Eine ältere Frau öffnet misstrauisch die Türe.
»Was wünschen Sie?«
»Ich muss mit Herrn Adler reden«, antwortet Alina mit Entschiedenheit.
»Hier wohnt kein Adler.«
»Doch, ich weiß dass er hier wohnt und sehr krank ist. Ich muss aber trotzdem mit ihm sprechen.«
»Werden Sie nicht«, sagt da eine andere Stimme und ein großer Mann tritt vor. »Wir wollen keine Besucher.«
Alina versucht weitere Argumente. Sie erreicht nichts.
»Wenn Sie mich nicht freiwillig durchlassen, muss ich Gewalt anwenden«, sagt sie schließlich, »ich warne Sie.«
Der Mann lächelt gelassen: »Wollen Sie mich erschießen? Wo ist Ihre Waffe? Hier ist meine«, sagt er und zieht eine der tödlichen und verbotenen Laserpistolen heraus.
Maurice beobachtet die Eskalation vor der Haustür. Er ist im Begriff auszusteigen, als er ungläubig verfolgt, was sich bei Alina abspielt. Die Laserwaffe fliegt, unerklärlich, in weitem Bogen in das kleine Wasserbecken vor dem Haus. Der Wächter schaut verblüfft, bricht im nächsten Moment unter einem Faustschlag der zierlichen Alina zusammen. Sie packt den leblosen Körper mit einer Hand, die Frau mit der anderen, zieht sie beide in den Eingangsbereich des Hauses und tritt ein. Die Tür fällt ins Schloss.
Alina fesselt die Frau und den Wächter, ein solcher muss es ja wohl sein. Sie findet problemlos das Zimmer mit einem todkranken Mann und einer Pflegerin neben seinem Bett.
»Verlassen Sie das Zimmer. Ich muss mit Georg Adler allein sprechen«, herrscht sie die Frau an, die unter leichten Protesten verschwindet.
»Wir haben keine Zeit, Herr Adler, bitte keine Spielchen. Ich bin Alina, die uneheliche Tochter von Marcus. Sie müssen mir sagen, wie ich Marcus finden kann. Ich will sonst nichts. Sobald ich es weiß, sind Sie mich wieder los.«
Als ‚Beweis’, dass sie mit Marcus verwandt ist, lässt sie ein Glas Mineralwasser durch die Luft segeln und schüttet mitleidlos einen Teil auf Adlers Kopf.
Adler starrt sie ungläubig an.
»Eine telekinetische Tochter von Marcus! Es geht also weiter!« Er lächelt gequält und fährt mit leiser Stimme fort.
»Ich weiß nicht, wo sich Marcus jetzt befindet, aber er war vor zwei Jahren in Brüssel und hat mich und Dirkmann zum Rücktritt gezwungen. Dirkmann hat ihm Rache geschworen. Dirkmann ist gefährlich! Durch den mächtigsten Parahypnotiseur, den die Welt je gekannt hat, Tata Musharaf[2], hat Dirkmann Parahypnose gelernt. Mit Geräten und den wichtigsten Unterlagen der illegalen PPU ist er nach Paris geflüchtet und hat sich dort in der Rue Lec Blanc 37 ein neues Labor eingerichtet. Begabten Mitarbeitern ist es rasch geglückt, einen Verstärker für Dirkmanns Parahypnosefähigkeit zu entwickeln. Den trägt er jetzt wohl immer bei sich und er ist damit, fürchte ich, ein vollwertiger Parahypnotiker geworden. Wie es der Gruppe gelungen ist, den Verstärker zu bauen, ist mir ein Rätsel. Es soll mit Hilfe eines alten Artefaktes, eines so genannten Mindcallers, geschehen sein. Was sonst noch in dem Labor entwickelt wurde oder wird, weiß ich nicht.
Weil ich nachgeforscht habe, hat Dirkmann zwei Mal versucht, mich umbringen zu lassen. Das ist auch der Grund für den Wächter. Jetzt ist mir das alles aber gleichgültig, ich habe mich lange gegen meinen Krebs gewehrt, aber ich habe nur noch Tage zu leben. Darum könne Sie gerne wissen, was mir bekannt ist. Ob Sie wollen oder nicht, Sie sind damit auch ein Todeskandidat. Dirkmann war mein Chef, Marcus mein Gegner. Aber Marcus war stets fairer als Dirkmann. Es wäre gut, Dirkmann das Handwerk zu legen. Er hat Böses vor, das ist sicher.«
Erschöpft fällt Adler in die Kissen zurück. Alina lässt nicht locker.
»Wie finde ich Marcus?«
»Ich weiß es nicht. Aber wenn Sie Dirkmann finden, dann haben Sie auch Marcus gefunden. Ich bin sicher, dass Dirkmann Marcus so lange jagt, bis einer von ihnen tot ist.«
»Ist Dirkmann noch in Paris?«
»Nein, schon lange nicht mehr oder wenn, dann nur zwischendurch, sonst wüsste ich es. Sobald der erwähnte Verstärker fertig war, es muss im Mai 2020 gewesen sein, hat er sich nach Mexiko abgesetzt. Dort ist er angeblich später bei einem Unfall ums Leben gekommen. Das glaube ich nicht. Er hat sich sicher nur eine neue Identität verschafft und einen Unfall arrangiert. Ich habe einmal einen Prospekt der Machas Klinik in Mexiko City bei ihm gesehen, als er noch in Brüssel war. Es steht sicher dafür dort …«. Die Stimme Adlers stockt, er fällt röchelnd wieder zurück, aber seine Lippen bewegen sich noch. Alina beugt sich über ihn und kann ihn kaum hören.
»Ich sterbe ….aber das ist gut so. Ich habe viel Unrechtes getan. Stoppen Sie Dirkmann, warnen Sie Marcus und lassen Sie ihn von mir grüßen.« Adler schweigt.
»Schwester, schnell«, ruft Alina nach der Pflegerin. Diese stürzt ins Zimmer, sieht Adler mit geschlossenen Augen still im Bett liegen. Sie tastet nach seinem Puls.
»Er ist tot.« Alina ist erschüttert. Vielleicht hat Adler viel Böses getan, aber er scheint in den letzten Jahren versucht zu haben, es besser zu machen. Sie empfindet Mitleid und Trauer.
»Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen. Er lag im Sterben. Ich bin vor der Tür gesessen und habe gehört, wie intensiv er mit Ihnen geredet hat, so intensiv, wie schon lange nicht mehr. Es war sein letztes Aufbäumen, vielleicht eine Beichte?« Sie blickt Alina fragend an.
Diese nickt und denkt: ‚Ja, so kann man es schon sehen. Er hat mir die Last aufgebürdet, Dirkmann zu finden und auszuschalten’. Sie wird es versuchen, nicht wegen der Gefahr, die Dirkmann darstellt, sondern weil sie durch ihn zu ihrem richtigen Vater kommen will.
»Binden sie die beiden im Vorraum los, die ich gefesselt habe«, sagt Alina. Schnell verlässt sie das Haus. Der junge Mann, den sie bei Antonia gesehen hat, steigt aus einem Auto, das vor der Tür des Hauses steht.
Er sagt: »Steigen Sie ein. Sie wollen sicher mit meiner Chefin reden.«
Verblüfft blickt Alina ihn an: »Wie wollen Sie das wissen?«
Maurice hat ein gewinnendes Lächeln: »Sie schauen ganz anders aus als vorher, als Sie ins Büro kamen«, ist seine Antwort.
Das findet Antonia auch. Aus einem verunsicherten hübschen Mädchen ist wie durch ein Wunder eine selbstbewusste junge Frau geworden, die genau weiß, was sie will.
»Adler ist tot. Aber er konnte mir noch Wichtiges erzählen. Ich hätte daher jetzt tatsächlich einige Aufträge zu erledigen. Sind Sie interessiert?«
»Ja. Hören Sie sich zuerst unsere Konditionen an. Wenn Sie uns dann noch wollen, wir sind nicht billig, machen wir so ziemlich alles, was Sie wünschen.«
Auf die Konditionen einigt man sich rasch. Alina weiht Antonia soweit ein, wie notwendig.
»Ich möchte, dass Sie herausfinden, was in dem Labor in Paris entwickelt wird, es wird irgendetwas mit Hypnoseverstärkern zu tun haben. Wenn Sie Neues über Dirkmann erfahren, verständigen Sie mich sofort. Aber Achtung: auf Adler sind zwei Mordversuche verübt worden, weil er sich für das Labor in Paris interessierte. Nun gehören wir dann wohl zu den gefährdeten Personen! Dann habe ich noch eine ganz andere Angelegenheit. Können Sie feststellen, ob und wann Dirkmann im Mai 2020 von Paris aus nach Mexiko City flog? Und wenn Ihnen das gelingt, vielleicht können Sie herausfinden, was er in Mexiko City gemacht hat?«
»Wir erledigen beides. Ich schicke Maurice nach Paris. Ich selber kümmere mich um die Angelegenheit Dirkmann. Was werden Sie jetzt machen, Alina?«
»Ich nehme den nächsten Flug nach Mexiko City und werde mich dort um die Machas Klinik kümmern. Wenn Sie, bevor ich dort persönlich vorspreche, vielleicht schon konkrete Daten über Dirkmann hätten, könnte das sicher helfen.«
»Ich kontaktiere Sie, sobald ich was Neues weiß. Geben Sie auf sich Acht!«, verabschiedet sich Antonia von Alina. Nachdenklich bleibt Antonia zurück. Ihr ist bewusst, dass sie sich in ein gefährliches Unternehmen einlässt, aber sie tut es im Gedenken an ihren früheren Mann, der durch seine Tätigkeit für die ESP ums Leben kam.
Alina verständigt ihre Mutter von den neuen Entwicklungen und wo sie in Mexiko City wohnen wird.
»Mutter, halt mir die Daumen, dass ich eine Spur von Dirkmann finde.«
89
Maurice fährt in Paris zur Adresse, wo sich das Labor Dirkmanns befinden soll. Er will sich unauffällig in der Nachbarschaft umhören. Die Adresse des Labors existiert, aber das Gebäude, das durchaus den Charakter einer Werkstatt oder eines Labors hat, steht leer. Einige Fenster sind mit Brettern vernagelt, daneben ist die Wand schwarz und beschädigt.
Auf der anderen Straßenseite ist ein Stück weiter ein Bistro. Er setzt sich hinein, bestellt einen Espresso und ein Croissant und dann noch einen Espresso. Dazwischen schaut er immer wieder auf seine Uhr. Schließlich wird die Kellnerin neugierig.
»Sie warten auf jemanden, Monsieur?«
»Ja, mein Freund Paul-Jaques sollte schon lange hier sein, kennen Sie ihn?« Die Kellnerin stützt sich auf die Lehne des Sessels auf der anderen Seite des Tischchens und denkt nach. Maurice winkt ihr, Platz zu nehmen - er darf sie doch auf etwas einladen? Das Bistro ist leer, sodass für Monique die Abwechslung willkommen ist - und Maurice nicht unsympathisch.
Sie kennt nur einen Paul-Jaques, aber sie einigen sich nach gegenseitigen Beschreibungen darauf, dass das nicht der ist, auf den Maurice wartet. Maurice erkundigt sich schließlich beiläufig, was in dem Gebäude war, bei dem jetzt einige Fenster mit Brettern vernagelt sind.
Ja, das sieht wirklich hässlich aus, stimmt Monique zu. Und der Unfall war ja grässlich! Eine solche Explosion! Die netten Mitarbeiter, die mittags oft bei ihr gesessen sind, alle waren sie tot. Nur Jim hatte Glück, weil er grade an dem Tag frei hatte.
»Sie meinen Jim Lebeques?«, erfindet Maurice einen Namen.
»Nein, ich meine Jim Mortimer, den Amerikaner, der immer damit prahlte, dass er direkt neben der Kirche Momatre wohnte«, lacht Monique.
»Er war aber jetzt auch schon lange nicht mehr hier.« Maurice flirtet noch einige Zeit, bis weitere Kunden Monique beschäftigen und er sich mit einem »bis bald wieder!« zurückziehen kann.
Im Namensverzeichnis gibt es nur einen Jim Mortimer, dessen Adresse ungefähr der Beschreibung entspricht. Einer Eingebung folgend geht Maurice nicht direkt zu Jims Wohnung sondern erkundigt sich in einer Konditorei in der Nähe, wo hier ein Jim Mortimer wohnt.
»Jim Mortimer! Ja, der hat hier gewohnt, aber er ist schon lange weg. Die Wohnung ist aber noch immer an ihn vermietet und die Miete wird regelmäßig bezahlt, hat uns die Vermieterin gesagt. Wird also wohl irgendwann zurück kommen.«
Das ist eine einmalige Chance für Maurice. Er geht zum Wohnhaus und läutet den Concierge heraus.
»Es tut mir furchtbar leid zu stören. Jim Mortimer hat mich gebeten, ich soll ein paar Sachen aus seiner Wohnung mitnehmen, wenn ich morgen in die USA fliege.« Er drückt dem Concierge mehrere große Banknoten in die Hand und betritt das Haus, als wäre es selbstverständlich, dass er nun in die Wohnung von Jim eingelassen wird. Die Sicherheit, mit der Maurice auftritt, wirkt. Der Concierge sperrt die Wohnung auf und bleibt an der offenen Tür stehen. Maurice macht zuerst einen kurzen Blick durch die ganze Wohnung.
Er nickt: »Alles soweit in Ordnung, aber wir müssen einmal anständig Staub wischen lassen.«
»Können Sie das veranlassen?«, fragt er den Concierge der noch eine Banknote bekommt. Nun geht Maurice direkt zum Bücherschrank, studiert die Titel der Bücher und erblickt dabei in einer oberen Ecke einen kleinen Schlüssel, der genauso aussieht, als könnte er die Schreibtischlade sperren. Er klemmt zwei Bücher unter den Arm, dann nimmt er, ohne zu zögern den Schlüssel und geht damit zum Schreibtisch. Der Concierge ist überrascht. ‚Vermutlich hat er schon selbst versucht, die Schreibtischlade zu öffnen, aber sie war versperrt’, überlegt sich Maurice. Nun braucht er Glück, dass er sich nicht verspekuliert hat!
Der Schlüssel sperrt die Lade problemlos. Als er die Lade öffnet, erschrickt Maurice, kann aber ein Lächeln kaum unterdrücken.
‚Das wird ja ein richtiges Puzzle’, denkt er. In der Lade liegt nur eine flache Karte mit der Aufschrift »Safeguard«. Hier kommt Maurice seine Erfahrung zu Hilfe. Das ist eine elektronische Karte, die einen Flachsafe, der irgendwo in der Wohnung sein muss, aufsperrt. Es gibt wenige Leute, die ihren Flachsafe nicht hinter einem Bild verbergen. Maurice hofft, dass der begabte Forscher Jim in diesem Punkt auch nicht mehr Fantasie hat. Und er hat auf seinem Rundgang nur zwei Bilder gesehen.
Er nimmt die Karte, dreht sich vom Schreibtisch weg. An beiden Seiten des Zimmers hängt ein großes Bild.
»Welches ist es?«, fragt er den Concierge, der ihn verständnislos anschaut.
»Jim hat gesagt das linke Bild, aber hat er gemeint, wenn man bei der Tür oder beim Schreibtisch steht. Wahrscheinlich meinte er links von der Tür aus.«
Mit etwas Herzklopfen nimmt er das entsprechende Bild ab und kann sein Glück kaum fassen. Hier ist wirklich ein Flachsafe, den die elektronische Karte problemlos öffnet. Drinnen ist ein in Kunststoff gebundenes Bündel von Dokumenten. Er nimmt es heraus, schaut die äußere Beschriftung an, nickt und steckt es zwischen die beiden Bücher. Er schließt jetzt methodisch den Safe, hängt das Bild wieder auf, wobei er den Concierge um Hilfe bittet, legt die Karte wieder in die Lade, die er verschließt und den Schlüssel wieder dort hinlegt, wo er hingehört.
Mit einem »Danke für Ihre Hilfe und Ihre Zeit« schüttelt er dem verblüfften Concierge die Hand und eilt aus dem Haus. Er ist mit sich zufrieden. Etwas zu zufrieden, denn als er in die Nähe des Hotels kommt sieht er den Mann mit der Maschinepistole fast zu spät. Er wirft sich hinter ein parkendes Auto. Die Schüsse haben Aufsehen erregt, der Angreifer kann genau so leicht untertauchen wie Maurice, der sich keiner Befragung stellen will.
Trotz des Unfalls im Labor - oder war es bewusster Mord an Mitwissern? - scheint Dirkmann auf Schnüffler allergisch zu reagieren. Vermutlich der beste Beweis, dass er nicht bei einem Unfall in Mexiko ums Leben kam.
Maurice studiert oberflächlich, was er gefunden hat - Informationen für den Bau hypnoseverstärkender Drohnen. Ja, das ist es wohl, was die Klientin haben wollte! Er benachrichtigt Antonia.
»Das hast du gut gemacht, Maurice. Lass die eine Nacht im Hotel einfach verfallen und fliege gleich nach Brüssel zurück.«
Die sofortige Rückreise erweist sich als gute Entscheidung. Als nämlich nach Mitternacht zwei Schwerbewaffnete sein Hotelzimmer aufbrechen, finden sie es leer vor. Als Maurice davon erfährt ist er beunruhigt. Dies war der zweite Mordversuch innerhalb kürzester Zeit.
90
Antonia arbeitet sehr effizient. Kurz nachdem Alina im ‚Pyramid Sheraton’ eingecheckt hat und sich nach dem Flug ausruht, meldet sie sich.
»Ich habe die meisten Informationen, die Sie haben wollten, Alina. Dirkmann ist am 26. Mai 2020 von Paris nach Mexiko City geflogen und ist, wie Sie, im ‚Pyramid Sheraton’ abgestiegen. Er ist am 28. Mai mit seinem Mietwagen in die Machas Klinik übersiedelt, eine Klinik, die sich auf Schönheitsoperationen aber auch neue Identitäten spezialisiert hat. Er ist von dort sicher nicht mit seinem Mietwagen weggefahren. Dieser wurde nämlich etwa zehn Tage später von jemand anderem zurückgebracht. Bezahlt wurden sowohl die Behandlung, über die wir nicht die geringsten Details erfahren konnten, als auch das Mietauto mit der Kreditkarte von Dirkman. Der Primar der Klinik ist ein Dr. Carlos Matoso. Er hat übrigens einen sehr guten Ruf. Nach unseren Auskünften ist es unwahrscheinlich, dass er etwas Gesetzwidriges machen würde. Wir haben für Sie für morgen, 10.00 Uhr Vormittag, einen Termin vereinbart. Ich hoffe das passt?«
Alina ist über diese Effizienz sprachlos. Antonio berichtet noch kurz über das aufgelassene Labor in Paris und dass sie interessante Dokumente gefunden haben, die darauf hinweisen, dass Dirkmanns Labor an parahypnoseverstärkenden Drohen arbeitete.
Dr. Matoso empfängt Alina freundlich.
»Ich stehe Ihnen ganz zur Verfügung. Die belgische Boschaft hat mich informiert, dass sie in wichtiger Mission unterwegs sind, und dass wir Ihnen unsere Daten zur Verfügung stellen sollen. Unser Innenminister hat sich noch einmal in Brüssel rückversichert und mir grünes Licht für vollständige Kooperation gegeben. Es scheint um ein wichtiges internationales Anliegen zu gehen, das offenbar mit dem Anschlag auf den Airbus 920-S in Orlando zu tun hat. Was kann ich für Sie tun?«
Alina schwindelt. Was hat denn da Antonia für sie erfunden? Wie war es ihr möglich, die belgische Botschaft einzuschalten und was hatte das mit dem Airbus Zwischenfall zu tun - ach so, da war etwas von Drohnen in den Zeitungen gestanden.
Alina nickt.
»Ich bedanke mich schon jetzt für ihre Kooperation. Frank Dirkmann, früheres Mitglied der EU Kommission, hat sich bei Ihnen ab 28. Mai 2020 behandeln lassen. Wir müssen ihn aufspüren. Sie haben ja sicher Namen, Bild und Staatsbürgerschaft von jedem Ihrer Patienten vor und nach der Behandlung.
»Selbstverständlich. Die Unterlagen sind gegen jeden unautorisierten Zugriff gesichert, aber wir werden die Daten für Sie ausheben lassen. Ich habe mein Sicherheitsteam in Bereitschaft gesetzt, um rasch agieren zu können.«
Da meldet sich der e-Helper Matosos. Dieser runzelt die Stirne.
»Bitte sofort in der Registratur und in der back-up Abteilung prüfen.«
Er blickt sorgenvoll und schweigsam geworden vor sich hin. Wieder meldet sich der e-Helper.
»Es besteht kein Zweifel?«, erkundigt sich Mataoso. Ein Wortschwall, den Alina nicht hören kann ist die Antwort.
Matoso blickt auf.
»Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen. Dirkmann war nie bei uns in Behandlung.«
Für Alina stürzt eine Welt ein.
91
Matoso und Alina starren sich gegenseitig an.
»Das kann nicht stimmen, Dr. Matoso. Schauen Sie sich diese Unterlagen an.« Alina ist froh, dass sie alles, was ihr Antonia über Nacht schickte, bei sich hat.
Sie zeigt ein Überwachungsbild von Dirkmann mit Datum 28.5.2020 beim Autoverleih, beim Einsteigen in den Mietwagen, beim Aussteigen auf dem Parkplatz der Klinik mit Zeitstempel 11.23 Uhr, 28. Mai 2020 mit dem Vermerk ‚Regierungsunterlage- höchste Vertraulichkeitsstufe’, sie zeigt Dirkmann mit selbem Vermerk, wie er um 11.26 Uhr die Klinik betritt.
»Ich wusste gar nicht, dass uns die Regierung überwacht«, murmelt Matoso etwas verärgert, »aber das ist unsere Chance. Wir haben Überwachungskameras beim Empfang. Diese müssten doch zeigen, ob er wirklich als Kunde kam und von uns aufgenommen wurde. Wir heben alle Aufzeichnungen 10 Jahre lang auf.«
Er verständigt den Sicherheitsdienst.
»Ich brauche das Überwachungsvideo des Empfangs vom 28. Mai 2020 ab 11.20 Uhr, bitte möglichst rasch einspielen und Kontrolle an mich.«
Sie müssen nicht lange warten. Als das Video beginnt, sehen sie von hinten die beiden Empfangsdamen mit Tastatur- bzw. Spracheingabe und ihre großen Bildschirme und dahinter den noch leeren Eingangsbereich. Die Zeit läuft rechts unten mit. Um 11.26 Uhr betritt Dirkmann den Eingangsbereich, wendet sich an eine der Damen, die höflich die Daten aufnimmt und dann einen Ausdruck der Bildschirmmaske Dirkmann übergibt. Hier hält Matoso das Video an, zoomt auf den Bildschirm der Empfangsdame und läst den Ausschnitt ausdrucken. Vor ihnen liegen die gesamten Daten von Frank Dirkman mit Zimmerzuweisung, Termin für erste Untersuchung, usw., inklusive eines Gesprächstermins mit Dr. Matoso.
Matoso schüttelt immer wieder den Kopf. Er recherchiert in allen Richtungen, in den verschiedensten Datenbanken und schaut dann verzweifelt auf.
»Nichts von diesen Daten ist in einem der Computer, in keiner der Datenbanken, in keinem Backup-Archiv. Sie haben mich aber natürlich überzeugt, dass Dirkmann bei uns behandelt wurde, auch der Code ‚I-Ch’ für Identitätsänderung ist ja auf dem Bildschirmausdruck sichtbar. Aber nichts davon ist gespeichert.
Ich verstehe jetzt, warum sie sich für Dirkmann und sein neues Ich die Regierungsstellen interessieren. Wenn er bei unseren Sicherheitsmaßnahmen die Daten so manipulieren kann, dann ist er fürwahr eine Bedrohung. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie er das gemacht hat.«
»Dr. Matoso, wenn jemand zu Ihnen mit dem Wunsch einer Identitätsänderung kommt, sprechen Sie dann auch persönlich mit ihm? Sind solche Wüsche häufig?«
» Ha, natürlich spreche ich mit den Patienten und Nein, wir sind auf Schönheitschirurgie spezialisiert, Identitätsänderungen sind selten, vielleicht 10 bis 15 pro Jahr.«
»Und können Sie sich an die der letzten beiden Jahre erinnern?«
»Sicher … ach so, ich sehe, worauf Sie hinauswollen. Ich müsste mich an Dirkmann erinnern können, aber ich kann es nicht und habe sein Gesicht heute auf den Fotos bzw. auf dem Video das erste Mal gesehen. Was hat das zu bedeuten?«
»Dirkmann war Parahypnotiseur. Er hat offensichtlich einige Personen so in seine Gewalt gebracht, dass sie geschickt alle Daten über ihn löschten. Und er hat sogar Ihnen den Parabefehl gegeben, ihn ganz zu vergessen.«
Matoso stöhnt auf.
»Das ist ja furchtbar. Wir werden aufgrund weiterer Videodaten sicher einiges in Erfahrung bringen können, nur wird er wohl dafür gesorgt haben, dass kritische Videos auch gelöscht wurden?«
»Das befürchte ich,« bestätigt Alina, »aber noch eine Frage, machen Sie nicht vielleicht bei interessanten Fällen auch persönliche Aufzeichnungen?«
Matosos Gesicht erhellt sich.
»Manchmal druckt mein Sekretariat den einen oder anderen besonders interessant erscheinenden Fall aus. Den nehme ich dann mit nach Hause in mein Privatarchiv.«
Alina springt auf. Antonia hat ihr von den beiden Mordanschlägen auf Maurice erzählt, der einen vergleichsweise harmlosen Überwachungsauftrag hatte. »Alarmieren Sie sofort die Polizei, dass sie Ihr Haus und diese Klinik sichert. Ich werde vielleicht von Söldnern des neuen Dirkmann überwacht. Wenn diese Angst bekommen, dass man etwas über ihn herausbekommt, dann könnten Sie hier und zu Hause rücksichtslos angegriffen werden. Wir fahren jetzt sofort zu Ihrem Privatarchiv, ich hoffe noch rechtzeitig. Aber, egal was herauskommt. Sie verkünden nachher überzeugend, dass alles ein Fehlalarm war, denn sonst sind Sie und Ihre Klinik nie mehr sicher, bis wir den ‚neuen Dirkmann’ gefunden haben.
Matoso handelt schnell. Sie erreichen unbehelligt sein Haus. Während Matoso in seinem Privatarchiv nach eventuell vorhandenen Unterlagen sucht, entwickelt sich draußen ein Kampf der Polizei mit schwer bewaffneten Gangstern. Freilich haben diese weder hier noch bei der Klinik mit massivem Widerstand gerechnet und werden überwältigt.
Matoso schwenkt triumphierend Unterlagen.
»Ich habe sie!« Gemeinsam gehen sie die Aufzeichnungen durch. Frank Dirkmann ließ sich in einen europäisch-chinesisch aussehenden Francis Tschau verwandeln, neue Staatsbürgerschaft und Wohnadresse Singapur. Ein gutes Bild von Tschau ist dabei. Aber die Zeile, die Alina am meisten fasziniert, ist eine der letzten. Unter »Im Falle des Todes zu verständigen« steht: ‚Marcus Simmer, früher Marcus Waller aus Österreich, nun neuseeländischer Staatsbürger, Geschäftsführer der SR-Inc. in Auckland, privat: Anwesen Marcus, Great Barrier Island, Neuseeland.’ Sogar seine e-Helper Koordinaten sind angegeben!
Alina wundert sich über diese Art von Galgenhumor, aber nun weiß sie, wer und wo ihr Vater ist. Ihre Mutter und sie werden nach Great Barrier Island fliegen und mit Marcus Kontakt aufnehmen.
Sie bedankt sich bei Matoso und entschuldigt sich für das angerichtete Chaos. Er winkt ab.
»Ist ja nicht Ihre Schuld. Aber ich werde froh sein, wenn dieser Francis Tschau ausgeschalten ist und dazu konnte ich beitragen.«
Alina bucht den Flug zurück nach Brüssel, um sich dort mit Antonia zu treffen. Auch ihre Mutter fliegt dort hin. Sie werden anschließend gemeinsam nach Neuseeland reisen. Während sie in Mexiko City am Flughafen sitzt, schickt sie eine anonyme Meldung an Marcus.
»Herr Simmer, hier eine wichtige Information. Francis Tschau ist niemand anderer als der EU Kommissar Frank Dirkmann, der sich einer Gesichtsoperation unterzogen hat.«
Als Marcus die Mitteilung erhält, kann er sie kaum glauben. Andere sind weniger überrascht.
»Mir war das Verschwinden von Dirkmann nie ganz geheuer und er hat das ganze Know-How der PPU mitgenommen, war also immer ein bisschen verdächtig«, meint etwa Klaus. Einig sind sich alle in einem Punkt. Es ist schön, Freunde zu haben, die man gar nicht kennt, auch wenn sie in Mexiko leben. Eine genauere Peilung war nicht möglich gewesen.
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In Brüssel trifft sich Alina mit Maurice und Antonia in deren Büro.
»Kann es sein dass Tschau nervös geworden ist, weil er so radikal sowohl hier wie auch in Mexiko durch seine Hilfskräfte vorgehen lässt? Die Unterlagen, die Maurice aus Paris mitgebracht hat, werden doch kaum so überwältigende Neuigkeiten enthalten, dass man dafür töten muss? Und dass Dirkmann identisch mit Tschau ist, kann ihm doch letztendlich gleichgültig sein, oder?«, rätseln alle.
In diesem Moment stoßen zwei Männer die Tür auf. Sie sind beide mit Laserpistolen bewaffnet.
»Diesmal kommt ihr uns nicht aus«, ruft der eine. Er zielt auf Alina. Doch plötzlich dreht er sich um, erschießt den Komplizen und begeht durch Kopfschuss Selbstmord! So rätselhaft der Grund für den Überfall ist, so ist das Ende für alle außer Alina noch rätselhafter. Die Polizei kann es kaum glauben.
Alina verabschiedet sich mit einem großen Danke von Maurice und Antonia.
»Was ihr beide geleistet habt, ist unglaublich. Und wie du das mit der belgischen Botschaft eingefädelt hast, verstehe ich noch immer nicht.«
Antonia lacht: »Wir verstehen auch nicht, wie du manches gemacht hast«.
Andrea hat für sich und Alina zwei Zimmer im Green Bay Hotel in Tryphena auf Great Barrier Island gebucht. Der Flug von Europa aus ist lang, und sie brauchen eine ausgedehnte Nacht, bis sie sich wieder einigermaßen fit fühlen. Obwohl sie wussten, dass sie in den Winter fliegen, sind sie doch vom Wetter unangenehm überrascht. Es regnet täglich und der Wind hört kaum auf. Dafür sind die Menschen umso netter. Dass um diese Zeit einige hier sogar längere Zeit Urlaub machen, überrascht sie. Da ist Sam Oster, der nachdenkliche aber nette Australier, Victor, der seine Versuche, sie zu Zeugen Jehovas zu bekehren bald aufgibt und Bill Macy.
Andrea und Alina erkunden die Umgebung. Wenn Andrea einen Spaziergang macht, schließt sich ihr manchmal Bill an. Er scheint sich überall gut auszukennen und kann auf viele Fragen, die Andrea zu Marcus und seiner Gruppe hat, interessant antworten. Ansonsten ist er meist in seinem Zimmer und arbeitet an seinem Computer. Manchmal scheint es Andrea, dass er auf etwas wartet, sie weiß nur nicht worauf. Alina freundet sich mit Victor an. Trotz seiner verrückten Religiosität ist er sehr nett. Er fliegt auf der ganzen Insel herum, hat sich dafür einen großen Moller gemietet und Alina fliegt oft mit. Während er einen entlegenen Farmer zu bekehren versucht, macht Alina kleine Spaziergänge in die Umgebung. Sie gewöhnt sich allmählich an das Wetter und beginnt die wilde Herbheit der Insel zu schätzen. Einmal nimmt Victor sie, Andrea, Bill und Sam mit zu heißen Quellen im Zentrum der Insel. Es ist ein großer Spaß, in den natürlichen Becken zu baden während es regnet. Immer wenn es am Kopf zu kalt wird, taucht man einfach kurz unter.
Dann kommt der 17. September, den Alina nie vergessen wird. Als sie die einzige Gemischtwarenhandlung in Tryphena besucht, sieht sie draußen auf einmal Tschau. Sie hat die Bilder und Videos aus Mexiko noch genau vor Augen und erkennt ihn sofort. Angst kommt in ihr hoch. Sie ist erleichtert, als sie sieht, wie er zum Moller Landeplatz geht und dort in einem großem Moller wegfliegt. Was wollte er hier nur?
Am Abend sitzt sie in einer dunklen Ecke an einem Tisch der Bar. Victor kommt, setzt sich auf einen Barhocker und bestellt sein geliebtes Cola. Kurz danach setzt sich Stephan dazu, Stephan ihr Stiefbruder! Er kommt immer wieder im Hotel vorbei, um Victor zu besuchen - er wird doch nicht ein Zeuge Jehovas sein? – und sie hat noch nie mit ihm gesprochen. Fast fürchtet sie auch, dass er sie wieder erkennt, denn sie haben sich als Kinder einmal durch Zufall auf der Hesshütte am Hochtor getroffen[3]. Sie hat damals auch das erste Mal Marcus gesehen, der aber ihr und Toni, den sie damals für ihren Vater hielt, auswich. Heute versteht sie das. Toni als Freund Andreas kannte Marcus aus früheren Jahren gut, Marcus durfte aber nicht entdeckt werden, weil er offiziell ja bei einem Flugunglück ums Leben gekommen war!
Während sie im Halbdunkel sitzt und über die Vergangenheit nachdenkt schnappt sie plötzlich ein paar Worte zwischen Stephan und Victor auf … baldiger Angriff … Marcus … Tschau … das Warten zu Ende …
Beunruhigt huscht sie in das Zimmer ihrer Mutter.
»Ich habe heute Tschau gesehen. Und gerade habe ich Gesprächsfetzen von Victor und Stephan aufgeschnappt. Sie scheinen einen Angriff auf Marcus zu erwarten.«
»Ja, ich fürchte es liegt was in der Luft«, sagt Andrea. ‚Ist es der Kampf auf den auch Bill Macy wartet? Ist er ein Freund von Tschau?’, überlegt sie. Sie will es nicht glauben.
Zurück im eigenen Zimmer kann Alina lange nicht einschlafen. Wenn Marcus angegriffen wird, wird sie bei der Verteidigung helfen. Sie wird Victor bitten, sie rechtzeitig dort hin zu bringen.